Donnerstag, 13. September 2018


Lost Highway (2003), Musiktheater nach dem Drehbuch zum gleichnamigen Film von David Lynch und Barry Gifford, von Olga Neuwirth (*1968), Deutsche Erstaufführung und Premiere am Bockenheimer Depot Frankfurt, 12.09.2018


oben v.l.n.r.: Elizabeth Reiter (Renee), Jeff Burrell (Fred) alle Frauen, unten: Jeff Burrell (Fred)
Fotos: Monika Rittershaus

"Trau nicht dem, was du siehst!"


Wer den Kultfilm Lost Highway (1997) gesehen hat, der denkt an Horror, Psychothriller, surreale Dekomposition, Halluzination, Wahnsinn und durchaus auch an das sinnfreie Warten auf Godot. Dazu an einen atemberaubenden Soundtrack. Olga Neuwirths (*1968) musiktheatralische Inszenierung (2003) nach dem Drehbuch von David Lynch (*1946) und Barry Gifford (*1946) und dem Libretto von Elfriede Jelinek (*1946) versucht sich an einem musikalischen Schauspiel, das nach ihren eigenen Worten „das Zersplittern, Zerbrechen und Versinken; die vielfältigen Verneinungen, deren Kälte das ästhetische Spannungsfeld bestimmt; die Dimensionen des Phantasmas als Hoffnung; die Macht der Verkleidung, die erst recht zu Missverständnissen führt“, thematisiert und in eine Musikcollage mit Video eingebettet werden soll.


Scheinbar nichts Neues, jedoch unter ihrer Hand ein völlig anderes, ein atmosphärisches Hör- und Seherlebnis, das im Unaussprechlichen den Alptraum, das Warten auf Hoffnungen, die Unerträglichkeit der Macht über einen anderen Menschen in einem ganz neuen musikalischen Licht erfahren lässt.

Worum aber geht es? Eingeteilt in zwei Geschichten (im Film sind es drei) handelt es sich im ersten Teil um den Jazztrompeter Fred Madison (Jeff Burrell, Schauspieler), einem Mann in persönlichen Schwierigkeiten. Er landet im Gefängnis wegen angeblichen Mordes an seiner Frau Renee (Elizabeth Reiter, Sopran). Er wird zum Tode verurteilt und transformiert unter lautem Wehklagen in sein Alter Ego Pete (John Brancy, Bariton), der als gefragter Automechaniker und gut aussehender 24-jähriger potenter Mann, im Gegensatz zu Fred, Erfolg hat und eine große Anziehungskraft auf Frauen ausübt. Eine neue (Liebes)-Geschichte beginnt.

Renee wird ersetzt durch Alice (ebenfalls Elizabeth Reiter), die Freundin von Mr. Eddy (David Moss, Sprachkünstler), einem Gangster und Protagonist unkontrollierter und gewalttätiger Emotionen (eindrucksvoll die Raucherszene zwischen ihm und dem Raucher, gespielt von Jeff Hallmann), der sich als Beschützer oder auch Vaterfigur von Pete aufspielt, in Wirklichkeit aber mittels der Person von Alice die absolute sexuelle und geistige Macht über ihn abstrebt. Hinzu kommt der Mystery Man (Rupert Enticknap, Countertenor), im Film eine Art Mephisto, der die Fäden zieht, hier eher die Figur eines Narren, der die Wirklichkeit sieht (bzw. filmt) und immer dann erscheint, wenn die Realität dominiert. „Trau nicht dem, was du siehst. Das Spiel ist ein anderes“, lautet sein Motto.

Am Ende fließen beide Geschichten wieder zusammen. Pete transformiert wieder zu Fred, nachdem er das perfide Spiel mit ihm (scheinbar) durchschaut hat und als Fred tötet er seinen obszönen Beschützer, Mr. Eddy, indem er ihm die Kehle durchschneidet. Anschließend kehrt Fred in sein Haus zurück und spricht – analog zum Anfang – in die Sprechanlage: „Dick Laurent ist tot!“ (Dick als Synonym von Phallus). Allerdings sitzt er kurz darauf doch wieder im Auto, laut klagend, ein verzweifeltes, ja unerträgliches Angstgeschrei von sich gebend, und – fährt ins Nichts.

v.l.n.r.: Steffen Ahrens (Ensemble Modern), Elizabeth Reiter (Alice), John Brancy (Pete)

Starke atmosphärische Musik bei glatter Handlung


Das Geschehen spielt sich auf der Bühne auf zwei Ebenen ab. Die untere besteht aus einem Green Screen, einem Ort ohne Eigenschaften und Dimensionen. Hier handelt Fred, umsorgt von gesichtslosen 'grünen Männchen', synchron zu den virtuellen Vorgängen auf der oberen Ebene. Sie besteht aus einer kalten, unpersönlichen, im Bauhausstil der 50er Jahre eingerichteten Wohnküche und einem eben solchen Schlafzimmer. (Bühne, Licht und Video: Jason H. Thompson, Kaitlyn Pietras)

Hier dreht sich alles um Freds Frau Renee/alias Alice, die durchweg in Blau gekleidet – die Farbe der Hoffnung oder der Distanz? – auftritt (Kostüme: Doey Lüthi). Im zweiten Teil fällt zunächst die untere Ebene aus. Alle Vorgänge finden auf der virtuellen, oberen Ebene statt.

Erst jetzt wird gesungen oder, wie im Falle von Mr. Eddy, sprachgewaltig deklamiert. Die Szenenabschnitte sind kurz und handlungslogisch in kurze Sequenzen unterteilt. Das gelingt mit geschickter Auf- und Abblende, mit Farben- und Lichtflackern, mit verschiedenen Videoleinwänden und Gazen, mit Orchestereinblendungen und einer perfekten Dreidimensionalität. Mit rasenden Straßenszenen und schnellen Ortswechseln erzeugt die Regie (Yuval Sharon) permanente Bewegung, Ortslosigkeit und einen Zustand der Nicht-Greifbarkeit. Man könnte auch von einer psychogenen Fuge sprechen, von einem Ineinandergreifen von realen und surrealen bzw. virtuellen Welten – Interessanterweise tritt der Mystery Man abschließend in der realen Ebene auf, mit Kamera in der Hand und gibt drei Pistolenschüsse nach oben ab. Ein Ton-Bild-Geflecht, das gleichermaßen ein Bedrohungsszenario aufbauen soll wie eine Atmosphäre der Verstörung und der Phantasmen.

Stark ist die Musik, die vom Ensemble Modern (Leitung: Karsten Januschke) dem Sounddesign und der Live Elektronik (Markus Noisternig, Gilbert Nouno) sowie der Klangregie (Norbert Ommer) geprägt war. Hier zeigten sich die kompositorischen Stärken dieser Musikcollage, man könnte auch von einem Klang-Bildraum-Theater sprechen. 
Noisternig und sein Team haben an dieser Version von Lost Highway zwei Jahre lang gearbeitet. Ihm geht es, eigenen Aussagen zufolge, nicht um Effekte, sondern um die Erweiterung der Stimmen. Außerdem singen die Akteure nicht im eigentlichen Sinne. Die Musik wie der Gesang bestehen vielmehr aus Geräuschen, Geflüster, Vibrato, Hall, Delay- und Modulationsschleifen, Brummen sowie Wortdehnungen, Kehlkopfklängen oder Falsetteinlagen (hervorzuheben die unglaubliche Sprachakrobatik von David Moss als Mr. Eddy/Dick Laurent). Die Elektronik arbeitet vorwiegend mit Stringresonancen, Klangstretching, Surround-Sound-Feldern und elektronischer Verfremdung der Orchesterinstrumente, wobei Zitate bekannter Musicals von Leonard Bernstein und Miles Davis oder auch von David Bowie und Rammstein nicht fehlen.

oben v.l.. David Moss (Mr. Eddy/Dick Laurent), Jeff Burrell (Fred), unten: Rupert Enticknap (Mystery Man)

Musik, Sound, Elektronik, Video und Licht bilden somit eine Einheit und sind vom Geschehen auf der Bühne nicht zu trennen. Noisternig spricht nicht umsonst von einem Gesamtkunstwerk, zumal es nur funktioniert, wenn alle Komponenten, alle Stilmittel ineinander greifen.

In diesem Sinne gebührt der Premiere größte Anerkennung. Was allerdings die Handlung auf der Bühne anbetraf, so darf zumindest die Frage gestellt werden, ob der Film den surrealen und verstörenden Aspekt des Geschehens nicht eindrucksvoller und authentischer vermittelt. Vieles wirkte ein wenig glatt, vor allem die Figur des Mystery Man. Anderes erinnerte an bekannte amerikanische Krimis, wie überhaupt das Surreale der digitalisierten Schein-Welten, aus heutiger Sicht, kaum vermittelt werden konnte und im Vergleich zum Film psychologisch eher trivial wirkte. So kam der zweite Teil vor allem im Handlungsablauf eher wie ein Tatort im TV-Abendprogramm rüber. Das Bedrohlich-Atmosphärische blieb weitgehend auf der Strecke.

Alles in Allem in musiktechnischer und stilistischer Hinsicht eine brillante Komposition, eine perfekte Interpretation vom Ensemble Modern mit außergewöhnlichen schauspielerischen und sängerischen Leistungen der insgesamt elf Akteure, was insgesamt allerdings nicht ans beabsichtigte psychologisch Eingemachte heranreichte.

Nächste Vorstellungen: 16., 17., 19., 21., 23. September

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