TRANSIT, cresc … Biennale für moderne Musik in
Frankfurt, Wiesbaden und Hanau, 22. bis 26. November 2017
Eine kritische Nachbetrachtung
Vom 22. bis zum 26.11.2017 fand die mittlerweile vierte cresc – Biennale im Rhein-Main Gebiet, um genau zu sein in den Städten Frankfurt, Wiesbaden und Hanau, statt. Insgesamt 11 Veranstaltungen in vier Tagen, davon sieben Konzerte, eine Filmvorführung, eine Tanzmusikperformance, ein Schüler-Doppelprojekt: Bridges – Musik verbindet, eine Oper; dazu zwei Podiumsgespräche zu Anfang und am Schluss des Festivals, dreimal das „Pinkes Sofa“ mit Post-Konzertanalysen sowie drei Impulsvorträge. Ein äußerst umfangreiches Angebot also, das unter dem diesjährigen Motto: TRANSIT stand.
Als
kritischer Beobachter unmöglich, alles zu besuchen, aber mit sieben
Veranstaltungen plus einem Roundtable, zwei „Pinkes Sofa“ nach der
Musiktanzperformance Hyperion und dem
Konzert Verbinden und Abwenden, zwei Impulsvorträgen von Peter Kujath und
Christina Weiss (Take Death) sowie
dem Besuch der Oper Schönerland von
Søren Nils Eichberg und dem Konzeptprojekt von Ilan Volkov Tektonics
Mosaic I und II, kann man sich durchaus zutrauen, eine kritische
Nachbetrachtung anzustellen.
Zuallererst
ein großes Kompliment an die Veranstalter und Mitwirkenden, die sich
überwiegend aus den Mitgliedern des Ensemble Modern bzw. des Ensemble Modern
Orchestra und denen des hr-Sinfonieorchesters zusammensetzten. Sie gestalteten alle
Konzerte, mit Ausnahme des Jazz-Konzerts mit Alexander Schlippenbach und der
hr-Bigband. Dazu kommen noch die vielen Solisten, das SWR-Vokalensemble, die
Schüler der Bettinaschule Frankfurt und last but not least die Komponisten,
ohne die das Festival gar nicht möglich gewesen wäre.
Gesondert zu
nennen noch die Tänzer von Mamaza,
die gemeinsam mit fünf Instrumentalisten des Ensemble Modern die
Tanzmusikperformance Hyperion – Higher
States, Part 2 für cresc 2017 produzierten und zu Beginn der
Festtage darboten sowie die Filmproduzentin Maria Stodtmeier, die für den
Prolog des Festivals einen Film über Isang Yun präsentierte: In Between North and South Korea (2013),
der mit großer Einfühlsamkeit, die präformierte Sicht eines Westlers möglichst ausblendend,
ein eindrucksvolles Bild des geteilten Korea im widersprüchlichen Kontext zu
Isang Yun zeichnete.
Es war ein Auftakt nach Maß, kritisch, innovativ, informativ, nachdenklich, anregend und diskursiv.
Nahezu alle Kompositionen der folgenden Tage bewegten sich allerdings in der
Liminalität, in einem psychischen Schwellenzustand von weder hier noch dort,
oder mal hier, mal da, aber nirgends so richtig. So bezeichnete sich die junge türkische
Komponistin Zeynep Gedizlioğlu (*1977) im Roundtable am 24.11. im Foyer des Hess.
Rundfunks (Moderation: Stefan Fricke), als Macherin und Sucherin: „Meine Musik
wird, was sie wird. Ich weiß nie, wo sie hinführt.“ Ähnlich argumentierten die
anderen anwesenden Komponisten wie Ole Hübner (*1993), Malte Giesen (*1988)
oder auch Martin Grütter (*1983). Letztgenannter verfolgte die Idee der „grenzenlosen
Vergrößerung aller Möglichkeiten“ (am Beispiel des Hyperklaviers), Hübner
schwärmte von „Soundscapes“, vom „sozialen Rahmen der Geräusche“, Giesen
behauptete gar, dass organische Klangerzeugung, also Klänge von herkömmlichen
Instrumenten, in Zukunft keine Rolle mehr spiele. Die drei männlichen
Komponisten bezeugten ihre Lust darauf, „in die Vollen zu greifen“, sich keinerlei Beschränkungen
aufzuerlegen. Nur Gedizlioğlu räumte ein, dass grenzenlose Erweiterung auch ein verhängnisvolles
Tabu mit sich führe, nämlich das der Einschränkung, Konzentration oder sinnvollen
Auswahl des Materials.
Nachdenkliche Fragen: Wer denkt noch daran, dass
Komposition eigentlich aus vernunftmäßiger Entscheidung besteht, aus
durchdachter Materialauswahl, daran, dass die Subjektivität einer Komposition
durch die in der Musik vergegenständlichten vernünftigen Strukturen bestimmt
wird? Wer daran, dass Kunstwerke oder Kompositionen immer auch Ausdruck einer
gesellschaftlichen Verfasstheit und die Musik politischer Spiegel der
Gesellschaft ist? Wobei affirmativ oder kritisch immer vom subjektiven Umgang mit
dem Material abhängt.
Zum Motto des Festivals: TRANSIT
Ein Begriff, der eigentlich aus der Wirtschaft
stammt, oft auch als Transfer gebraucht wird, bekommt plötzlich die Qualität
einer politischen Idee, und da liegt meines Erachtens die Crux begraben.
Musikalische Titel wie Verbinden und
Abwenden (Gedizlioğlu); Allheilmittel
(Grütter), Shimmer II (Matej
Bonin) Surrogat/Extension (Giesen)
oder auch Spinning Lines (Martin
Matalon) verweisen auf das Transitäre, gleichzeitig aber auch auf das
Schwebende, Flüchtige, Ungreifbare, Durchsichtige, Gasgefüllte. Nichts bleibt
mehr, alles wirkt irgendwie sinnentleert. Der Komponist und
Musikwissenschaftler Alper Maral schreibt in seinen 'vergeblichen
Reisegeschichten' (Essay I im ausführlichen cresc-Programm)
zu Recht vom ungerechten, einseitigen Transit, von den Besserwissern der Ersten
Welt, die, wenn sie von Interkulturalität oder von Austausch redeten westliche
Leitkultur, westliche Interessen meinten nach der Rudyard Kiplingschen Maxime
„East is East, West is West!“ Das gelte auch für die Musik des Orients: Sie sei
explizit für den Export geschaffen, „bon pour l´occident“, aber die wirklich
experimentell Komponierenden blieben außen vor und würden allenfalls als „Wesen im Kultur-Zoo
bestaunt“. Als gebürtiger Istanbuler und in Izmir lebender Türke müsste er es
eigentlich wissen.
Das wirklich Bleibende während der cresc Tage war denn auch das Matinee
Konzert im Sendesaal des Hessischen Rundfunks Frankfurt am 26.11. mit Werken
von Isang Yun und Luigi Nono. Mit Engel
in Flammen und Réak (Isang Yun)
und Il Canto Sospeso (Luigi Nono)
kamen zwei Komponisten zu Wort, die ihr Leben und Arbeiten der Idee einer
besseren, gerechteren Welt gewidmet hatten: Yun auf ein vereintes,
demokratisches Korea und Nono auf einen demokratischen Sozialismus hinzielend. Beide
hatten mit der Politik nichts zu tun, beide wurden dennoch tief in die Politik
der Nachkriegszeit hineingezogen, schöpften daraus ihre musikalische Kraft und
gossen ihre kritische Grundhaltung in buchstäblich ewige Töne. Beide schufen
drei Meisterwerke der Liebe zu den Menschen, der Anklage der Ungerechtigkeiten
und der Hoffnung auf die Vernunft und die weltweite Humanität. Die Wahl des
musikalischen Materials ist bei beiden unterschiedlich: Nono gebrauchte die
serielle Methode, ließ Brieftexte todgeweihter Antifaschisten verlesen, und
beabsichtigte, durch radikale Klänge das Bewusstsein der Hörer zu schärfen und
sie zum Handeln zu motivieren. Il Canto
Sospeso war sozusagen sein 'Markenzeichen'. Yun dagegen war ebenso
fasziniert von der westlichen Avantgarde der 1950er Jahre mit Boulez, Cage,
Nono, Stockhausen oder Maderna, wie auch von der Folklore seiner Heimat. Beide
Strömungen vereinte er in großer Könnerschaft miteinander und schuf so eine
ganz eigene, unverwechselbare Musik mit großer Tiefenwirkung sowohl für
westliche als auch für östliche Ohren.
Als konsequenter Verfechter der Einheit Koreas ist
er in Nordkorea bereits seit den 1960er Jahren einer der bekanntesten und
beliebtesten Komponisten. Seit 1982 gibt es ein internationales Isang Yun
Festival in Pjöngjang, während seine Musik in Südkorea bis in die frühen 2000er
nicht gespielt werden durfte. Als angeblicher Spion ist er dort noch heute umstritten, wenngleich seine Musik auch hier mittlerweile Konzertaufführungen
erfährt.
TRANSIT erhält hier zwar, wenn man so will, eine
politische Dimension, wobei der Begriff in keiner Weise Interkulturalität,
Internationalismus, Humanität, Völkerverständigung sowie die unbedingte Liebe
zur Menschheit, wie bei Yun und Nono der Fall, abdecken kann. So waren auch die
sogenannten Impulsvorträge wenig hilfreich. Der politische/ästhetische Versuch
einer Aufwertung dieses Begriffs erschien mitunter völlig verfehlt und nicht
nur aus Sicht eines „Orientalen“ reichlich überzogen. Die Geschichten des
ehemaligen Ostasien Korrespondenten, Peter Kujath, über Japan, Nord- und
Südkorea waren zwar kenntnisreich und anekdotisch, aber politisch überfrachtet
und ästhetisch ohne Wirkung. Der Beitrag der ehemaligen Kulturstaatsministerin,
Christina Weiss, mit Hinweisen auf die Flüchtlingsproblematik und den gut gemeinten Ratschlägen, man solle sich 'selbst preisgeben' und nach dem 'Möglichkeitssinn'
suchen, doch arg Katheder professoral und kunstästhetisch höchst artifiziell.
Das Take Death von Bernhard Gander holte
dann doch wieder durch Metal und Hardrock Rhythmen die musikalische Realität
zurück, die eine völlig andere war. Fazit: Impulsvorträge während der Konzerte
sollte man in Zukunft canceln. Sie gehören allenfalls in Seminare oder Symposien.
Spannend wiederum die Mischung aus Oper,
Klanginstallation und experimentellen Kompositionen im Rahmen von Tectonics Mosaic I und II in Wiesbaden
am vorletzten Tag des Festivals. Die Oper Schönerland
von Søren Nils Eichberg, ein Auftragswerk des Hessischen Staatstheaters
Wiesbaden, das bereits am 16. September seine Uraufführung im selben Haus (mein
Artikel vom 18.09.) erfuhr, gehörte denn auch zum Nachhaltigsten, um diesen mittlerweile
verbrauchten, ökologischen Begriff zu bemühen, was die zeitgenössischen Kompositionen
zu bieten hatten. Hier geht es tatsächlich um die Flüchtlingsproblematik, um
das Fremdsein, die Migration: um Heimat haben und Heimat verlieren. Eine Oper,
die es schafft, aus unterschiedlichen Perspektiven, selbst aus der des Theaters,
in großartiger Musik, Gesang und Handlung, zum Nachdenken aufzufordern, die
Kehrseite von Wünschen, Glück und Idealen aufzudecken, und mit „Kein schöner
Land in dieser Zeit…“ – ein Lied aus dem Biedermeier der
Unterdrückung, des Aufbruchs und Widerstands – das Problem des Wanderns,
Flüchtens, des Heimat Suchens und Verlierens zu einem Kairos, einem über die
Aktualität hinaus Bleibenden werden zu lassen.
Tectonics Mosaic II, Ensemble Modern (Foto: Tim Wegner)
Kontrastierend dazu das Tectonics Mosaic I und II, das sowohl im Nassauischen Kunstverein,
als auch im Foyer des Staatstheaters Wiesbaden seinen Platz fand. Unter der
Kuration von Ilan Volkov, der meisterhaft das Eröffnungskonzert in der Alten
Oper sowie das Take-Death-Konzert im Sendesaal des Hessischen Rundfunks leitete,
wurden extra für das Festival mehrere Solostücke, ein Trio, zwei Stücke für
Ensembles sowie Klanginstallationen zusammengestellt. Die Idee dazu kam Volkov
in seiner Zeit als Chefdirigent des Iceland Symphony Orchestra (2011-2014) im
Jahre 2012 (Der Name geht auf die eurasische und amerikanische Kontinentalplatten zurück, die in der Nähe von Reykjavik aufeinandertreffen). Als Liebhaber von Experimentalmusik
und außergewöhnlichen musikalischen Projekten, schaffte er ein Tectonics-Festival,
auf dem ausschließlich Musik gespielt wurde, die ansonsten „unter den Tisch
fiel“. Entsprechend fiel das Projekt in Wiesbaden aus. Mit Klanginstallationen (und
Solostücken) von den weitgehend unbekannten Außenseitern: Alvin Lucier, Pierre
Berthet & Rie Nakajima oder Hauke Harder und mit Ensemble Stücken von
Mariam Rezaei und Christopher Fox, übrigens perfekt vom Ensemble Modern in
Szene gesetzt, zeigte cresc 2017
seine Vielfältigkeit und musikalische Bandbreite. Ein TRANSIT, ein simples
Überschreiten, eine Durchreise verschiedener Klang- und Kunstfelder, ohne
erkennbare Grenze, manchmal irritierend, dann wieder humorvoll, nie ernst, aber
immer auf der Suche, auf Entdeckungsreise, auf Beobachtungsstation. Interessant
die Feststellung des heute 86-jährigen Alvin Lucier: „Ich scheine in mancher
Hinsicht Phänomenologe zu sein: ich entdecke lieber neue Klangsituationen, als
dass ich neue Methoden erfinde, Vorhandenes miteinander zu kombinieren.“
Das wiederum passte zum technisch-funktionalen
TRANSIT-Begriff, wenngleich die Behauptung im Grußwort des Programms, er sei wesenhaft mit der Musik
verknüpft, unzutreffend ist. Dass der Rhein-Main Kulturfonds, diverse Kulturstiftungen
und Institutionen als Geldgeber und Förderer dieses Unternehmens das
Schwerpunktthema TRANSIT auf ihre Fahnen geschrieben haben, ist aus
wirtschaftlicher Sicht nur allzu verständlich, weil er geschäftliche und Marketing Vorgänge
widerspiegelt, woran auch das immer wiederholte Argument des Transitbereichs der Reisenden auf Flughäfen nichts ändert, da er ausschließlich den Import und Exportverkehr von
Menschen oder Sachen regelt.
Dieses Motto aber auf politische,
philosophische, ideologische oder gar musikästhetische Transformationen
auszuweiten, erscheint doch gänzlich übertrieben, ja gefährlich, denn er wird im Kontext der Kunst unweigerlich zum
Ausdruck der Flüchtigkeit, Durchlässigkeit, letztlich der Wurzel- und
Orientierungslosigkeit.
Nachdenkliche Gedanken: An dieser Stelle sei noch einmal
an die junge Komponistin Zeynep Gedizlioğlu erinnert, die durchaus die Gefahr der
Kehrseite der Grenzen- und Ziellosigkeit, der Ausreizung aller Möglichkeiten erkannte,
nämlich die der Tabuerklärung der Grenzen und (musikalisch) vernünftigen
Entscheidungen. Der 'Kanon der Verbote', wie ihn einstmals Theodor W. Adorno
nannte, ist immer noch Ausdruck der subjektiven Befindlichkeit des Künstlers,
seine ganz besondere Art, unbewusst oder bewusst, mit dem musikalischen
Material umzugehen und das zu komponierende Material auszuwählen. Immer aber ist
das vollendete Werk Ausdruck seines gesellschaftlichen Zustands, oder, so
Adorno „Sediment kollektiver Reaktionsweisen“. Isang Yun und Luigi Nono waren
sich beide des 'Kanons der Verbote' bewusst, ihre Werke zeugen von ihrer tiefen
Einsicht und sind Ausdruck ihrer humanistischen Ideale. Die Kompositionen der Zeitgenossen
sind zwar ebenfalls „Sediment kollektiver Reaktionsweisen“, ihnen fehlen
allerdings augenscheinlich jene Ideale, jene kritische Haltung zum
Jetztzustand, jener Wille zum Widerstand und zur Nonkonformität.
Insofern ist das Motto TRANSIT symptomatisch für Sinnleere und im schlechten Sinne Affirmation. Auch hier halte ich
es mit Alper Maral, der seinen bemerkenswerten Essay mit dem Lateinischen Spruch
beendet: „Sic transit gloria mundi“, auf Deutsch: „So vergeht der Ruhm der Zeit“.
Vielleicht ist es der Zeitgeist des Jahres 2017, zumindest der auf dem cresc Festival, aber durchaus keiner, der
eine erstrebenswerte Zukunft verheißt. Ganz im Stile der politischen
Pragmatiker und bürokratischen Verwalter, die zurzeit europaweit Hochkonjunktur
haben. Dem sollte sich die Kunst und Musik weiß Gott nicht anpassen, obwohl es
den Anschein dazu hat.
Tectonics Mosaic I, Alvin Lucier, Installation: Directions of Sound
from the Bridge (Foto: Tim Wegner)
from the Bridge (Foto: Tim Wegner)
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