Rheingau Musik Festival 2018
Leonard Bernstein: Anniversaries, ein literarisch-musikalischer Abend mit Jamie
Bernstein (Rezitation) und Sebastian Knauer (Klavier), Schloss Johannisberg,
19.08.2018
Jamie Bernstein und Sebastian Knauer (Foto: Ansgar Klostermann) |
Ein ganz persönlicher Abend zum 100. Geburtstag Leonard Bernsteins
Die Anniversaries sind Erinnerungen an Freunde, Familienmitgliedern, Persönlichkeiten und Fans, die Leonard Bernstein (1918-1990) zwischen 1943 und 1988 entstehen ließ und ein charakterliches Bild seiner Persönlichkeit, seiner persönlichen Entwicklung und seinem Verhältnis zu anderen Menschen musikalisch zum Ausdruck bringt. Und wer könnte für ihre Präsentation und Erläuterung nicht besser geeignet sein als seine älteste Tochter Jamie Bernstein (*1952). Zum 100.Geburtstag ihre Vaters führte sie unprätentiös, charmant und detailreich durch den vollständigen Klavierzyklus, reich bebildert mit interessanten Fotos aus dem Familienarchiv sowie durchdacht und einfühlsam auf dem Flügel begleitet von Sebastian Knauer (*1971).
Unterteilt sind Anniversaries
in vier Zyklen: 1943, 1948, 149-51 und 1988, mit insgesamt 29 Charakterstücken.
Immer sind es kleine Skizzen (viele dauern kaum ein Minute), die Bernstein in
abendlichen Stunden entstehen ließ, quasi als Reminiszenz seines Arbeitstages
und seiner speziellen Erlebnisse und Erinnerungen. Da sind beispielsweise seine
Schwester Shirley, der er ein launenhaftes, rastloses Stückchen widmet, Sergei
und Nathalie Koussevitzky, die seine Karriere initiierten und ihn, in
Freundschaft verbunden, lebenslang begleiteten, denen er ein strenges und
bedeutsames Gedenken widmet.
Ein melancholisches, voller Liebe und Zuneigung verfasstes
Stück widmet er seiner Frau Felicia Montealegre, von der er, so Jamie
Bernstein, behauptete, er habe sie vor allem deshalb geheiratet, weil es mit
ihr nie langweilig wurde. Sie starb 1978 an Krebs.
Ein musikalisches Geburtstagsgeschenk
an den Jazzpianisten Johnny Mehegan. Ein
etwas altmodisch und schnippiges, aber klar strukturiertes Erinnerungsstück an
seine hoch geschätzte Klavierlehrerin, Helen Coates, die Bernstein ab 1944 zu
seiner Sekretärin machte. Krachende Akkorde, die das Stück rahmten, sollten ihn
immer daran erinnern, wach und geschäftig zu sein und niemals nachzulassen. Coates,
der er noch ein zweites Erinnerungsstück widmet, war Zeit ihres Lebens eine
enge Begleiterin Bernsteins und sorgte vor allem für Ordnung und Struktur in
seinem schwankenden und rastlosen Leben.
Vor allem seine letzten dreizehn Anniversaries
(1988), zwei Jahre vor seinem Tod, widmete er Personen, die seine letzte
Lebensphase prägten. Darunter seine intensive Freundschaft zu Shirley Gabis
Rhoads Perle, die Bernstein als 20-Jährige einen Brief schrieb, in dem sie ihn
provokativ fragte, ob er ein berühmter Dilettant werden wolle, der überall
mitmischt, oder ein ernsthafte Komponist und Musiker. Eine Anspielung auf
Bernsteins Gefallsucht und seinem Ehrgeiz, so Jamie Bernstein, überall der Beste
sein zu wollen.
Da ist Aaron Stern, Bernsteins intimer Freund (nach dem frühen
Tod seiner Frau Felicia, 1978), dem er ein heiteres Stückchen widmet, der aber
seine Kinder „sehr verwirrte“. Oder auch, und das wirft ein erhellendes Licht
auf Bernsteins Persönlichkeit, ein Memoriam an Ellen Goetz, eine nette Dame, so
die Erzählerin, die Bernstein auf allen Konzerten als Fan begleitete und
regelmäßig Kontakt mit ihm aufnahm. „Ich brauche immer Menschen um mich herum“,
beteuerte Bernstein, „ansonsten werde ich depressiv.“
Jamie Bernstein zeigte ein
Foto mit ihrem Vater am Flügel und darum eine Menge begeisterter Fans. Ihr Kommentar: „Dieses
letzte Stück der dreizehn Anniversaries
für Ellen Goetz ist ein absolutes Liebeslied, an alle gerichtet, die Leonard
Bernsteins Musik lieben.“ Sebastian Knauer spielte einen langsamen Walzer,
voller Poesie und lieblicher Melodie. Ein Ausklang mit Herz und Seele.
Sebastian Knauer und Jamie Bernstein, auf dem Video: Leonard Bernstein (Bildmitte) mit Fans (Foto: Ansgar Klostermann) |
Bernsteins musikalische Vorbilder
Der zweite Teil des Abends war vor allem Bernsteins
Freunden Aaron Copland (1900-1990), Four
Piano Blues (1926-1948) und George Gershwin (1898-1937), Rhapsody in Blue (1924) gewidmet.
Dazwischen hörte man noch Auszüge aus
Bernsteins West Side Story.
Copland wie Gershwin gehörten zu seinen großen
Vorbildern. Mit beiden war er befreundet. Coplands erweiterte
Tonalität, sein greller, scharfer, dissonanter neoklassizistischer Klang reizte
Bernstein ebenso, wie Gershwins Stilmix, zwischen afroamerikanischem Blues,
modernem Jazz und europäischer Klassik.
In Four Piano
Blues lässt Copland vier seiner befreundeten Pianisten zu Wort kommen: Leo Smit (1900-1943),
Andor Foldes (1913-19929, William Kapell (1922-1953) und John Kirkpatrick
(1905-1991). Es handelt sich dabei sowohl um Extraktionen aus seinem Klavierkonzert (1927), als auch
melodische Vorlagen für sein Klarinettenkonzert
(1948). Im Blues Stil verfasst charakterisiert das viersätzige Set seine Widmungsträger zwischen frei poetisch
(Smit), weich und matt (Foldes), gedämpft und sinnlich (Kapell) und prall und
enthusiastisch (Kirkpatrick). Knauer lief hier zur Hochform auf. Diese Stücke,
die nie uraufgeführt wurden, schienen ihm besonders zu liegen.
Vier Broadway-Klassiker aus Bernsteins West Side Story (1957), nämlich Tonight, Maria, I feel pretty und Somewhere, empathisch, mit viel Ausdruck gespielt, leiteten den pianistischen Höhepunkt des Abends ein: Gershwins Rhapsody in Blue. Die Idee dazu stammte
vom weltbekannten Bigband Leader und Freund Gershwins, Paul Whiteman (1890-1967),
und nahm musikalische Gestalt auf einer Eisenbahnfahrt nach Boston an. Dazu der
Komponist selbst: „Ich hörte sie gleichsam als musikalisches Kaleidoskop
Amerikas – unseres ungeheuren Schmelztiegels, unseres unvergleichlichen
nationalen Pep, unseres Blues, unserer städtischen Unrast.“ Womit alles gesagt
ist.
Eine Klavier-Rhapsodie mit ausgeprägter
Fingerakrobatik und jazziger Lockerheit. Eine Mischung aus afroamerikanischer
Rhythmen und ernster europäischer Stilistik. Die Uraufführung am 12. Februar
1924 in der New Yorker Aeolin Hall geriet zur Sensation. Sergei Rachmaninow,
Igor Strawinsky, Jascha Heifetz und Fritz Kreisler gehörten zum erlesenen Kreis
des Publikums und waren, wie alle anderen auch, restlos begeistert von der
Musik wie auch vom furiosen Klavierspiel des Komponisten. Die Rhapsody in Blue gilt seit dieser Zeit
als die Geburtsstunde der amerikanischen Musik. Nicht von ungefähr wollte
Gershwin sein Werk zunächst American
Rhapsody nennen.
Ohne Orchester, spielte Knauer dieses Werk in Gershwins
Klavier-Solo-Fassung, mit eingearbeitetem Orchesterpart, bravourös, mit
der Lebendigkeit und Vitalität eines Amerika, wie man es sich in den 1920er
Jahren gut vorstellen konnte. Rasend schnell, nervös bis in die Haarspitzen,
gewaltig wie ein Wasserfall und schwärmerisch verliebt wie zwei Teenager,
kreierte der Pianist, man möge ihm einige Patzer verzeihen, dieses 15-minütige,
vor sprudelnden Ideen strotzende Werk, wie es sich Gershwin vorgestellt hätte.
Standing Ovations des vollbesetzten Fürst-von-Metternich Saals waren ihm
sicher.
Mit Summertime
aus Gershwins Oper Porgy and Bess (1935) verabschiedete sich das kongeniale,
sympathische Paar, Jamie Bernstein und Sebastian Knauer, und entließ das
begeisterte Publikum in die laue Sommernacht.
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