Sir
Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra, Alte Oper Frankfurt, 28.04.2018
Sir Simon Rattle und Mitglieder des London Symphony Orchestra (Fotos:Achim Reissner) |
Ein Konzertabend mit Geist und großer Wirkung
Ein Abend der in die Konzertgeschichte der Alten Oper Frankfurt eingehen wird. Sir Simon Rattle, der in Frankfurt bereits mit der 6. Sinfonie Gustav Mahlers (1989) und seinem Beethovenzyklus (1995) Furore machte, gab sozusagen seinen Einstand mit dem London Symphony Orchestra, das er mit Beginn der Spielzeit 2017/18, bis dahin war er bekanntlich Chef der Berliner Philharmoniker, übernommen hat. Natürlich stand Gustav Mahler (1860-1911), einer seiner Lieblingskomponisten, mit seiner Neunten, der Abschiedssinfonie, auf dem Programm. Dazu ein zeitgenössisches Werk von Helen Grime (*1981), Woven Space (2018) in der deutschen Erstaufführung.
Helen Grime gilt in Great Britain als Shooting Star
und wird bereits mit Thomas Adès, Harrison Birtwistle oder auch Oliver Knussen
verglichen. Ihre Orchesterwerke wurden und werden unter anderem von Pierre
Boulez oder auch von Daniel Harding in den höchsten Tönen gelobt. Mit Woven Space erweiterte sie ihre im
vergangenen Jahr uraufgeführte Fanfares,
das die erste Saison von Simon Rattle als Music Director des London Symphony
Orchestra (LSO) eröffnete, zu einem Triptychon,
das erst vor wenigen Tagen im Londoner Barbican Centre uraufgeführt wurde.
Für großes Orchester geschrieben, eröffneten
Klangstäbe und Pauken das gut zwanzig minütige dreiteilige Stück. Im
dialogischen Wechselspiel von Streichern und Perkussionisten, einem Tanz, immer
wieder durch Signale unterbrochen, führte Fanfares
mit einfacher Fünfton Motivik in pastösem Farbenspiel nach nur wenigen Minuten
zum Mittelteil, dem Woven Space und
Titelgeber dieser Komposition.
Den Natur-Installationen der britischen
Künstlerin Laura Ellen Bacon
nachempfunden (sie flicht Weidenzweige zu kunstvollen Gebilden), führt die
Komponistin in einer klassischen Durchführung die Thematik des ersten Teils
fort. Jetzt mit Hammerschlägen auf Klangstäbe von tiefen Bässen der Tuba und
Kontrabässe begleitet. Dazwischen Streichpassagen, angereichert durch Pizzicati
und Tremoli. Dann ein Stimmungswechsel. Saiten werden heftig angerissen, durch
Holzbläser und Tamtam untermalt. Schließlich windende Abwärtsbewegungen der
Streicher und markante Trompetenfanfaren, die diesen Teil überleiten zu Course, dem Schlussteil des Triptychons, der durch rhythmische
Zellen charakterisiert wird. Er gleicht Windböen, die durch die Installationen
wehen und ständige Veränderungen erzeugen. Nervös zittern die Zweige, die
Installationen drohen zu zerreißen, aber die Musik hält die Spannung aufrecht,
wirkt nie überdehnt und gerät nicht aus den Fugen. Sie gleicht eher einem expressionistischen
Farbensemble mit gewagten Mischungen und kühnen Pinselstrichen.
Ein unvermittelter Schluss, typisch britisch möchte
man meinen, in dem Sinne: Nimmt nicht alles so ernst! Musik kann und soll auch
witzig sein. Oder auch: Ich bin noch lange nicht am Ende. Es geht weiter.
Sir Simon Rattle und das LSO in der Alten Oper Frankfurt |
Eine Sinfonie wird zum gewaltigen Epos
Und das mit Gustav Mahlers Neunter Sinfonie (1912 uraufgeführt). Entstanden zwischen 1909 und
1910, in einem, wie Mahler schrieb,
wahren Schaffensrausch, sollte es seine letzte vollendete (die 10. bleibt
fragmentarisch), seine wohl beste und gleichzeitig seine Abschiedssinfonie in
der Vorahnung seines frühen Todes sein.
Über die viersätzige Sinfonie, die keine
Tonartbezeichnung mehr zulässt, in Form und Struktur völlig aus dem bis dahin
gekannten Rahmen fällt und somit radikal in die Moderne verweist (Alban Berg
nannte sie das erste Werk der Neuen Musik), gäbe es viel zu schreiben, was sich
allerdings in einer großen Anzahl von Büchern und musikalischen Schriften
nachlesen lässt. Tatsächlich baut sie noch heute eine unbekannte Welt auf,
beschwört sie einen Geist, der die Tiefen der Seele, die Geheimnisse des
Daseins berührt.
Exakt hier kommen Sir
Simon Rattle und sein neues Orchester, das LSO, ins Spiel. Ohne Partitur,
mit jeder seiner Fasern mit dem Werk verwoben, zauberte er eine tönende
Autobiographie, wurde selbst zur Inkarnation des Komponisten, wobei ihm das
riesige Orchester willig zur Hand ging. Der etwas pragmatische Umgang mit dem Andante comodo ließ zunächst die Trauer
und Wehmut noch vergessen. Die drohende Stimmung überdeckten noch schönste
Melodien und himmlische Schalmeienklänge. Noch wenig von Todesahnung, dafür
aber Abschiedsstimmung und Sehnsucht nach Freiheit, die nur die Berge
(Kuhglocken und Hörner) zu bieten scheinen.
Der
Ländler, täppisch und derb, ein ins Groteske verzerrtes Scherzo
geriet unter seiner Hand zu einer Anklage an Oberflächlichkeit und
Genusssucht. Schräge Tempowechsel und rhythmische Verschiebungen kontrastierten
mit melodischen Kantilenen, um dann abrupt zur Schrammelmusik zu
mutieren. Ein Tanz war das nicht mehr, allenfalls eine bittere Reminiszenz an Dekadenz und kulturelle Verkommenheit. Alles löste sich in seine
Bestandteile auf und endete in absoluter Leere.
Das Rondo-Burleske,
eine trotzige Kontrapunktik, ließ Rattle zu einem wütenden und aufmüpfigen Parforceritt eines Lebenshungrigen werden. Wie Zahnräder griffen die dissonanten Themen ineinander, um in einem
Wahnsinns-Stretto, eine Ansammlung von chaotischen Tonkaskaden, zu enden. Das
Leben eine Katastrophe? Es folgte der übergangslos Wechsel ins finale Adagio. Eine traurige Eloge von
unfassbarer Tragik, klagender Motivik und einem anglikanischen Choral (Bleib bei mir, Herr), der einen schier umwerfenden, ja kosmischen Klangraum öffnete. Mit ihm wurde der Abschied real. Rattle ließ musikalisch rufen: „Oh Jugendzeit,
Entschwundene … Leb´ wol, leb wol“.
Alles geriet ins Stocken, die Klänge
verhauchten, die Streicher seufzten und schlussendlich blieb nichts als das
Ersterben der Töne. Ein sphärisches Pianissimo der Streicher, das minutenlang
den vollbesetzten Saal der Alten Oper erfüllte, hinterließ ein kollektives
Schweigen, bevor der frenetische Beifall mit stehenden Ovationen folgte. Ein gewaltiges
Epos ohne Pathos und Apotheose, dafür mit dem Blick in die Seele des
Dirigenten.
Sir Simon Rattle liebt, wie er sagt, die rhythmische
Präzision, die Flexibilität und die Energie dieses Orchesters. Alles das trifft
absolut zu. Ergänzend müsste man hinzufügen: Dieses Orchester erscheint wie der
erweiterte Geist des Dirigenten. Eine symbiotische Verbindung, die kaum zu
toppen ist. Ein Konzertabend mit Geist und großer Wirkung.
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