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Internationale Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, 14.07. bis 28.07. 2018:
Found Footage, Live-Musik für Peter Tscherkasskys Cinemascope
Trilogy: L´Arrivée (1997/98), Dream Work (2001) und Outer Space (1999), Uraufführung,
Centralstation Darmstadt, 20.07.2018
Ensemble Nikel in Filmszene aus Dream Work (Fotos: Kristof Lemp) |
Ein Traum vom Hören und Sehen
Es ist eine Musik, die alle Sinne berührt, ja in Mitleidenschaft zieht. Und das zu handgemachten (handmade) Filmen, so der Österreicher Peter Tscherkassky (*1958), die aus herkömmlichem Material durch Schneiden, Neu-Zusammensetzen, Kopieren und ganze eigenen Belichtungsprozessen ungewöhnlich spannende Arrangements, visuelle Erlebnisse und eigenen Geschichten kreieren. Tscherkassky hat sich den Satz des Komponisten Luciano Berios zu eigen gemacht, der während einer Vorlesungsreihe in Harvard/USA im Jahre 1993-94 einmal gesagt haben soll: „We should look at music, and listen to theatre.“ (frei übersetzt: Wir sollten zur Musik schauen, und ein Theater hören.) Für ihn sei es ein Credo, die visuellen Aspekte der Musik akustisch umzusetzen und umgekehrt. Visuelles und Akustisches, Bilder und Töne seien für ihn essentiell und nicht voneinander zu trennen.
Sein gefundenes Filmmaterial, so der Titel des
Abends auf Deutsch, bestand aus sehr verdichteten, extrem komprimierten,
übereinander geschichteten, grell belichteten Szenen, die Realität und Fiktion,
Traum und Wahrnehmung miteinander verschmolzen. Dazu komponierten bzw.
arrangierten vier junge Komponisten zu den einzelnen Filmsequenzen passende
Musiken – extra für das Ensemble Nikel
geschaffen –, die musikalisch durch die filmische Trilogie führten: Sandra Wuan-chin Li und Ekaterina Steppe für die beiden L´Arrivées (1997/98), Simon Løffler für Dream Work (2001) und Clara
Ianotta für Outer Space (1999).
Die jeweils zweiminütigen Arrivées fungierten quasi als Vorspiel zu den Hauptfilmen. Für Dream Work bestand es im Wesentlichen aus
elektronisch eingespieltem weißem Rauschen, während zunächst weiße Filmrollen
abliefen, dann ein britischer Bahnhof mit einer einfahrenden Lokomotive
sichtbar wurde. Heraus stieg die junge Catherine Deneuve und umarmte ihren
nicht erkennbaren Geliebten. Das war´s. Traum? Realität? Ein wunderbarer Moment
zwischen Geschäftigkeit und stressigem Lärm?
Jedenfalls bekam das Geschehen mit dem Hauptfilm
eine albtraumhafte Note. Die vier Musiker vom Ensemble Nikel (Yaron
Deutsch, Patrick Stadler, Brian Archinal und Antoine Françoise) bearbeiteten mit verlängerten Fingern, bestehend
aus dünnen biegsamen Stäben, diverse Zimbeln, Hölzer, Bänder und Reiben und
bedienten allerlei elektronisches Klangmaterial. Sogar ihre Schläfen waren mit
Krepp beklebt und elektronisch gekoppelt, sodass ein insgesamt eigentümlich-enigmatisches
Klang- und Rhythmusgewitter zu traumatischen Bildern entstand.
Eine Frau scheint zu schlafen. Doch der Raum füllt
sich mit Menschen, Gesichter verschwimmen ineinander, lösen sich auf und
versetzen die Schlafende in Angst und Schrecken. Sie öffnet die Augen. Aber ist
sie wach? Ein wahrer Hitchcock läuft da ab. Eine „Dream Maschine“, ein sich in
heftigen Drehungen rhythmisch bewegendes Ungetüm, tut ihr Übriges. Sie ist
sozusagen Taktgeber dieser Filmsequenz, den die vier Poltergeister mit größter
Empathie bedienen. Hier gibt es nichts zu deuteln: Einen Traum wie diesen
möchte man Niemandem wünschen. Er führt unweigerlich zum Wahnsinn.
Ensemble Nikel in Filmszene aus Outer Space |
Musiker werden zu Akteuren des Films
Das Vorspiel zum zweiten Hauptfilm war identisch,
nur die Musik dazu stammte von Wolfgang Amadeus Mozart und war aus seinem Requiem (1791) entnommen: Das Lacrimosa mit Chor und elektronischen
Verzerrungen. Ein Kontrast, der im folgenden Outer Space seinen Sinn bekommen sollte.
Dieser Film bewegt sich auf der Schwelle des Todes.
Eine Frau betritt ein Haus. Es ist dunkle Nacht. Im Haus ist ebenfalls eine Frau.
Kennen sie sich? Sehen sie nicht gleich aus? Es kommt zum Kampf.
Schmerzverzerrte Gesichter. Zum Schluss drei Gesichter ein und derselben Frau.
Hat sie mehrere Identitäten? Kämpft sie gegen sich selbst? Die Musik dazu ist
phänomenal. E-Gitarre, Snare Drums, Basssaxophon, Reiben, Ratschen und
Geräuschmacher, wie Megaphon und Synthesizer, vermischen Visuelles und
Akustisches derart, dass selbst die Musiker Teil der Filmhandlung zu werden
scheinen. Hören und Sehen sind nicht mehr auseinanderzuhalten, Instrumentalisten
und Schauspieler ebenfalls nicht mehr. Jammerndes Geflimmer der Instrumentalisten zu den drei
Gesichtern der Frau im Finale lässt einen an der der eigenen Identität
zweifeln.
Es ist zwar nicht unbedingt neu, dass Musik mit
Bildern und Bewegung verwoben wird und sich viele, vielleicht die meisten
Menschen beim Hören von Musik Bilder vorstellen. Aber was hier Peter
Tscherkassky, die vier KomponistInnen und das Ensemble Nikel daraus gemacht haben, ist einmalig und sollte Schule
machen. Die von den Darmstädter
Ferienkursen in Auftrag gegebene und von den Partnern des Ulysses-Netzwerks unterstützte
Produktion gehört zu den bisher innovativsten und avantgardistischsten
Veranstaltungen der diesjährigen Ferienkurse, wobei das Ensemble Nikel durch musikalische und instrumentale Vielseitigkeit sowie
beeindruckende Interpretationen sein Übriges beiträgt.
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