Freitag, 3. August 2018


Rheingau Musik Festival 2018

Gabriela Montero (Klavier) und The Orchestra of the Americas (Leitung: Carlos Miguel Prieto), Friedrich-von-Thiersch-Saal, Wiesbaden, 02.08.2018


Gabriela Montero, Carlos Miguel Pietro, Mitglieder des The Orchestra of the Americas (Foto: Ansgar Klostermann) 


Spontaneität und panamerikanisches Flair


Spontaneität und panamerikanisches Flair sollten den roten Faden durch das ganz besondere Konzert dieses Abends bilden, so meinte es zumindest die Konzertdramaturgin, Ilona Schneider, in ihrer Konzerteinführung, womit sie recht behielt. Ein Orchester, überwiegend zusammengesetzt aus jungen Musikern des gesamten amerikanischen Kontinents (keiner älter als dreißig), ein musikalischer Leiter, Carlo Miguel Prieto, aus Mexiko stammend, eine Pianistin, Gabriela Montero, aus Venezuela und Kompositionen, die das gesamte Spektrum panamerikanischer Musikkultur abdeckte: Heitor Villa-Lobos (1887-1959), ein Brasilianer, mit Bachianas Brasileiras für Orchester Nr. 2 W 247 (1930), Gabriela Montero (*1970), wie gesagt Venezolanerin, mit Latin Concerto für Klavier und Orchester (2016) und, im Jahre seines 100. Geburtstags, Leonard Bernstein (1918-1990), ein US-Amerikaner, mit Sinfonie Nr. 2 „The Age of Anxiety“ (1947-49). Also das gesamte Spektrum vom Süden bis zum Norden des drittgrößten Kontinents auf diesem Globus.


Villa-Lobos´ Bachianas Nr. 2, eine viersätzige Suite im Stile der französischen Suiten von Johann Sebastian Bach, zeigte einerseits seine starke Affinität zur europäischen Musik, ihren Formstrukturen, ihrer Polyphonie sowie Kontrapunktik. Andererseits inspirierten Villa-Lobos vor allem die Komponisten der 1920er Jahre (er verweilte 1923/24 in Paris), darunter Igor Strawinsky, Darius Milhaud, Artur Honegger, Eric Satie sowie das Ballets Russes unter Sergei Diaghilev, zu ganz eigenen Ausformungen seiner Musik. Vor allem das brasilianische Liedgut, die Modinha, aber auch der typisch brasilianische Stil des Choro kommen darin zu ihrem Recht. Er verbindet mit seinen Bachianas (er schrieb zwischen 1930 und 1945 insgesamt neun davon) in einzigartiger Weise brasilianische Folklore mit deutschem Barock, europäischer Romantik, französischem Impressionismus sowie des Neoklassizismus der 1920er Jahre.

Das knapp 80-köpfige Orchester brillierte hier bereits durch südamerikanisches Kolorit, perfekte Rhythmik und ausgeprägte Soloeinlagen von Violoncello (Aria), Saxophon und Posaune (Préludio, Danse) sowie den vier Perkussionisten (Toccata). Die ungewöhnliche instrumentale Besetzung versetzte darüber hinaus den vollbesetzten Saal in ein Farbenmeer, das von fremden Ländern und Kulturen träumen ließ.

Dann kam Gabriela Montero. In schwarzer Hose und dunkelblauer Stola schien sie zunächst nachdenklich über die Tasten des Flügels zu streichen. Ein simples achttaktiges Thema leitete ihr Latin Concerto ein, gedankenverloren, sinnierend, um dann explosiv in ein Seitenthema überzuleiten, unvermittelt, abrupt, höchst virtuos.

Montero orientiert sich in ihrem dreiteiligen Konzert im Wesentlichen an der bekannten Konzerttradition, dem Sonatenhauptsatz, dem liedhaften Andante des zweiten Satzes in der ABA-Form sowie dem Rondo ähnlichen Schlusssatz im Allegro. Dennoch ist dieses Werk, das sie 2016 in Leipzig uraufführte, eine ganz eigene Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, ihren musikalischen Erfahrungen sowie ihrer Rolle als Musikerin und Venezolanerin, als Südamerikanerin und Weltbürgerin. Nicht von ungefähr trug sie als Anhänger einer Kette die Venezolanische Flagge. 

Montero besitzt eine phänomenale Technik, ein südamerikanisches Rhythmusgefühl wie keine Zweite und eine gewaltige pianistische Physis. Ihr Werk ist eine einzige virtuose und rhythmische Herausforderung, von großer improvisatorischer Kraft und Spontaneität. Das Konzert, möchte man sagen, ist sie selbst, es ist eine autobiographische Studie und möglicherweise ein Fazit ihrer ganz individuellen Geschichte. Ja, sie möchte ihre eigene Geschichte erzählen und sie kosmopolitisch in Musiksprache übersetzen. Dabei ist ihre musikalische Sprache verständlich, modern und vom Tanz besessen. Sie ist das Ausdrucksmittel ihrer Gefühle, ihrer Stimmung und nicht zuletzt ihrer Haltung zu den Dingen, die um sie herum geschehen.

Montero schuf mit ihrem Latin Concerto einen dreißig-minütigen empathischen Einblick in ihr innerstes Wesen. Dazu begleitete sie ein Orchester, wie es sich nicht besser finden könnte. Eine Partitur voller Extreme und ausgefallener synkopischer Sequenzen, die die InstrumentalistInnen mit Leichtigkeit und panamerikanischer Bravour und Spontaneität bewältigten, wenngleich das insgesamt souveräne Dirigat von Daniel Miguel Prieto das Temperament des Klangkörpers kaum zügeln konnte. Vor allem im Schlusssatz, dem Allegro Venezolano, mit landesspezifischer Folklore, musikalischen Bezügen zu Leonard Bernsteins West-Side-Story, mit viel Perkussion und drängender Rhythmik, war nicht immer klar, wer jetzt das Heft übernahm: das Orchester oder die Pianistin. Das stürmische Tremolo im Finale zumindest versetzte den gesamten Saal in einen Taumel von Rhythmus und Lautstärke, wobei Klavier- und Orchesterklang bedingungslos miteinander verschmolzen.


Carlos Miguel Prieto, Kristina Miller (Flügel), The Orchestra of the Americas (Foto: Sabine Siemon)

Zwischen Menschlichkeit, purer Lebensfreude und politischer Musik


Wie immer fordert Montero das Publikum auf, Lieder zu singen, nach denen sie improvisieren wollte. „O Sole Mio“, rief es spontan mit sonorem Bariton in den Saal, und sogleich legte sie los. Wie immer suchte sie ein kleines Motiv aus, kontrapunktierte es und wechselte in einen variativen Modus über. Das Ganze kumulierte in einen Ragtime à la Scott Joplin mit gewaltiger orchestraler Dichte und einem finalen Paukenschlag. Das Publikum tobte. Ungewöhnlich ihre zweite Zugabe, eine Improvisation zu lateinamerikanischen Tänzen wie Mambo, Bolero, Salsa etc., mit perkussiver Begleitung: Eine Aufforderung zum Tanz, wenn es denn Platz und Gelegenheit dazu gegeben hätte. Montero zeigte sich als Südamerikanerin durch und durch, wobei ihr The Orchestra of the Americas in allen Belangen entgegenkam. Eine Mischung, die besser nicht sein konnte.

Leonard Bernsteins Sinfonie Nr. 2 „The Age of Anxiety“ (1949 in Boston uraufgeführt) kontrastierte die pure Lebensfreude des Ersten Teils.

Entstanden in der McCarthy-Ära, den dunklen Jahren der US-amerikanischen Nachkriegszeit, der Verfolgung Andersdenkender und der radikalen Eingriffe in Freiheit und Demokratie der US-Bürgerschaft, komponierte er dieses 35-minütige Werk nach einem gleichnamigen Gedicht von Wystan H. Auden (1907-1973), das ihm, als er es erstmals las, „den Atem raubte“. Es sollte zur Grundlage einer musikalischen Anklage an die politischen Geschehnisse seines Heimatlandes werden.
Eine sinfonische Dichtung als „Grabgesang“ auf die verlorenen Tugenden eines sich selbst aufgegebenen Volkes, hier repräsentiert von vier Menschen, die nur noch der Alkohol und womöglich der Sex zusammenhalten.

Über einen Prolog, voll Trauer und Seufzermotivik lässt Bernstein in 15 Variationen Die sieben Zeitalter und Die sieben Stufen der Zeit vorüberziehen. In einem zweiten Teil, einem Trauergesang, in Zwölftontechnik geschrieben, ohne musikalisches Zentrum und extrem dissonant, einem Maskenspiel, expressiv, prestissimo, rauschhaft und obsessiv, und einem Epilog, ein Choral gleichsam einem hymnischen Chor nachempfunden, hinterlässt Bernstein ein dichterisches Manifest gegen Krieg, Verfolgung und Unterdrückung.

Diese Sinfonie ist durchaus auch als Klavierkonzert zu bezeichnen, denn ein Klavierpart, überragend interpretiert von der jungen Russin Kristina Miller, zieht sich durch das gesamte Werk und wurde von Bernstein selbst bei der Uraufführung 1949 mit dem Boston Symphony Orchestra (Leitung Sergei Kussewizki) gespielt. Bernstein fühlte sich immer als politischer Musiker und die Sinfonie Nr. 2, so er selbst, sei autobiographischer Ausdruck seiner damaligen Gemütsverfassung. Ein beeindruckendes, mitunter bedrückendes Werk, das die jungen Instrumentalisten mit großer Hingabe und tiefer Durchdringung der dichterischen Aussage vorzutragen wussten.

Demonstration der panamerikanischen Vielfalt des Orchesters (Foto: Sabine Siemon)

Zwei kontrastreiche Konzerthälften zeigten die große Bandbreite der Musik aus dem amerikanischen Kontinent und hinterließen einen nachhaltigen amerikanischen Sound von sprühender Lust bis zu tiefer Enttäuschung, von jazzigen Rhythmen bis zur Kontrapunktik, von Folkloristik bis zur Moderne. Ein ganz spezielles Hörerlebnis in die Musik des amerikanischen Kontinents.


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