Freitag, 4. Mai 2018


Internationale Maifestspiele Wiesbaden: 30.04. bis 31.05.2018

Who Is Happy In Russia, Tanzmusiktheater von Kirill Serebrennikov und Nikolai Nekrassov, Europa-Premiere im Staatstheater Wiesbaden, 03.05.2018

Ensemble des Gogol Center Moskau (Foto: Gogol Center Moskau, Russia)


Ein Blick in die russische Seele


Politische Aktualität bekommt dieses Gesamtkunstwerk allein schon dadurch, dass der Regisseur, Kirill Serebrennikov (*1969), seit August 2017 wegen angeblicher Veruntreuung von Staatsgeldern in Moskau unter Hausarrest steht, und damit seine bekannt-provokative künstlerische Tätigkeit als Leiter des Gogol Center Moskau auf Eis gelegt ist.


Auch Who Is Happy In Russia, 2015 in Moskau uraufgeführt, gehört natürlich dazu. Ein Gedichtepos aus dem 19. Jahrhundert von Nikolai Nekrassov (1821-1878), das zumindest in Russland einen ähnlichen Bekanntheitsgrad genießt, wie beispielsweise Schillers Lied von der Glocke bei uns. Als Lyriker des Realismus widmete ihm nicht nur Fjodor Dostojewski einen Nachruf in seinen berühmten Tagebüchern (1873), sondern er wurde auch in einer russischen Münze verewigt und sogar ein Himmelskörper nach ihm benannt.

Dieses Epos, in fünfzehnjähriger Arbeit entstanden und doch nie fertiggestellt, handelt von der sogenannten Bauernbefreiung, die europaweit im 19. Jahrhundert durchgeführt wurde: In Preußen beispielsweise die Stein-Hardenbergschen Reformen (1807-1816), in Russland nach einem Dekret des Zaren Alexander II. (1855-1881) aus dem Jahre 1861. Der Aufhebung der Leibeigenschaft und dem Versprechen der persönliche Freiheit folgten Frondienst und Zwangsabgaben, die Verelendung des Bauernstandes und in den meisten Fällen Enteignung und Landflucht, und das europaweit.

Nekrassov lässt sieben Bauern nach dem angeblichen Glück suchen, das sie natürlich nicht finden können. Die alten Mächte leben auch nach der Bauernbefreiung weiterhin sorgenfrei und auf ihre Weise glücklich: der Gutsbesitzer, der Beamte, der Pope, der Bojar (Adelige), der Zar. Die Bauern dagegen darben weiterhin. Sie bleiben arm, roh, ungebildet, unterwürfig und unglücklich. Was bleibt ihnen? Der Wodka? Die Frauen? Der Tanz und die Lieder? Der Widerstand?

In drei Szenen: „Der Streit“, „Die trunkene Nacht“, „Das Dorffest“, ließ das Team um Serebrennikov mit Anton Adassinski (Choreographie), Ilya Demutsky und Denis Horov (Komposition), Andrey Poliakov (Arrangements) Polina Grechko (Kostüme) und Igor Kapustin (Licht) ein unglaublich dicht gewebtes äußerst kurzweiliges im Brechtschen Sinne lehrreiches Spektakel abbrennen, das in vielerlei Hinsicht an die Wirkung der Dreigroschenoper in den 1920er Jahren der Weimarer Republik erinnerte. Freche Songs, ironische Anleihen an den Hippy-Song The House of the Rising Sun aus den 1960ern von den Animals, Rap-, Jazz-Einlagen und Zirkusnummern, aber vor allem auch typisch russisches Flair mit Folklore, orthodoxem Chorgesang und ironisierter Wolgasschlepper-Romantik.

Sehr textlastig der erste Teil, der Streit (deutsche Übersetzung: Isolde Schmitt), mit einer allerdings bemerkenswerten Grimmschen Tischleindeckdich-Parabel und einer Traum- und Realszenerie, die einem das Gruseln lehrte (Goldesel und Knüppel aus dem Sack). Die Bühne tat ihr übriges: Stacheldraht bewehrte Mauer nebst Pipeline und Television, Insignien der Macht und der Manipulation.

Die trunkene Nacht bot ein Spiegelbild der russischen Seele. Die Männer mäanderten durch die Reihen des Publikums, derb, aufdringlich, anmaßend, aber irgendwie doch belustigend-charmant. Schwarz gekleidete Königinnen der Nacht sangen derweil orthodoxe Choräle im Stile der Gregorianik mit Bongo- und Keyboardbegleitung „Oh Nacht, trunkene Nacht!“, während die Männer auf der Bühne wilde, aggressive, taumelnde bis fallende Tänze kreierten. Ein rockiger Blues beendete die Nightmare, begleitet von einem Regenguss, der alles Leid, alle Verzweiflung im Strom der Zeit verfließen ließ.

Der Gesang der  Nachtfrauen verliert ebenso an Kontrolle, wird ebenso chaotisch wie der Tanz der Männer. Die Trunkenheit wird zur Chimäre der Freiheit und des Glücks. Ein psychologisches Zwischenspiel von großer Intensität und tiefem Blick in das russische Seelenleben. Begeisterter Zwischenapplaus und große Anteilnahme auf der Zuschauerseite.

Bauern und Tänzer des Ensembles (Foto: Gogol Center Moskau, Russia)

„Ach du heiliges Russland“


Das abschließende Dorffest, eingeleitet durch die Animation eines Clowntrios mit entsprechender Zirkusmusik, sollte, mit einer Publikumsbefragung über das Glücklichsein, zu einem ersten Resümee führen. Scheinbar spontan schälte sich eine Moderatorin aus dem Publikum heraus und befragte in russischer Sprache mit Mikrophon das zahlreich der russischen Sprache mächtige Publikum nach ihrem Glück. Dazu mehrere Fernseher auf der Bühne mit vermeintlich glücklichen Szenen. „Ich bin glücklich, weil es ein wunderschöner Abend hier ist“, meinte eine Frau. Eine andere hielt ihren Ehemann für das größte Glück auf dieser Welt und ein Mann hielt die Tatsache, dass ein Stück in russischer Sprache aufgeführt wird, für das größte ihm widerfahrende Glück. Viel Glücklichsein im Saal ehe ein bitterer Rap: „Ach du heiliges Russland, dem Volk geht es gut!“ den vermeintlich eschatologischen Schluss einleitete.

Eine Abendmahlsszene mit einer Frau in der Rolle von Jesus. Sie erzählt ihre Geschichte als Ehefrau, Mutter, Angeklagte und Geschändete. Dazu eine melancholisch-folkloristische Weise einer Sängerin. Leider war der Text im dritten Teil verhüllt – warum auch immer –, sodass der Inhalt und Sinn des langen Monologs von einem Sprachunkundigen nur erahnt werden konnte: Eine Anklage an die Rolle der Frau bis zur heutigen Zeit, gekennzeichnet durch Männerherrschaft, religiöse und  traditionelle Überlieferungen (ausgedrückt durch eine Modenschau der russischen Trachten) sowie bestehende soziale und politische Zustände.

Jetzt wurde das Kunstwerk zu einer politischen Tribüne. Die Männer entblößten ihre Oberkörper und wechselten T-Shirts mit diversen Putin Konterfeis oder der Aufschrift: „Free Kirill“. Dazu ein von Männern wie Frauen vorgetragener Sprechgesang: „Freiheit sei Licht, die Kugel findet den Schuldigen!“ Ein langer Roll-Text, der die Liebe zu Russland und die Hoffnung auf Freiheit und Glück enthielt, begleitet von einer rockigen Musik, beendete das fast vierstündige Theater-Epos.

Ein lebendiges, sehr russisches, sehr spezielles Werk von einem höchst engagierten Team. In der Ausnutzung aller Möglichkeiten theatraler Umsetzungen eines doch eher philosophischen und abstrakten Themas, erhielt es mit der Zuspitzung auf Wladimir Putin und dem Appell an die Freiheit Kirill Serebennikovs eine aktuelle politische Attitüde, die vor allem von den russischen Besuchern verstanden und mit frenetischem Beifall goutiert wurde. 

Bei aller Güte der Protagonisten (hervorzuheben die Sängerinnen und Instrumentalisten) dürfen allerdings die technischen Unzulänglichkeiten (grelles Licht ins Publikum; Text im dritten Teil durch ein buntes Band fast vollständig verdeckt)  nicht unerwähnt bleiben. Zudem wirkte Vieles ein wenig überspannt und auf Effekte gezimmert (lange, zu lange Publikumsbefragung, dessen Sinn eigentlich unterging), aber, und das bleibt: Ein sehr sehenswertes Gesamtkunstwerk mit erkennendem Blick in die Seelenlandschaft unseres gleichzeitig bewunderten und mit Abneigung behafteten europäischen Nachbarn.

Nächste und letzte Vorstellung am 04.05. im Großen Saal des Staatstheaters Wiesbaden
   



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