Donnerstag, 19. Juli 2018

49. Internationale Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, 14.07. bis 28.07. 2018:

Nice Guys Win Twice, eine Video und Live-Elektronik Performance von Jessie Marino und dem Ensemble Scenatet, Uraufführung, Centralstation Darmstadt, 18.07.2018



SCENATET-Ensemble for art & music (Fotos: Kristof Lemp)

Konzeptionelle Musik mit großer politischer Wirkung


Nice Guys win twice ist eine Auftragswerk der Darmstädter Ferienkurse in Co-Produktion von La Muse en Circuit und dem Centre National de Création Musicale aus dem französischen Alfortville. Gemeinsam mit dem Ensemble SCENATET, einer zehnköpfigen Instrumental- und Konzept-Truppe aus Dänemark, gegründet 2008 in Kopenhagen, inszenierte die US-amerikanische Komponistin und Performerin, Jessie Marino (*1984), eine mitreißende Live Show, ein konzeptionelles Theater der ganz besonderen Art.


Nice Guys, nette Frauen und Männer sind das nicht, die sich auf der Bühne vor diversen Monitoren postieren. Mit einem Schlag löschen sie das Geflimmer der Geräte und kommunizieren in gestischer Sprache miteinander. Körperbetont, die Frauen in schwarz, die Männer in weiß gekleidet, führen sie einen Diskurs der Gegensätze. Gar nicht freundlich, eher bitter. Das Lachen lässt eher gruseln, als dass es befreiend wirkt.

SCENATET arbeitet nicht nur körperbetont, sondern besteht auch aus exzellenten Musikern. Drei ihrer Mitglieder versammeln sich vor ebenso vielen Snare Drums und kreieren einen martialischen Marsch, während im Hintergrund eine Militärkapelle die amerikanische Nationalhymne auf die Schippe nimmt. Freitonale bis hin zu atonalen Improvisationen der Bläser und Streicher lassen den Rhythmus von The Pink Panther (Henry Mancini) heraushören. Blueseinlagen, Songs aus dem amerikanischen Showbusiness, aber auch Werbejingles werden mit Videoeinblendungen verschiedener amerikanischer Politiker und V.I.Ps. gemischt. Constantin Basica, für die Videos verantwortlich, leistete hierzu bemerkenswert eindrucksvolle und professionell ausgereifte Arbeit.

„You are not here for fun! You have work until it hurts!” ruft eine Performerin ins Publikum, und sagt damit schon alles, was diese Formation beabsichtigt. Es ist die Umwertung der Werte mit musikalischen, sprachlichen, gestischen und filmischen Mitteln bis zur Schmerzgrenze. Texte werden in chorischen Anordnungen zerrissen, in ihre Einzelteile zerlegt. Einzelne Worte werden hervorgehoben, wie „Great Job“, „Watch“, „We climb it“, "We our people" etc. Andere in ihre Buchstaben aufgeteilt, wieder andere zu ganzen Sätzen zusammengefügt. Ein undurchschaubares, scheinbar unverständliches Konglomerat an Aussagen und Meinungen, das in rhythmischer, packend spannender Aufeinanderfolge mal im Chor, mal Solo, mal in Gruppen vorgetragen wird. Unglaublich dynamisch, pochend, erregend, aggressiv, mitreißend und trotz der Unverständlichkeit der Zusammenhänge absolut nachvollziehbar. Das Lachen konnte da einem endgültig vergehen. Der Vorgang verletzte Gemüt und Sinne und ließ ins Grübeln kommen.

SCENATET-Ensemble for art & music

Eine bitterböse Parabel

Ein leises weißes Rauschen, ein Reiben auf den Saiten der Streichinstrumente, ein tonloses Blasen leitete den Schluss der Performance ein. Elektronisch erzeugte Unterwassergeräusche, wie Glucksen, Blasenplatzen und ohrenverschließendes Tiefengeblubber versetzten den Saal in ein Aquarium mit lebenden und Spielzeug Zierfischen. Heile Unter-Welt der Mechanik und Natur, digitale Technik (Videos) und virtuelles Leben (Pflanzen und Fische in den Aquarien). 

Eine Mauer wird aufgebaut. Das Leben unter Wasser ergänzt sich durch zwei Personen, ein Mann und eine Frau. Sie üben getrennt voneinander einen Square Dance. Ihr modischer Look ist der Country-Stile des amerikanischen Westens. Die Mauer erweitert sich und wird sukzessive zu einem sozioökonomischen Kaleidoskop der US-amerikanischen Gesellschaft: zwischen spießig und postmodern, zwischen gestern und heute, zwischen Rückschritt und Fortschritt. Die Wand entwickelt sich zu Hunderten kleiner Videospots, unterlegt mit kollagierter Musik, schräg, fragmentiert, flächig, aber aufregend. Was ist Realität, was Fiktion? Was ist echt, was künstlich? Irritation pur.

Die Fragen scheinen sich zu klären, denn das Gebilde wandelt sich zu schwarz-weiß, eine Retro-Bewegung zurück in alte Zeiten. Die goldenen Zwanziger mit den dicken Steaks und den riesigen Aquarien als Sinnbild der wirklichen Natur. Die Musik wird romantisch, es trieft vor Innerlichkeit und Gefühl. Aber irgendetwas stimmt nicht: Die jetzt weiße Mauer bricht, ein irisierender Lichtkegel lässt ausbrechende Zierfische sichtbar werden. Riesige mit Gas gefüllte Fische fliegen über die Bühne, werden von fünf Frauen in die Freiheit entlassen. Dazu rufen sie ins Publikum: „We all are loving you!“

Der Traum eines jeden Kindes, einmal einen riesigen aufblasbaren bunten Fisch von der Kirmes mit nachhause zu bringen. So auch der spontane Wunsch einiger Leute aus dem Publikum. Wer nun ist der Gewinner? Wer sind die Nice Guys? Wer sind die netten Kerle?
Nice Guys win twice ist eine bitterböse Parabel auf die Postmoderne, die amerikanische Gesellschaft als Vorbild der westlichen Welt und als Vorbote der möglichen Apokalypse. Gewinner ist die echte, erste Natur, denn wir alle sind nur kleine Fische im riesigen Ozean des Kosmos. Da ist unsere eigene, von uns produzierte Realität, ob Fake oder nicht, völlig außen vor.

Eine großartige, sehr politische und gelungene Uraufführung. Eine musiktheatralische Bereicherung der diesjährigen Ferienkurse

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