Sonntag, 29. April 2018


Sir Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra, Alte Oper Frankfurt, 28.04.2018


Sir Simon Rattle und Mitglieder des London Symphony Orchestra (Fotos:Achim Reissner)


Ein Konzertabend mit Geist und großer Wirkung


Ein Abend der in die Konzertgeschichte der Alten Oper Frankfurt eingehen wird. Sir Simon Rattle, der in Frankfurt bereits mit der 6. Sinfonie Gustav Mahlers (1989) und seinem Beethovenzyklus (1995) Furore machte, gab sozusagen seinen Einstand mit dem London Symphony Orchestra, das er mit Beginn der Spielzeit 2017/18, bis dahin war er bekanntlich Chef der Berliner Philharmoniker, übernommen hat. Natürlich stand Gustav Mahler (1860-1911), einer seiner Lieblingskomponisten, mit seiner Neunten, der Abschiedssinfonie, auf dem Programm. Dazu ein zeitgenössisches Werk von Helen Grime (*1981), Woven Space (2018) in der deutschen Erstaufführung.


Helen Grime gilt in Great Britain als Shooting Star und wird bereits mit Thomas Adès, Harrison Birtwistle oder auch Oliver Knussen verglichen. Ihre Orchesterwerke wurden und werden unter anderem von Pierre Boulez oder auch von Daniel Harding in den höchsten Tönen gelobt. Mit Woven Space erweiterte sie ihre im vergangenen Jahr uraufgeführte Fanfares, das die erste Saison von Simon Rattle als Music Director des London Symphony Orchestra (LSO) eröffnete, zu einem Triptychon, das erst vor wenigen Tagen im Londoner Barbican Centre uraufgeführt wurde.

Für großes Orchester geschrieben, eröffneten Klangstäbe und Pauken das gut zwanzig minütige dreiteilige Stück. Im dialogischen Wechselspiel von Streichern und Perkussionisten, einem Tanz, immer wieder durch Signale unterbrochen, führte Fanfares mit einfacher Fünfton Motivik in pastösem Farbenspiel nach nur wenigen Minuten zum Mittelteil, dem Woven Space und Titelgeber dieser Komposition. 
Den Natur-Installationen der britischen Künstlerin Laura Ellen Bacon nachempfunden (sie flicht Weidenzweige zu kunstvollen Gebilden), führt die Komponistin in einer klassischen Durchführung die Thematik des ersten Teils fort. Jetzt mit Hammerschlägen auf Klangstäbe von tiefen Bässen der Tuba und Kontrabässe begleitet. Dazwischen Streichpassagen, angereichert durch Pizzicati und Tremoli. Dann ein Stimmungswechsel. Saiten werden heftig angerissen, durch Holzbläser und Tamtam untermalt. Schließlich windende Abwärtsbewegungen der Streicher und markante Trompetenfanfaren, die diesen Teil überleiten zu Course, dem Schlussteil des Triptychons, der durch rhythmische Zellen charakterisiert wird. Er gleicht Windböen, die durch die Installationen wehen und ständige Veränderungen erzeugen. Nervös zittern die Zweige, die Installationen drohen zu zerreißen, aber die Musik hält die Spannung aufrecht, wirkt nie überdehnt und gerät nicht aus den Fugen. Sie gleicht eher einem expressionistischen Farbensemble mit gewagten Mischungen und kühnen Pinselstrichen.
Ein unvermittelter Schluss, typisch britisch möchte man meinen, in dem Sinne: Nimmt nicht alles so ernst! Musik kann und soll auch witzig sein. Oder auch: Ich bin noch lange nicht am Ende. Es geht weiter.

Sir Simon Rattle und das LSO in der Alten Oper Frankfurt

Eine Sinfonie wird zum gewaltigen Epos


Und das mit Gustav Mahlers Neunter Sinfonie (1912 uraufgeführt). Entstanden zwischen 1909 und 1910,  in einem, wie Mahler schrieb, wahren Schaffensrausch, sollte es seine letzte vollendete (die 10. bleibt fragmentarisch), seine wohl beste und gleichzeitig seine Abschiedssinfonie in der Vorahnung seines frühen Todes sein.
Über die viersätzige Sinfonie, die keine Tonartbezeichnung mehr zulässt, in Form und Struktur völlig aus dem bis dahin gekannten Rahmen fällt und somit radikal in die Moderne verweist (Alban Berg nannte sie das erste Werk der Neuen Musik), gäbe es viel zu schreiben, was sich allerdings in einer großen Anzahl von Büchern und musikalischen Schriften nachlesen lässt. Tatsächlich baut sie noch heute eine unbekannte Welt auf, beschwört sie einen Geist, der die Tiefen der Seele, die Geheimnisse des Daseins berührt.

Exakt hier kommen Sir Simon Rattle und sein neues Orchester, das LSO, ins Spiel. Ohne Partitur, mit jeder seiner Fasern mit dem Werk verwoben, zauberte er eine tönende Autobiographie, wurde selbst zur Inkarnation des Komponisten, wobei ihm das riesige Orchester willig zur Hand ging. Der etwas pragmatische Umgang mit dem Andante comodo ließ zunächst die Trauer und Wehmut noch vergessen. Die drohende Stimmung überdeckten noch schönste Melodien und himmlische Schalmeienklänge. Noch wenig von Todesahnung, dafür aber Abschiedsstimmung und Sehnsucht nach Freiheit, die nur die Berge (Kuhglocken und Hörner) zu bieten scheinen.
Der Ländler, täppisch und derb, ein ins Groteske verzerrtes Scherzo geriet unter seiner Hand zu einer Anklage an Oberflächlichkeit und Genusssucht. Schräge Tempowechsel und rhythmische Verschiebungen kontrastierten mit melodischen Kantilenen, um dann abrupt zur Schrammelmusik zu mutieren. Ein Tanz war das nicht mehr, allenfalls eine bittere Reminiszenz an Dekadenz und kulturelle Verkommenheit. Alles löste sich in seine Bestandteile auf und endete in absoluter Leere.

Das Rondo-Burleske, eine trotzige Kontrapunktik, ließ Rattle zu einem wütenden und aufmüpfigen Parforceritt eines Lebenshungrigen werden. Wie Zahnräder griffen die dissonanten Themen ineinander, um in einem Wahnsinns-Stretto, eine Ansammlung von chaotischen Tonkaskaden, zu enden. Das Leben eine Katastrophe? Es folgte der übergangslos Wechsel  ins finale Adagio. Eine traurige Eloge von unfassbarer Tragik, klagender Motivik und einem anglikanischen Choral (Bleib bei mir, Herr), der einen schier umwerfenden, ja kosmischen Klangraum öffnete. Mit ihm wurde der Abschied real. Rattle ließ musikalisch rufen: „Oh Jugendzeit, Entschwundene … Leb´ wol, leb wol“. 
Alles geriet ins Stocken, die Klänge verhauchten, die Streicher seufzten und schlussendlich blieb nichts als das Ersterben der Töne. Ein sphärisches Pianissimo der Streicher, das minutenlang den vollbesetzten Saal der Alten Oper erfüllte, hinterließ ein kollektives Schweigen, bevor der frenetische Beifall mit stehenden Ovationen folgte. Ein gewaltiges Epos ohne Pathos und Apotheose, dafür mit dem Blick in die Seele des Dirigenten.

Sir Simon Rattle liebt, wie er sagt, die rhythmische Präzision, die Flexibilität und die Energie dieses Orchesters. Alles das trifft absolut zu. Ergänzend müsste man hinzufügen: Dieses Orchester erscheint wie der erweiterte Geist des Dirigenten. Eine symbiotische Verbindung, die kaum zu toppen ist. Ein Konzertabend mit Geist und großer Wirkung.

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