Mittwoch, 24. Januar 2018

Enrico (1991), Dramatische Komödie in neun Szenen von Manfred Trojahn (*1953),  Frankfurter Erstaufführung im Bockenheimer Depot, 23.01.2018 (Premiere am 21.01.2018)

vorne: Juanita Lascarro (Marchese Matilda Spina), Sebastian Geyer (Barone Tito Belcredi), Holger Falk (Enrico),
hinten v.l.n.r.: Peter Marsh (Landolfo), Samuel Levine (Bertoldo), Björn Bürger (Arialdo), Frederic Jost (Ordulfo)
Fotos: Barbara Aumüller

Der Wahnsinn als Realität, die Realität als Posse – der absolute Irrsinn

Es ist ein Spiel mit Masken, ohne Hoffnung, das wirkliche Gesicht der Protagonisten überhaupt erkennen zu können. Selbst die Bühne, „der Thronsaal zu Goslar auf dem Herzberg zu Worms“,  eine riesige Bibliothek mit schmaler Wendeltreppe, Kaiserlüster und mickrigem Thron in der Mitte (Bühnenbild: Britta Tönne), auf der „das 1. und 2. Jahrhundert“ gemimt werden,  ist ein Ort von Nirgendwo im Nirgendwo, in einer Zeit ohne wirklichen Zeitbezug (Kostüme: Verena Polkowski). Denn eigentlich geht es doch um das 11. Jahrhundert, der Zeit Kaiser Heinrichs IV und Papst Gregors VII: den Canossagang 1077, Heinrichs Frau Berta von Susa, ihre Mutter Adelheid, Markgräfin Mathilde von Toskana, mächtige Anhängerin des Papstes, und nicht zuletzt um Abt Hugo von Cluny, dessen Wort in Gregors Ohr Gesetz war. Eine bekanntlich unheilige Allianz mit tragischen Zügen, die, nach dem Drama Enrico IV (1922) von Luigi Pirandello (1867-1936), zur Vorlage für Manfred Trojahns (* 1953) Enrico (1991) diente, und nach dem Libretto von Claus H. Henneberg (1936-1998) zu einer verrückten, wahnsinnigen, bisweilen bizarren und verbogenen schwarzen Humoreske umgearbeitet und in der Regie von Tobias Heyder in abgründiges Vexierspiel der Gefühle verwandelt wurde. Vergessen wir also die Geschichte.


Worum aber geht es eigentlich? Es geht um einen jungen Mann, der, verkleidet als Heinrich IV, vom Pferd stürzt und das Bewusstsein verliert. Nach dem Erwachen tritt er weiterhin als Heinrich IV auf: bewusst oder unbewusst, die Oper gibt kein Erklärung. Seine ebenso kostümierte 'Gefolgschaft' macht sich einen Joke daraus, ihn auch weiterhin als Kaiser zu behandeln. Offen bleibt, ob seine Amnesie echt oder gespielt ist, woraus sich eine grotesk komische Handlung zwischen ihm und seinen schicksalhaft mit ihm verwobenen Begleitern entwickelt.

Da ist Marchesa Matilda Spina alias Mathilde von Toskana, von der Sopranistin Juanita Lascarro herrlich inszeniert als hysterische, selbstbezogene Primadonna, die ihre heimliche Liebe zu Enrico entdeckt. Dann Barone Tito Belcredi alias ein Cluniazenser Mönch, ein rational denkender Rivale Enricos und gnadenlos-herzloser Enttarner von Enricos Wahnsinnskomödie, von Sebastian Geyer mit würdevollem Bariton sowie aggressiv gesprochenen Einwürfen auf die Bühne gebracht.
Frida, die Tochter von Matilda, die Inkarnation der Jugend und ungewollt in das perfide Spiel ihrer Mutter und der Erwachsenen involviert, wurde von der Debütantin Angela Vallone mit frischem, klarem Sopran, leichtgängigen Koloraturen und schauspielerischem Esprit auf die Bühne gezaubert.
Carlo di Nolli, ihr Verlobter, vom Tenor Theo Lebow zuweilen in gewollt schriller Höhe gesungen, zeigte zugleich aber auch innige Expressivität in seiner Arie über seine verstorbene Mutter. Der Dottore alias Bischof von Cluny, vom Bariton Dietrich Volle mit souveräner, menschenverachtender Haltung gespielt und gesungen, erinnerte fatal an den Doktor in Alban Bergs Wozzeck. In der zynischen Absicht, Enrico von seiner 'Verdammnis zu erlösen', befriedigte er allenfalls seine narzisstischen wissenschaftlichen Neigungen.

Hervorzuheben die Dienerschaft mit Landolfo, Tenor Peter Marsh, Bertoldo, Tenor Samuel Levine, Arialdo, Bariton Björn Bürger, Ordulfo, Bass Frederic Jost sowie Giovanni, Bass Doğus Güney, der treueste der Diener Enrico. Sie verkörperten die devote, chamäleonhafte Haltung der Mitläufer. Ihr Gesang erinnerte vor allem im Schlussteil an die Comedian Harmonists der 1920er Jahre, ihre Choralgesänge an eine buffoneske Persiflage auf die Wirklichkeit. Hervorragend ihr a cappella Song „Oh wie wundervoll“, just als Enrico kundgibt, „Man könnte meinen, dass 800 Jahre vergangen sind. Ich kann nicht Heinrich der IV sein, der den Mond betrachtet.“ Ein Quintett, dass der Oper eine kräftige Würze verpasste.

Wohin führt die Freiheit?

Holger Falk (Enrico)

Jetzt zu Enrico, eine Paraderolle auf den Leib des Baritons Holger Falk geschrieben. Er, Dreh- und Angelpunkt des musikalisch-komödiantischen Rausches, schwankt in extremer Exaltiert- und Introvertiertheit zwischen Explosion und Implosion. Ein Irrer, der den Wahnsinn zur Realität macht und die Realität zur Posse. Das allerdings mit allen Facetten der stimmlichen Klangfarben, vom Falsett bis zum Geschrei, vom romantischen Belcanto bis zum wütenden Ausbruch. Er fühlt sich geheilt, aber hat es vorgezogen verrückt zu bleiben. Warum eigentlich?

Ganz einfach. Verrückt zu sein, dem Wahnsinn verfallen, das macht seine Identität aus: eine Identität frei von jeglicher Verantwortung. Sein Extremismus hat sich verselbständigt. Ursprünglich vielleicht aus verschmähter Liebe in die Rolle des Irren geschlüpft, wobei der Sturz vom Pferd günstige Gelegenheit bot, ist diese Maske jetzt zu seinem zweiten Gesicht geworden. Allein das erklärt seinen spontanen Mord an Barone Tito Belcredi, der sein Spiel durchschaut – „Du bist nicht wahnsinnig“ –, und damit zur existentiellen Gefahr für den sich alle Freiheiten nehmenden Enrico geworden ist. 
Der Versuch Belcredis, den gewaltsamen Übergriff Enricos auf die jugendliche Frida zu unterbinden, wird zur eigentlichen Peripetie des schwarzen Humors mit Todesfolge. Enricos Identität ist gerettet, seine Freiheit ist die des Wahnsinns, seine Maske ist zu seinem Gesicht geworden, sein Extremismus ist der der Anpassung an sein selbstgemodeltes Schicksal: Seine letzten Worte: „Jetzt werden wir gezwungen sein, zusammenzubleiben“, ist sozusagen die Quintessenz des Ganzen.

Die Musik von Trojahn steckt voller Masken. Jede Person hat ihr eigenes Instrument im 25-köpfigen Orchester. Text und Handlung werden musikalisch unterstützt, verstärkt, oftmals emotional unterfüttert. Der Komponist bedient sich dabei diverser Zitate, man hört Splitter aus Rossinis Barbier von Sevilla, aus Ravels Don Quichotte oder auch Strauss´ Rosenkavalier. Auch die Ensembleszenen – Quintette, Terzette oder Quartette –, witzig und humorvoll, wirken wie schon einmal gehört, wie auch die gesamte Dramatische Komödie im Stile der Buffooper verfasst ist und an weiten Teilen an die Commedia dell´arte erinnert. Zwei große Formteile und neun Szenen wechseln, teils in haarsträubender Schnelligkeit teils in vierfach überlagerten Texten, mit Arien und Sprechgesängen, mit Kontrapunktik und Neoklassik, mit Sprache und Spiel. 
Der musikalische Leiter, Roland Böer, führte in einem gekonnten Parforceritt durch Höhen und Tiefen der eineinhalbstündigen Kurzweil.

Juanita Lascarro (Matilda), Holger Falk (Enrico)

Allein die Mordszene am Schluss fiel aus dem Rahmen. Ihr buchstäblicher Verismo schlug sich auch in der Musik nieder. So wurde die 'eruptive Entladung' Enricos von lauten, atonal schrägen Klängen begleitet, die langsam flirrend in den Geigen und einem trauernd klagenden Pochen im Violoncello ausklangen. Nachdenklich, sprachlos. Es dauerte denn auch, bis das Publikum des vollbesetzten Depots wieder zurück ins Jetzt fand, unterstützt vom fast bücherfreien Regal mit Blick auf die Frankfurt Skyline.

Enrico, die Erstlingsoper von Manfred Trojahn, uraufgeführt im April 1991 in Schwetzingen, ist ein Produkt der Generation von Komponisten, die der Avantgarde den Rücken zukehrten und ihr Heil in der Subjektivität, in der Re-Tonalität und, mit dem Schlagwort „Neue Einfachheit“ versehen, in der Rückschau auf traditionell Bewährtes suchten. Im unausgesprochenen Frieden mit dem Status der Gesellschaft wurde bei ihnen das Individuum zum Treibstoff allen Geschehens. Die Figur des Enrico ist insofern eine typische Gestalt unserer Zeit. Sein Extremismus ist Ausbund einer Freiheit, die in ihrer Grenzenlosigkeit zur eigenen Unfreiheit und damit auch zu der der anderen führt. Selbst die Möglichkeiten der Liebe werden zu ihrer Unmöglichkeit, denn wer alles liebt, der liebt nicht mehr. Enrico wird zum Schluss für seinen Irrsinn, der ihm alle Möglichkeiten bot, bestraft. Der Mord macht aus seiner Maske sein endgültiges Gesicht mit allen denkbaren Folgen..


Tolle Oper mit schwarzem Humor, teilweise genial-text- und affektbezogener Musik sowie gnadenlos guten Akteuren auf der ganzen Linie.

Nächste Vorstellungen: 25., 27., 29 und 31. Januar sowie 02. und 04. Februar

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