Montag, 20. August 2018


Rheingau Musik Festival 2018

Leonard Bernstein: Anniversaries, ein literarisch-musikalischer Abend mit Jamie Bernstein (Rezitation) und Sebastian Knauer (Klavier), Schloss Johannisberg, 19.08.2018


Jamie Bernstein und Sebastian Knauer (Foto: Ansgar Klostermann)

Ein ganz persönlicher Abend zum 100. Geburtstag Leonard Bernsteins


Die Anniversaries sind Erinnerungen an Freunde, Familienmitgliedern, Persönlichkeiten und Fans, die Leonard Bernstein (1918-1990) zwischen 1943 und 1988 entstehen ließ und ein charakterliches Bild seiner Persönlichkeit, seiner persönlichen Entwicklung und seinem Verhältnis zu anderen Menschen musikalisch zum Ausdruck bringt. Und wer könnte für ihre Präsentation und Erläuterung nicht besser geeignet sein als seine älteste Tochter Jamie Bernstein (*1952). Zum 100.Geburtstag ihre Vaters führte sie unprätentiös, charmant und detailreich durch den vollständigen Klavierzyklus, reich bebildert mit interessanten Fotos aus dem Familienarchiv sowie durchdacht und einfühlsam auf dem Flügel begleitet von Sebastian Knauer (*1971).


Unterteilt sind Anniversaries in vier Zyklen: 1943, 1948, 149-51 und 1988, mit insgesamt 29 Charakterstücken. Immer sind es kleine Skizzen (viele dauern kaum ein Minute), die Bernstein in abendlichen Stunden entstehen ließ, quasi als Reminiszenz seines Arbeitstages und seiner speziellen Erlebnisse und Erinnerungen. Da sind beispielsweise seine Schwester Shirley, der er ein launenhaftes, rastloses Stückchen widmet, Sergei und Nathalie Koussevitzky, die seine Karriere initiierten und ihn, in Freundschaft verbunden, lebenslang begleiteten, denen er ein strenges und bedeutsames Gedenken widmet. 

Ein melancholisches, voller Liebe und Zuneigung verfasstes Stück widmet er seiner Frau Felicia Montealegre, von der er, so Jamie Bernstein, behauptete, er habe sie vor allem deshalb geheiratet, weil es mit ihr nie langweilig wurde. Sie starb 1978 an Krebs. 
Ein musikalisches Geburtstagsgeschenk an den Jazzpianisten Johnny Mehegan. Ein etwas altmodisch und schnippiges, aber klar strukturiertes Erinnerungsstück an seine hoch geschätzte Klavierlehrerin, Helen Coates, die Bernstein ab 1944 zu seiner Sekretärin machte. Krachende Akkorde, die das Stück rahmten, sollten ihn immer daran erinnern, wach und geschäftig zu sein und niemals nachzulassen. Coates, der er noch ein zweites Erinnerungsstück widmet, war Zeit ihres Lebens eine enge Begleiterin Bernsteins und sorgte vor allem für Ordnung und Struktur in seinem schwankenden und rastlosen Leben.

Vor allem seine letzten dreizehn  Anniversaries (1988), zwei Jahre vor seinem Tod, widmete er Personen, die seine letzte Lebensphase prägten. Darunter seine intensive Freundschaft zu Shirley Gabis Rhoads Perle, die Bernstein als 20-Jährige einen Brief schrieb, in dem sie ihn provokativ fragte, ob er ein berühmter Dilettant werden wolle, der überall mitmischt, oder ein ernsthafte Komponist und Musiker. Eine Anspielung auf Bernsteins Gefallsucht und seinem Ehrgeiz, so Jamie Bernstein, überall der Beste sein zu wollen. 
Da ist Aaron Stern, Bernsteins intimer Freund (nach dem frühen Tod seiner Frau Felicia, 1978), dem er ein heiteres Stückchen widmet, der aber seine Kinder „sehr verwirrte“. Oder auch, und das wirft ein erhellendes Licht auf Bernsteins Persönlichkeit, ein Memoriam an Ellen Goetz, eine nette Dame, so die Erzählerin, die Bernstein auf allen Konzerten als Fan begleitete und regelmäßig Kontakt mit ihm aufnahm. „Ich brauche immer Menschen um mich herum“, beteuerte Bernstein, „ansonsten werde ich depressiv.“ 
Jamie Bernstein zeigte ein Foto mit ihrem Vater am Flügel und darum  eine Menge begeisterter Fans. Ihr Kommentar: „Dieses letzte Stück der dreizehn Anniversaries für Ellen Goetz ist ein absolutes Liebeslied, an alle gerichtet, die Leonard Bernsteins Musik lieben.“ Sebastian Knauer spielte einen langsamen Walzer, voller Poesie und lieblicher Melodie. Ein Ausklang mit Herz und Seele.

Sebastian Knauer und Jamie Bernstein, auf dem Video: Leonard Bernstein (Bildmitte) mit Fans (Foto: Ansgar Klostermann)

Bernsteins musikalische Vorbilder


Der zweite Teil des Abends war vor allem Bernsteins Freunden Aaron Copland (1900-1990), Four Piano Blues (1926-1948) und George Gershwin (1898-1937), Rhapsody in Blue (1924) gewidmet. Dazwischen  hörte man noch Auszüge aus Bernsteins West Side Story.
Copland wie Gershwin gehörten zu seinen großen Vorbildern. Mit beiden war er befreundet. Coplands erweiterte Tonalität, sein greller, scharfer, dissonanter neoklassizistischer Klang reizte Bernstein ebenso, wie Gershwins Stilmix, zwischen afroamerikanischem Blues, modernem Jazz und europäischer Klassik.

In Four Piano Blues lässt Copland vier seiner befreundeten  Pianisten zu Wort kommen: Leo Smit (1900-1943), Andor Foldes (1913-19929, William Kapell (1922-1953) und John Kirkpatrick (1905-1991). Es handelt sich dabei sowohl um Extraktionen aus seinem Klavierkonzert (1927), als auch melodische Vorlagen für sein Klarinettenkonzert (1948). Im Blues Stil verfasst charakterisiert das viersätzige Set  seine Widmungsträger zwischen frei poetisch (Smit), weich und matt (Foldes), gedämpft und sinnlich (Kapell) und prall und enthusiastisch (Kirkpatrick). Knauer lief hier zur Hochform auf. Diese Stücke, die nie uraufgeführt wurden, schienen ihm besonders zu liegen.

Vier Broadway-Klassiker aus Bernsteins West Side Story (1957), nämlich Tonight, Maria, I feel pretty und Somewhere, empathisch, mit viel Ausdruck gespielt, leiteten den pianistischen Höhepunkt des Abends ein: Gershwins Rhapsody in Blue. Die Idee dazu stammte vom weltbekannten Bigband Leader und Freund Gershwins, Paul Whiteman (1890-1967), und nahm musikalische Gestalt auf einer Eisenbahnfahrt nach Boston an. Dazu der Komponist selbst: „Ich hörte sie gleichsam als musikalisches Kaleidoskop Amerikas – unseres ungeheuren Schmelztiegels, unseres unvergleichlichen nationalen Pep, unseres Blues, unserer städtischen Unrast.“ Womit alles gesagt ist.

Eine Klavier-Rhapsodie mit ausgeprägter Fingerakrobatik und jazziger Lockerheit. Eine Mischung aus afroamerikanischer Rhythmen und ernster europäischer Stilistik. Die Uraufführung am 12. Februar 1924 in der New Yorker Aeolin Hall geriet zur Sensation. Sergei Rachmaninow, Igor Strawinsky, Jascha Heifetz und Fritz Kreisler gehörten zum erlesenen Kreis des Publikums und waren, wie alle anderen auch, restlos begeistert von der Musik wie auch vom furiosen Klavierspiel des Komponisten. Die Rhapsody in Blue gilt seit dieser Zeit als die Geburtsstunde der amerikanischen Musik. Nicht von ungefähr wollte Gershwin sein Werk zunächst American Rhapsody nennen.

Ohne Orchester, spielte Knauer dieses Werk in Gershwins Klavier-Solo-Fassung, mit eingearbeitetem Orchesterpart, bravourös, mit der Lebendigkeit und Vitalität eines Amerika, wie man es sich in den 1920er Jahren gut vorstellen konnte. Rasend schnell, nervös bis in die Haarspitzen, gewaltig wie ein Wasserfall und schwärmerisch verliebt wie zwei Teenager, kreierte der Pianist, man möge ihm einige Patzer verzeihen, dieses 15-minütige, vor sprudelnden Ideen strotzende Werk, wie es sich Gershwin vorgestellt hätte. Standing Ovations des vollbesetzten Fürst-von-Metternich Saals waren ihm sicher.

Mit Summertime aus Gershwins Oper Porgy and Bess (1935) verabschiedete sich das kongeniale, sympathische Paar, Jamie Bernstein und Sebastian Knauer, und entließ das begeisterte Publikum in die laue Sommernacht.


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