Enrico (1991), Dramatische Komödie in neun
Szenen von Manfred Trojahn (*1953),
Frankfurter Erstaufführung im Bockenheimer Depot, 23.01.2018 (Premiere
am 21.01.2018)
Der Wahnsinn als Realität, die Realität als Posse – der absolute Irrsinn
Es ist ein Spiel mit Masken, ohne Hoffnung, das wirkliche Gesicht der Protagonisten überhaupt erkennen zu können. Selbst die Bühne, „der Thronsaal zu Goslar auf dem Herzberg zu Worms“, eine riesige Bibliothek mit schmaler Wendeltreppe, Kaiserlüster und mickrigem Thron in der Mitte (Bühnenbild: Britta Tönne), auf der „das 1. und 2. Jahrhundert“ gemimt werden, ist ein Ort von Nirgendwo im Nirgendwo, in einer Zeit ohne wirklichen Zeitbezug (Kostüme: Verena Polkowski). Denn eigentlich geht es doch um das 11. Jahrhundert, der Zeit Kaiser Heinrichs IV und Papst Gregors VII: den Canossagang 1077, Heinrichs Frau Berta von Susa, ihre Mutter Adelheid, Markgräfin Mathilde von Toskana, mächtige Anhängerin des Papstes, und nicht zuletzt um Abt Hugo von Cluny, dessen Wort in Gregors Ohr Gesetz war. Eine bekanntlich unheilige Allianz mit tragischen Zügen, die, nach dem Drama Enrico IV (1922) von Luigi Pirandello (1867-1936), zur Vorlage für Manfred Trojahns (* 1953) Enrico (1991) diente, und nach dem Libretto von Claus H. Henneberg (1936-1998) zu einer verrückten, wahnsinnigen, bisweilen bizarren und verbogenen schwarzen Humoreske umgearbeitet und in der Regie von Tobias Heyder in abgründiges Vexierspiel der Gefühle verwandelt wurde. Vergessen wir also die Geschichte.
Worum aber
geht es eigentlich? Es geht um einen jungen Mann, der, verkleidet als Heinrich
IV, vom Pferd stürzt und das Bewusstsein verliert. Nach dem Erwachen tritt er weiterhin als Heinrich IV auf: bewusst oder unbewusst, die Oper gibt kein Erklärung. Seine ebenso kostümierte 'Gefolgschaft'
macht sich einen Joke daraus, ihn auch weiterhin als Kaiser zu behandeln. Offen
bleibt, ob seine Amnesie echt oder gespielt ist, woraus sich eine grotesk
komische Handlung zwischen ihm und seinen schicksalhaft mit ihm verwobenen
Begleitern entwickelt.
Da ist Marchesa Matilda Spina alias Mathilde von Toskana, von der Sopranistin Juanita Lascarro herrlich inszeniert als hysterische,
selbstbezogene Primadonna, die ihre heimliche Liebe zu Enrico entdeckt. Dann Barone Tito Belcredi
alias ein Cluniazenser Mönch, ein rational denkender Rivale Enricos und
gnadenlos-herzloser Enttarner von Enricos Wahnsinnskomödie, von Sebastian Geyer mit würdevollem Bariton
sowie aggressiv gesprochenen Einwürfen auf die Bühne gebracht.
Frida, die
Tochter von Matilda, die Inkarnation der Jugend und ungewollt in das perfide
Spiel ihrer Mutter und der Erwachsenen involviert, wurde von der Debütantin Angela Vallone mit frischem, klarem
Sopran, leichtgängigen Koloraturen und schauspielerischem Esprit auf die Bühne
gezaubert.
Carlo di
Nolli, ihr Verlobter, vom Tenor Theo
Lebow zuweilen in gewollt schriller Höhe gesungen, zeigte zugleich aber
auch innige Expressivität in seiner Arie über seine verstorbene Mutter. Der
Dottore alias Bischof von Cluny, vom Bariton Dietrich Volle mit souveräner, menschenverachtender Haltung
gespielt und gesungen, erinnerte fatal an den Doktor in Alban Bergs Wozzeck. In
der zynischen Absicht, Enrico von seiner 'Verdammnis zu erlösen', befriedigte
er allenfalls seine narzisstischen wissenschaftlichen Neigungen.
Hervorzuheben
die Dienerschaft mit Landolfo, Tenor Peter
Marsh, Bertoldo, Tenor Samuel Levine,
Arialdo, Bariton Björn Bürger,
Ordulfo, Bass Frederic Jost sowie
Giovanni, Bass Doğus Güney, der
treueste der Diener Enrico. Sie verkörperten die devote, chamäleonhafte Haltung
der Mitläufer. Ihr Gesang erinnerte vor allem im Schlussteil an die Comedian
Harmonists der 1920er Jahre, ihre Choralgesänge an eine buffoneske Persiflage
auf die Wirklichkeit. Hervorragend ihr a cappella Song „Oh wie wundervoll“,
just als Enrico kundgibt, „Man könnte meinen, dass 800 Jahre vergangen sind.
Ich kann nicht Heinrich der IV sein, der den Mond betrachtet.“ Ein Quintett,
dass der Oper eine kräftige Würze verpasste.
Wohin führt die Freiheit?
Holger Falk (Enrico) |
Jetzt zu
Enrico, eine Paraderolle auf den Leib des Baritons Holger
Falk geschrieben. Er, Dreh- und Angelpunkt des musikalisch-komödiantischen Rausches, schwankt in extremer Exaltiert- und Introvertiertheit zwischen Explosion und
Implosion. Ein Irrer, der den Wahnsinn zur Realität macht und die Realität zur
Posse. Das allerdings mit allen Facetten der stimmlichen Klangfarben, vom
Falsett bis zum Geschrei, vom romantischen Belcanto bis zum wütenden Ausbruch.
Er fühlt sich geheilt, aber hat es vorgezogen verrückt zu bleiben. Warum eigentlich?
Ganz
einfach. Verrückt zu sein, dem Wahnsinn verfallen, das macht seine Identität aus: eine
Identität frei von jeglicher Verantwortung. Sein Extremismus hat sich
verselbständigt. Ursprünglich vielleicht aus verschmähter Liebe in die Rolle
des Irren geschlüpft, wobei der Sturz vom Pferd günstige Gelegenheit bot, ist
diese Maske jetzt zu seinem zweiten Gesicht geworden. Allein das erklärt seinen
spontanen Mord an Barone Tito Belcredi, der sein Spiel durchschaut – „Du bist nicht
wahnsinnig“ –, und damit zur existentiellen Gefahr für den sich alle Freiheiten
nehmenden Enrico geworden ist.
Der Versuch Belcredis, den gewaltsamen Übergriff
Enricos auf die jugendliche Frida zu unterbinden, wird zur
eigentlichen Peripetie des schwarzen Humors mit Todesfolge. Enricos Identität
ist gerettet, seine Freiheit ist die des Wahnsinns, seine Maske ist zu seinem
Gesicht geworden, sein Extremismus ist der der Anpassung an sein selbstgemodeltes Schicksal: Seine letzten Worte: „Jetzt werden wir gezwungen sein,
zusammenzubleiben“, ist sozusagen die Quintessenz des Ganzen.
Die Musik
von Trojahn steckt voller Masken. Jede Person hat ihr eigenes Instrument im 25-köpfigen Orchester. Text und Handlung werden musikalisch unterstützt,
verstärkt, oftmals emotional unterfüttert. Der Komponist bedient sich dabei
diverser Zitate, man hört Splitter aus Rossinis Barbier von Sevilla, aus Ravels Don
Quichotte oder auch Strauss´ Rosenkavalier.
Auch die Ensembleszenen – Quintette, Terzette oder Quartette –, witzig und
humorvoll, wirken wie schon einmal gehört, wie auch die gesamte Dramatische
Komödie im Stile der Buffooper verfasst ist und an weiten Teilen an die
Commedia dell´arte erinnert. Zwei große Formteile und neun Szenen wechseln,
teils in haarsträubender Schnelligkeit teils in vierfach überlagerten Texten, mit Arien und Sprechgesängen, mit Kontrapunktik und Neoklassik, mit Sprache und Spiel.
Der musikalische Leiter, Roland
Böer, führte in einem gekonnten
Parforceritt durch Höhen und Tiefen der eineinhalbstündigen Kurzweil.
Juanita Lascarro (Matilda), Holger Falk (Enrico) |
Allein die Mordszene am Schluss fiel aus dem
Rahmen. Ihr buchstäblicher Verismo schlug sich auch in der Musik nieder. So wurde die 'eruptive
Entladung' Enricos von lauten, atonal schrägen Klängen begleitet, die langsam
flirrend in den Geigen und einem trauernd klagenden Pochen im Violoncello ausklangen.
Nachdenklich, sprachlos. Es dauerte denn auch, bis das Publikum des vollbesetzten Depots wieder zurück ins Jetzt fand, unterstützt vom fast bücherfreien Regal mit Blick auf die Frankfurt Skyline.
Enrico, die Erstlingsoper von Manfred
Trojahn, uraufgeführt im April 1991 in Schwetzingen, ist ein Produkt der Generation von Komponisten, die der Avantgarde den
Rücken zukehrten und ihr Heil in der Subjektivität, in der Re-Tonalität und,
mit dem Schlagwort „Neue Einfachheit“ versehen, in der Rückschau auf
traditionell Bewährtes suchten. Im unausgesprochenen Frieden mit dem Status der
Gesellschaft wurde bei ihnen das Individuum zum Treibstoff allen Geschehens. Die Figur des Enrico
ist insofern eine typische Gestalt unserer Zeit. Sein Extremismus ist Ausbund
einer Freiheit, die in ihrer Grenzenlosigkeit zur eigenen Unfreiheit und damit
auch zu der der anderen führt. Selbst die Möglichkeiten der Liebe werden zu
ihrer Unmöglichkeit, denn wer alles liebt, der liebt nicht mehr. Enrico wird
zum Schluss für seinen Irrsinn, der ihm alle Möglichkeiten bot, bestraft. Der
Mord macht aus seiner Maske sein endgültiges Gesicht mit allen denkbaren
Folgen..
Tolle Oper
mit schwarzem Humor, teilweise genial-text- und affektbezogener Musik sowie gnadenlos guten Akteuren auf
der ganzen Linie.
Nächste Vorstellungen: 25., 27., 29 und 31. Januar sowie 02. und 04. Februar
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