Happy New Ears 2017/18: Portrait Enno Poppe, Werkstattkonzert im Foyer der Oper Frankfurt mit den Ensemble Modern,
30.04.2018
Enno Poppe (Foto: WDR 3, Studio für Neue Musik) |
Von der Zelle zum Makrokosmos
Das dritte Werkstattkonzert in der Spielzeit 2017/18 im Rahmen
von Happy New Ears (HNE) sollte mit Enno
Poppe (Komponist, Ensembleleiter, Dozent und Dirigent) und Rebecca Saunders
(Komponistin und Dozentin) den glücklichen neuen Ohren alle Ehre machen. In
vertauschten Rollen (bereits vor gut einem Jahr war Rebecca Saunders eine Konzertreihe
gewidmet mit Enno Poppe als ihrem Gesprächspartner) eröffneten sie eine musikalische
Welt voller Entdeckungen,
Überraschungen, Vielfalt und Verstehen durch und über
die Ohren, die das Publikum im vollbesetzten Saal des Holzfoyers als glückliche
Teilhaber eines höchst aufschlussreichen Abends zurückließ.
Enno Poppe (*1969) pflegt eine Klangsprache, die
sich aus melodischen Zellen, Gesten und Motiven entwickelt. In der Zelle, meint
er, liege eine Welt verborgen. Sie enthalte die DNA allen Lebens. Der Zellkern berge im Mikrobereich die Komplexität der Welt. Seine Aufgabe sehe er darin, Moleküle,
Ketten und Variationen entstehen zu lassen. Nicht von ungefähr erinnerte er an
seine Komposition Thema mit 840
Variationen für Klavier (1993/97), in der er aus einer Mikrozelle von zwei
Tönen in sieben Minuten ein vollständiges Werk entstehen ließ.
Fell
(2016) ist ein Stück für Drumset Solo. Im Kern besteht es aus vier Schlägen,
die in dreißig variablen Ketten stringent aufgebaut werden. Ein überschaubares,
paarweise angelegtes Set von Snare Drums, Timpanies, Becken, Trommel und Querstange
reichte aus, um ein lebendiges Geschöpf entstehen zu lassen. Rainer Römer, Ensemble Modern Mitglied
und Schlagzeugprofessor an der Frankfurter HfMDK, verstand es, die rhythmischen
Verkürzungen, Beschleunigungen, Verästelungen bei höchster Komplexität und
ständigen Wechseln transparent erscheinen lassen. Ein perfekt gelungener Spannungsbogen über zehn Minuten.
Warum die Dinghaftigkeit seiner Titel, wie Fell, Brot oder auch Scherben?,
war die Frage der Moderatorin. Poppe möchte das „Antimetaphysische“
hervorheben, das Greifbare, das real Erlebbare. So käme ihm bei Fell das Brüllen in den Sinn, bei Brot, dem folgenden Stück, habe es einen
konkreten Bezug zu Robinson Crusoe aus seiner Oper Arbeit, Nahrung, Wohnung (2008) und bei Scherben sei es das Bruchstückhafte, das Zerbrechende, was den
Titel erklärt. Wachstum und Werden seien seine kompositorischen Maximen: „Als künstlerischer
Forscher“, meint er, wäre ich fehl am Platz. Ich manipuliere und beeinflusse
Prozesse. Meine Titel setzen Assoziationen frei, die ich aber nicht intendiere.“
Ergänzend zitierte Saunders den Musikkritiker, Clytus Gottwald: „Unter der Hand wuchert der Stoff
wie eine lebendige Kultur.“
So auch in
Brot für fünf Instrumentalisten (2007/08). Es ist eine Auskoppelung aus seiner
Oper und beschreibt die Nöte Robinson Crusoes, sich auf seiner Insel
einzurichten. Nichts will ihm gelingen, weder das Nähen einer Hose, das Backen
von Brot oder die Herstellung eines Medikaments. In drei Hörbeispielen erklärt
Poppe die Funktionen der Instrumente: den erzählenden Part der Posaune (Uwe Dierksen), den lyrischen Part der Trompete
(Sava Stoianov), die Naturhaftigkeit
des Horns (Saar Berger) sowie die Impulsgebung
von Klavier (Hermann Kretschmar) und
Perkussion (Rainer Römer).
Es wurde ein Stück
voller Emotionen: Versuch, Irrtum, Verzweiflung, Wut und Ärger bis zur
Erschöpfung. Alles in Musik gefasst. Ein
berauschendes Psychogramm der menschlichen Unzulänglichkeiten im Zustand der sozialen
Isolation.
Scherben mit rigidem Formplan
Scherben
für Ensemble (2001/08), dreizehn Instrumentalisten des Ensemble Modern, bildete den Abschluss des „Workshops“.
Zuvor aber sprach Poppe noch über seine Rolle als Dirigent und musikalischer Leiter.
Wichtig seien ihm Gesprächspartner. Die Einsamkeit des Komponisten könne nur über
den Austausch mit Kollegen, mit gemeinsamem Experimentieren und Ausprobieren überwunden
werden, wozu auch seine Gründung und Leitung des Ensemble Mosaik (1998) gehöre. „Ich arbeite lieber mit lebenden als
mit toten Komponisten.“
Scherben,
sein frühestes Stück von den dreien, habe er in der Absicht geschrieben, es so
schwer wie möglich zu konzipieren: „Was lag da näher“, meinte er, „als Soli zu
schreiben.“ Herausgekommen sind elf höchst virtuose Etüden für Bläser und
Klavier, die Poppe in 121 Formteile von jeweils fünfeinhalb Sekunden
geschnitten hat. Ein Scherbenhaufen, möchte man meinen, der allerdings äußerst
systematisch - Poppe spricht von rigide - in eine Matrix geformt ein buntes,
wechselhaftes, fragmentiertes wie plastisches und strenges Kaleidoskop
abbildet. „Ein strenger Rahmen mit großer innerer Freiheit“, charakterisierte
Saunders dieses Stück. Es sei ein wenig wie Peter und der Wolf von Sergei
Prokofieff, meinte dagegen Poppe, „jedes Instrument steht für einen anderen Charakter“.
Dem Hörer präsentierte sich ein extrem expressives Ensemblewerk
mit einer chaotischen Fülle von Details und hämmernden Kontrasten. Ein Kampf mit
dem Unaussprechlichen. Ein Wechselspiel voll wuchernder Harmonik, schrägen
Clustern und grenzwertiger Virtuosität. Der Schluss ließ nur noch Scherben
zurück. Es knirschte und alles löste sich in seine Bestandteile auf.
Rebecca Saunders und Enno Poppe: Auf der Suche nach
dem Klang, der Klangfarbe und Musiksprache sind sich beide sehr ähnlich. Ihre
Musik dagegen ist konträr. Während Saunders eher die leisen Töne, die Stille,
das Versöhnliche bevorzugt, ist Poppes Klangsprache fordernd, ungeduldig,
nervös, aufmüpfig.
Das Ensemble Modern
war in Höchstform. Poppes Musik scheint ihm wie auf den Leib geschnitten zu sein. Das Publikum
verfolgte die Dialoge und analytischen Prozesse mit großer Aufmerksamkeit. Lang andauernder
Beifall mit vielen glücklichen Gesichtern.
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