Aus
einem Totenhaus (1928), Oper in drei Akten von Leoš Janáček
(1854-1928), Premiere und Neuinszenierung: 01.04.2018 in der Oper Frankfurt
Mitte: Gordon Bintner (Alexandr Petrovic Gorjančikov) und Ensemble (Fotos: Barbara Aumüller)
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Schwarzes Operndrama über die Vergessenen
Schon die Ouvertüre lässt erahnen, was das Publikum in den folgenden 95 Minuten zu erwarten hat. Es ist ein Gemisch aus höchsten Geigentönen und tiefsten Blechbläser-Sequenzen, unterbrochen durch drohendes Rauschen und marschartige Rhythmen der Perkussionisten. Sind es Tierstimmen, die dazwischen zu vernehmen sind, sind es die Töne einer Schattenwelt, die den Eingang zur Hölle ankündigen? Der Vorhang öffnet sich. Ein schlichter Raum wird sichtbar, mit zwei Schreibtischen und Laptops, vor denen Alexandr Petrovic Gorjančikov und eine junge, rot bekleidete Frau sitzen und intensiv arbeiten. Offensichtlich zwei Journalisten, die das politische Geschehen kommentieren. Der Schrecken nimmt seinen Anfang: Die Staatsmacht schlägt zu. Beide werden festgenommen und mit Gewalt in ein Straflager verschleppt.
Aus
einem Totenhaus basiert auf den Aufzeichnungen aus dem Totenhaus (1862) von Fjodor M. Dostojewski (1821-1881),
der selbst vier Jahre seines Lebens in die Strafkolonie von Omsk verbannt wurde
und dort seine Erfahrungen und Beobachtungen niederschrieb, die Janáček für
seine Oper nutzte. Der Weg durch die Schrecken des Lagers wurde unter der Hand
Janáčeks, wie es David Hermann, der
die Neuinszenierung dieses letztmals 1994 unter der Regie von Peter Mussbach
und Sylvain Cambreling aufgeführten Dramas übernommen hat, treffend formulierte,
zu einem „Requiem der Vergessenen“. Eigentlich eine Dokumentation des endlosen
Leidens, konzentrierte Janáček seine Oper auf drei große Erzählungen, die er
auf drei Akte verteilte. Gorjančikov, überzeugend vom Bassbariton Gordon Bintner verkörpert, übernimmt
quasi die Rolle Dostojewskis. Zunächst nimmt man ihm das, was er als schreibender
Intellektueller am meisten braucht: seine Hände, die man ihm verstümmelt. Als politischer Gefangener ist er ein Außenseiter unter den Mördern, wird aber
unmittelbar in das Schicksal der Protagonisten hineingezogen. An ihm arbeiten
sich alle ab und je tiefer ihre Lebensbeichten gehen, desto mehr verschwimmen Ethik und Moral sowie die Unterscheidung von Gut und Böse wie von Richtig
und Falsch.
Es sind (1. Akt) Luka Kuzmič, alias Filka Morozov,
der wegen der Ermordung eines Majors einsitzt - von Vincent Wolkensteiner mit hellem, durchdringendem Tenor, prahlerisch
und selbstherrlich gespielt; Skuratov (2. Akt), wegen einer unglücklichen Liebe
zu Luise zum Mörder geworden - vom Tenor AJ
Glueckert mit lamentierenden mitunter lyrischem Ton kommentiert, und
schließlich Šiškov (3. Akt), der wegen einer unglücklichen Ehe zu Akulka (sie
ist von Filka Morozov bzw. Luka Kuzmič entehrt worden, liebt ihn aber dennoch)
zum Schläger und Mörder gewandelt, zu den Verachtetsten unter den Gefangenen
gehört. In einem Marathon-Solo, das fast den gesamten dritten Akt umfasst,
brillierte Johannes Martin Kränzle
mit einem extrem wandelbaren Bariton. Sein sängerischer Alptraum endet in der
Erkenntnis, dass sein Gegenspieler unter den Häftlingen weilt. Seine Schreie „Hundesohn,
Hundesohn!“ enden im Nichts, denn ein Aufseher (der Bass Barnaby Rea) erscheint und verkündet die Freilassung Gorjančikovs.
Bemerkenswert und in ihrer Hosenrolle als Aljeja
überragend: Karen Vuong. Sie ist neben Gorjančikov die einzige
wirkliche Identitätsfigur. Sie/Er lernt Lesen und Schreiben beim Journalisten,
sie/er zeigt menschliche Züge, ihre/seine Naivität steckt an. Warum Aljeja im
Gefangenlager einsitzt bleibt unbekannt. ER/Sie aber verkörpert - Hoffnung. Vermutlich
hat Janáček diese Figur seiner späten Liebe mit der 37 Jahre jüngeren Kamila
Stösslová nachempfunden. Ähnlich wie die rot gekleidete junge Frau (Gal Fefferman), die als Allegorie des freien Wortes das
bedrückende Geschehen wie ein roter Faden begleitet, ist sie die Verkörperung der Freiheit schlechthin mit zugegebenermaßen erotischer Ausstrahlung. Wie das Rot der jungen
Frau – Rot als die Farbe des Sozialismus, der Demokratie, der Revolution – ist
Aljeja diejenige Figur, die die Handlungsstränge zusammenhält. Sie ist Orientierungspunkt
wie Identitätsgestalt zugleich.
v.l.n.r.: Karen Vuong (Aljeja),
Gordon Bintner (Gorjančikov), Johannes Martin Kränzle
(Šiškov), Samuel Levine (Der
ganz
alte Sträfling)
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Menschliches, Allzumenschliches in Töne gefasst
Im eigentlichen Sinne gibt es keine Arien, keine Melodien,
keinen Gesang. Alles ist menschliche Rede in Töne gefasst. Zwar bekommen die Solo-Sänger (neben den genannten noch weitere dreizehn) wie der Chor (Leitung: Tilman
Michael) eine eigene Intonation und Sprachmelodik. Immer aber sind Wort und
Ton, Melodie und Wort eine Einheit. „Die Musik soll die künstlerische
Nachbildung der menschlichen Rede in all ihren feinsten Biegungen sein“,
lautete das Credo Janáčeks. Und das gelingt ihm in Aus einem Totenhaus mit ausgereifter Perfektion.
Ebenso die instrumentale Musik aus dem Orchestergraben.
Sie ist auf drei Ebenen festzulegen: mal melodisch, ja tänzerisch mit
slawischem Melos und volkstümlichem Rhythmus, dann naturbezogen,
Vogelgezwitscher, Bellen, Waldesrauschen, und schließlich lautmalend, düster,
drohend, gewalttätig durch viel Perkussion (allein sechs Schlagzeuger waren am
Werk) und extreme Kontraste zwischen Höhen und Tiefen und klanglicher Färbung.
Der Einsatz von Pauke, Tuba sowie Harfe und Celesta ist typisch für sein
schillerndes Farbenspiel. Der späte Janáček schrieb nicht mehr auf herkömmlichem
Notenpapier, sondern zog seine Linien auf querformatigen Seiten selbst, um, wie
er meinte, überflüssige Instrumentierung zu vermeiden. So wirkt sein
Orchesterklang, dem zumeist die füllende Mittellage fehlt, extrem reduziert,
fast schon minimalistisch. Dabei verliert seine tonale Grundsubstanz nie an
Wirkung. Im Gegenteil: Lyrik, Tanz, Natur und Geräusch werden luzide erhellt,
auf allen Ebenen erkenn- und nachfühlbar
Tito
Ceccherini, der musikalische Leiter der Premiere, zeigte in
einzigartiger Manier seine Durchdringung dieser doch weit außerhalb der
traditionellen Hörgewohnheit angesiedelten Musik. Zusammen mit David Hermanns
Neuinszenierung dieses schwer verdaulichen Stoffes, einem sehr stimmigen Bühnenbild
von Johannes Schütz, einer
zeitgemäßen und doch zeitlosen Kostümausstattung durch die Debütantin Michaela Barth und einer
Lichtdramaturgie der Sonderklasse von dem allseits bewährten Joachim Klein, könnte diese kritisch revidierte
Version (erst im Jahre 2017 vom Janáček-Spezialisten John Tyrrell
veröffentlicht und von der Oper Frankfurt übernommen) zu einem ähnlichen Erfolg
führen wie die Inszenierung von 1994.
Allein der unvollendete Schluss lohnt dieses
schwarze Operndrama: Fast unvermittelt wird Gorjančikov nach 10-jähriger Haft entlassen. Die Lebensbeichte Šiškovs und die Tötungsabsicht seines Widersachers Morozov
stecken noch in den Gliedern. Ein verstörender Marsch begleitet seinen Gang
durch viele Mauern (hier transparente Stellwände). Der Chor im Hintergrund
singt: „Der Adler ist der Zar!“, eine Hymne an die Freiheit in der Unfreiheit. Aljeja
ist verzweifelt, denn sie verliert den Menschen, der ihr Hoffnung und Lebenssinn vermittelte. Gorjančikov erreicht sein Arbeitszimmer, der Kreis schließt sich,
und findet dort die junge Frau, die „Rote Frau“, an das Tischbein gefesselt. Er
umarmt und küsst sie. Aber um welchen Preis? Kann das Motto Janáčeks, das er
der Partitur beifügte: „In jeder Kreatur ein Funke Gottes“, unter den heutigen Bedingungen der weltweit
verstreuten Straflager und illegalen Gefängnisse noch Bestand haben? Welche
Namen haben die Vergessenen? Wo sind sie zu finden?
Gal Fefferman (Eine junge Frau), Brendon Cedel (Sträfling 1), Gordon Bintner (Gorjančikov) und Chorherren |
Eine Neuinszenierung der Oper Frankfurt, die wieder
einmal zur Diskussion und zum Nachdenken herausfordert. Langanhaltender Beifall
für alle Beteiligten mit Sonderapplaus für die wirklich herausragenden Johannes
Marius Kränzle, Karen Vuong und die Chorherren der Frankfurter Oper.
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