Don
Giovanni (1787), Oper in zwei Akten von Wolfgang Amadeus
Mozart (1756-1791), Libretto von Lorenzo da Ponte (1749-1838), Staatstheater Wiesbaden, 23.06.2018 (Premiere: 17.06.2018)
v.l.: Christopher Bolduc (Don Giovanni), Shavleg Armasi (Leporello) Fotos: Karl und Monika Forster |
Die Moral auf den Kopf gestellt
Statt düsteres d-Moll, das Mozart immer für schicksalsschwere tragische Momente verwendet, ein techno-verfremdeter Marsch Non più andrai aus Figaros Hochzeit. Dazu ein überlebensgroßes Video mit Don Giovanni höchstpersönlich, aus dessen Augen in Death-Metal-Manier schwarzes Blut fließt: Death by Metal und Scream Bloody Gore lassen grüßen.
Ein Don
Giovanni auf den Kopf gestellt? Vieles lässt zumindest stutzen. Ist die
Vergewaltigung von Donna Anna überhaupt eine? Ist Don Juan der Schwerenöter,
der skrupellose, gnadenlose Zerstörer aller Konventionen? Hat er den Mord an
dem Komtur, Ausgangspunkt des Rachefeldzugs von Donna Anna und ihrem Verlobten Don
Ottavio, überhaupt zu verantworten? Sind die Rachefrauen, neben Donna Anna noch
Donna Elvira und Zerlina, überhaupt Figuren, deren Moral auf der richtigen
Seite zu stehen scheint? Fragen über Fragen, die sich luzid, spitzfindig und ideenreich
durch die gesamte Oper ziehen.
Nicolas
Brieger (Regie) ist hier mit seinem Team um Raimund Bauer (Bühne), Andrea Schmidt-Futterer (Kostüme), Andreas Frank (Licht) und Bibi Abel (Video) ein Meisterstück des Dramma giocoso, des verspielten Dramas
mit viel Augenzwinkern und profanen menschlichen Schwächen auf allen Seiten
gelungen. Ein Lachen unter Tränen, begleitet von einer Musik von grausiger
Wildheit, die über die Höhen und Tiefen der menschlichen Schicksale hinwegfegt,
die den Herzschlag stocken macht und gleichzeitig die trübe Sphäre des Alltags beschreibt.
Diese Aussage des Musikwissenschaftlers Hermann Abert (1871-1927) trifft
den Kern des wohl zeitlosen (das Bühnenbild reicht vom Barock bis zur
Kaffeemaschine) Musikspektakels, in dem jede Person in nahezu veristischer Manier
bis zur letzten Ader seiner physischen und psychischen Verfassung gefordert
ist.
Unter der musikalischen Leitung von Konrad Junghänel und dem herrlich
mitspielenden Chor des Staatstheaters Wiesbaden (Albert Horne) geriet dieses Opernwerk zu einem musikalischen
Leckerbissen auf höchstem Niveau. Dazu die Sängerriege, die der allgemeinen
Forderung nach ersten Rollenbesetzungen in allen Belangen gerecht wurde.
Angefangen bei Don Juan, den Christopher Bolduc nicht nur in Figur, Aussehen und baritonalen Gesang
perfekt repräsentierte, sondern auch in Haltung und konsequenter Coraggio. Vielleicht ein
Heiratsschwindler, ein Egozentriker allemal, aber vor allem eine Liebesprojektion
aller Frauen auf dieser Welt. Insofern zur Reue überhaupt nicht fähig, weil er
sein Handeln als Liebesakt par excellence betrachtet. Sein Tod ist insofern
lediglich ein Übergang in das Siechtum, die Einsamkeit und Krankheit des
Alters, das ebenso Männer wie Frauen betrifft. In allen Situationen ein
Gentleman, vor dem keine Frau widerstehen kann. Selbst der Komtur wird da zur
leeren Moralsäule.
Donna Anna, etwas bieder, kleingeistig, aber absolut
bühnenreif von der Sopranistin Netta Or verkörpert,
entpuppt sich als krankhaft vaterhörig, unfähig zu lieben, solange der Tod
ihres Vaters nicht gesühnt ist. Ist es aber das? Nein. Sie leidet wohl eher an
der Tatsache, dass der leidenschaftliche Beischlaf mit Don Juan so abrupt
beendet ist. Don Juan ist ein Liebhaber, aber kein Ehemann, wie von ihr
insgeheim gewünscht. Ihre Rache ist eher eine an sich selbst.
Elvira, die betrogene Geliebte, von der Sopranistin Heather Engebretson gesungen, tut
alles, um ihren Don Juan wieder zurückzugewinnen. Dabei ist ihr auch eine
Scheinschwangerschaft recht. Überwältigend ihre emotionalen Ausbrüche in den
Koloraturszenen, aber auch ihr schauspielerisches Talent. Auch sie muss
einsehen, dass ihre Eifersuchtsspiele auf Don Juan keinen Eindruck machen
können. Sie entscheidet sich nolens volens für das Mitleid. Eine Notlösung,
mehr aber auch nicht.
Dann Zerlina, die Braut von Masetto, ein
Bauernmädchen aus Feudalzeiten. Eingewickelt in Kopftuch und keusche Kleidung
verfällt sie umgehend dem Charme Don Juans. Oder sind es lediglich die
Konventionen, wonach dem Adelsherrn das Recht der ersten Nacht zusteht? Die Sopranistin Katharina Konradi machte aus der Figur in unterschiedlichstem
Timbre, mal schüchtern, mal sanft und verführerisch, bis hin zur wütenden
Rächerin, eine echte Gegengestalt zu Don Giovanni. Sie steht zwar zu den
gesellschaftlichen Konventionen, entwickelt sich aber im Verlaufe der Handlung
zu einer wirklich emanzipierten Frau. Während Don Juan seinen Eigensinn bis zum
Exzess pflegt, ist Zerlina ihrem gesellschaftlichen Umfeld verantwortlich. Ihre
Moral weist nach vorne. Sie heiratet ihren Geliebten Masetto und wird
vermutlich glücklich mit ihm.
Katharina Konradi (Zerlina), Benjamin Russell (Masetto) und Ensemble des Staatstheaters Wiesbaden |
Ein Deus ex Machina mit hintergründigem Schmunzeln
Masetto wiederum, von dem in allen Belangen
überzeugenden Tenor Benjamin Russell
gesungen, passte zum bäuerlichen, derben, etwas einfältigen Umfeld. Getrieben
von Hass und Eifersucht machte er alle erdenklichen Fehler und konnte nur dank
seiner wunderbaren Braut Zerlina den selbst verschuldeten Verstrickungen entrinnen. Die Verführungs- und Versöhnungsszenen ein Gedicht zwischen lieblichster Poesie und
sexuellem Charmieren.
Leporello, der Diener, Mitwisser und fast bedingungsloser Unterstützer seines
Herrn, wurde vom Bassbariton Shavleg
Armasi in der Manier eines Sancho Pansa auf die Bühne gebracht. Er ist in
Charakteristik und Symbolik der Diener aller Diener. Er geht sogar so weit,
sämtliche Eroberungen seines Herrn auf seinen Körper zu tätowieren. Er ist Teil
seines Gebieters, ein Narr, der die Wahrheit zwar sieht (die mit Geld vertuscht
wird), aber gleichzeitig die gefährlichsten und sinnlosesten Taten seines Herrn
mitträgt. Armasis evokativer Gesang war effektvoll, sein ungestümes Phrasieren
vor allem in der „Registerarie“ (1. Akt)
und im Duett mit Zerlina (2. Akt) von ausnehmender veristischer
Atmosphäre umhüllt. Er stellte das Leben pur dar, im guten wie im schlechten
Sinne.
Don Ottavio, der Geliebte und Verlobte Donna Annas,
gehört zu den tragischen Figuren im eigentlichen Sinne. Nichts gelingt ihm,
weder die Rache an Don Juan noch die Liebe zu seiner Angebeteten. Er ist der
wirkliche Verlierer. Ein Weichei, würde man heute sagen, dem nichts bleibt,
als der Suizid, der ihm aber, wie auch sonst, ebenfalls misslingt. Joan Hotea, ein heller mitunter schwankender Tenor, ging blendend
in dieser undankbaren Rolle auf. Für ihn galt: Wer stets die Mitte sucht, der
wird Rom nie erreichen.
Der Komtur, vom hauseigenen Bassisten Yong Doo Park gesungen und gespielt, ist, last but not least,
ebenfalls eine durchaus fragwürdige Figur. Seinen Tod hat er selbst zu
verantworten, denn er bedroht Don Giovanni mit der Pistole und beim Gerangel
löst sich ein Schuss, wobei unklar bleibt, wer ihn ausgelöst hat. Die Inschrift
auf seinem Grab: „Den Mörder erwartet hier die Rache“, kann ebenso wenig
überzeugen wie seine an Don Juan gerichtete Aufforderung zur Umkehr und Reue. Er
ist die Verkörperung der Macht, Vertreter der Ständegesellschaft. Mit dunkler
Resonanz und pathetischem Akzent vertrat er den Status Quo. Seine
Bewegungslosigkeit während der gesamten Oper, selbst als Gast beim Gelage, war
sinnbildlich für seine Haltung: Ein in Stein gemeißelter Stillstand.
Ein Drama oder gar eine Tragödie aus dem Barock und
Rokoko wäre keines, wenn nicht am Schluss eine Moral, eine Sinndeutung
übrig bliebe: ein Deus ex Machina. Auch hier gelang dem Team eine geniale Idee:
Während die vermeintlich Überlebenden im Sextett den „Tod“ Don Giovannis
preisen: „So endet der, der Böses tut!“, läuft im Hintergrund auf Video eine
Filmsequenz aus Die Liebesabenteuer des
Don Juan (1948) mit Errol Flynn und Viveca Lindfors ab. Ganz Verführer und
Frauenliebling. Ein wenig Robin Hood
und König der Vagabunden rettet er seine Geliebte, Königin Margarete,
und reitet mit ihr ins Dickicht des undurchdringlichen Waldes. Der äußerst
attraktive Flynn verlässt auch hier die begehrenswerte Königin, aber, und das
ist entscheidend, zum Wohle Spaniens.
Christopher Bolduc (Don Giovanni), Heather Engebretson (Donna Elvira) |
Fazit: Die Don Giovannis sind zeitlose, allzu
menschliche Figuren (nicht von ungefähr gehen ihre Legenden bis ins 14.
Jahrhundert zurück und werden in der modernen Literatur bis heute thematisiert:
Stichwort Peter Handkes Don Juan von
2004). Die Frauen brauchen sie, aber auch die Männer. Sie spielen mit den
Gefühlen und Konventionen. Sie treiben voran, überwinden alle moralischen und
psychischen Hindernisse, ohne jemals reale Macht- oder Herrschaftsansprüche zu
stellen, was sie wiederum sympathisch macht. Kontinuität ist ihnen fremd,
Kontingenz ihr Metier. Sie leben im Jetzt, ohne Geschichte und ohne Zeit. Sie
sind gesellschaftliche Fremdkörper und Liebeselixier in einer Person.
Das Staatstheater Wiesbaden hat einen Don Giovanni inszeniert, der gleichsam als Uraufführung einer völlig neuen Spielfassung gelten könnte. Dieser Don Giovanni lässt niemanden unberührt, denn er ist ebenso zeitlos wie hoch aktuell und dazu noch spannend und unterhaltsam dargeboten.
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