Montag, 10. September 2018


Tri Sestry (1998), Oper in drei Sequenzen von Peter Eötvös (*1944), Premiere und Frankfurter Erstaufführung in der Oper Frankfurt, 09.09.2018

Moskau: der Traum der Träume


v.l.n.r.: Ray Chenez (Irina), David DQ Lee (Mascha), Mikolay Trabka (Andrei), Dimitry Egorov (Olga)
Foto: Monika Rittershaus


Der Anfang ist zugleich das Ende, der immerwährende Kreislauf des Lebens. Die drei Schwestern, Olga, Mascha und Irina besingen vor einem riesigen Rahmen, einer schäbigen Schaukel und einem schmucklosen Kinderkarussell die Leere ihres vergangenen Lebens. Bei traurigsten Mollklängen aus dem Orchestergraben hören sie die Musik heiter klingen. In einer Art Renaissance-Gesang mit Akkordeonbegleitung, Symbol der russischen Seele, trösten sie sich damit, dass alles zur Erinnerung wird und in der Zukunft eine neues Leben beginnt: „Wir bleiben zurück – allein. Und beginnen unser Leben erneut. Unser Leben.“


Tri Sestry (1998), von Eötvös selbst als das ideale Drama für seine Oper bezeichnet, folgt eigentlich keiner Handlung. Die Schwestern Olga, Irina und Mascha leben gemeinsam mit ihrem Bruder Andrei in einem einsamen Kaff und träumen vom kosmopolitischen Moskau. Moskau ist das Sinnbild ihrer Träume, Wünsche und Hoffnungen.

Das in drei Sequenzen und 26 Nummern (zwölf für Irina, neun für Andrei und fünf für Mascha) aufgeteilte, gut zwei Stunden andauernde Werk besteht hauptsächlich aus Dialogen, oder besser gesagt Monologen, denn man redet in Permanenz aneinander vorbei. Hauptthema ist der Abschied, symbolisiert durch den Tod (Baron Tusenbach), die Abreise (Werschinin) und die zurückgebliebene Leere. Das Fazit könnte man nach Aussage der Regisseurin, Dorothea Kirschbaum, so zuspitzen: „Nach vielem Gerede bleibt alles so wie es war“, womit wir wieder beim Prolog der Oper angelangt wären.

Wenn es denn so wäre, warum dann eine abendfüllende Oper? Eötvös (*1944), der diese Oper gemeinsam mit dem Librettisten Claus H. Henneberg (1936-1998) nach dem gleichnamigen Roman (1901) von Anton P. Tschechow (1860-1904) komponierte, brauchte dieses Sujet, weil es, wie er meint, neben der Bewältigung des frühen Todes seines Sohnes Gyuri (1995), alles enthält, was das Leben beschreibt: die komplizierten Beziehungen, die verpassten Gelegenheiten, die Melancholie der täglichen Erfahrungen, die Trennungsängste und Lebensleere. In diesem Werk geht es um Fragen der menschlichen Existenz überhaupt und wer kann dies besser in Szene setzen als Tschechow mit seiner unnachahmlichen humorvollen Art, Tragödie mit der Komödie zu verschmelzen. Allseits bekannt sein Bonmot kurz vor seinem Tode 1904: „Du fragst, was ist das Leben? Das ist, als wollte man fragen: Was ist eine Mohrrübe? Ein Mohrrübe ist eine Mohrrübe, mehr ist dazu nicht zu sagen.“

Und wer könnte besser dazu geeignet sein als Peter Eötvös, dieses Drama in ein Musiktheater umzusetzen. Als großer Verehrer der russischen Kultur und Sprache, lässt er eine Musik von außerordentlicher Vitalität und Einfühlsamkeit erklingen.

Alle handelnden Personen haben einen eigenen Charakter und werden instrumental begleitet. So bekommen unter anderem Olga die Altflöte, Mascha die Klarinette, Irina die Oboe, Andrei das Fagott, Natascha, seine Frau, das Saxophon mit Kuhglocken, Soljony, der Liebhaber Irinas, das Schlagwerk, Baron Tusenbach, der zweite Liebhaber Irinas, zwei Hörner zugeschrieben. Ähnlich der Leitmotivik bei Richard Wagner werden die instrumentalen Begleitungen variiert, bei Dialogen oder Gruppen entsprechend erweitert, sogar bei Subtexten (gedanklichen Passagen) immer wieder eingesetzt, sodass die innere wie äußere Handlungsebene immer nachvollziehbar bleibt.

Auch hat er sich für zwei Orchestergruppen entschieden, wobei eine 18-köpfige im Orchestergraben die Charaktereigenschaften der Personen abbildet, während die 50-köpfige, oberhalb der Bühne postiert, atmosphärisch den Raumklang zum Geschehen beisteuert. Auch gibt es keine Frauen, nur Rockrollen, weil hier keine typisch weiblichen, sondern allgemein menschliche Themen abgehandelt werden. Ebenfalls verbindet er traditionelle mit avantgardistischen Elementen. Eine leere Quinte, die, aufgefüllt mit einem Zusatzton, einen Moll-, Dur- oder dissonanten Dreiklang ergibt, ein Tritonus als spannungsgeladene Ergänzung. Ebenfalls zitiert er Peter Tschaikowskis Gremin-Arie aus Eugen Onegin (Sequenz 1, Nr. 4) wie Beethovens Sonate Les Adieux (Sequenz 1 Nr. 11), adaptiert in die Liebesarie von Mascha (Sequenz 3, Nr. 25), Leonard Bernsteins Song Maria aus der West Side Story, oder bedient sich barocker Formen wie der Passacaglia (Sequenz 3, Nr. 24).

Der Gesang tendiert zum Sprechen. Immer wenn Emotionen aufkommen sind die sängerischen Qualitäten gefordert, nicht zu verwechseln mit der barocken Zweiteilung von Arie und Rezitativ, sondern eher situationsabhängig. Besonders gelungen bei der etwas bösartigen Natascha sowie dem ewig betrunkenen Doktor, in deren Rollen diese neuartige Technik wunderbar eingearbeitet ist.


Ensemble (Foto: Monika Rittershaus)

Ein existentialistisches Kreislauf-Erlebnis der Gegenwart


Überhaupt waren die Sänger wie ihre Spielweise ein besonderer Höhepunkt dieser Premiere. Olga, sie verkörpert als Älteste der Geschwister eine Art Mutterrolle ohne am Leben teilzunehmen (deshalb auch keine eigene Sequenz), wurde vom Countertenor Dimitri Egorov mit Bravour zelebriert. Ihre oberlehrerhafte Attitüde war ihm im wahrsten Sinne auf den Leib geschnitten (ein farblich- konservatives, wadenlanges bis zur Halskrause eng geschnittenes Kleid). Sehr weiblich und mädchenhaft dagegen Irina, vom Countertenor Ray Chenez, zwischen Enttäuschung und Begehren changierend, überzeugend dargestellt. Mascha, eine elegante etwas hochnäsige Schönheit wurde vom Countertenor David DQ Lee (übrigens Debütant) perfekt auf die Bühne gebracht. Man vergaß oft den Mann in ihm. Andrei, der Bruder der Schwestern, hatte im Bariton Mikołaj Trąbka einen würdigen Vertreter. Er träumt von Büchern, anderen Welten und beklagt seine Bequemlichkeit. Hervorragend sein Monolog aus der zweiten Sequenz (Nr. 20).

Bemerkenswert die Rolle des Doktors, einem Trunkenbold, der sich für einen Nichtsnutz hält, mit schauspielerischer Überzeugungskraft vom Tenor  Mark Milhofer (Debütant) gesungen, und die der Natascha, die Ehefrau Andreis, deren Exaltiertheit vom Countertenor Eric Jurenas (Hausdebüt) viele Lacher im Publikum hervorrief.

Zu einem der musikalischen Höhepunkte müssen die beiden Liebesarien von Baron Tusenbach und Soljony an Irina zählen (Sequenz 1, Nr. 6 und 7). Hier glänzten der Bassbariton Krešimir Stražanac sowie der Bass Barnaby Rea. Unbedingt zu erwähnen noch der Bariton Iain Mac Neil als Werschinin mit seiner hinreißenden Liebeserklärung an Mascha, warm und überzeugend schön, sowie Alfred Reiter als die Amme Anfisa. Ein Bass von außerordentlicher Tiefe in harschem Kontrast zu seiner Rolle.

Dorothea Kirschbaum (Regie) ist mit ihrem Team um Ashley Martin-Davis (Bühnenbild: spartanisch einfach mit wechselnder Wohnküche und kargem Spielplatz), Michaela Barth (Kostüme: sehr gut ausgedacht und auf die Charaktere zugeschnitten), Joachim Klein (Licht: effektvoll wie simpel zwischen rot – Feuer und Soldaten – und weiß changierend), Christina Becker (Video: die begleitenden Comic-Filmchen während der Traumszenen waren ein echter Hingucker) und last but not least Nikolai Petersen und Dennis Russell Davies (Musikalische Leitung: ihr Doppeldirigat gehörte zur Meisterleistung der Synchronizität) und Mareike Wink (Dramaturgie: ihre Moderationen und Interviews im Vorfeld der Premiere waren beste Öffentlichkeitsarbeit) ein großer Wurf gelungen.

Was macht diese Oper so sehenswert? Ganz einfach: Gehen sie hin und beurteilen sie selbst. Dieses tragisch-lethargische Drama ist zugleich eine Komödie für Musik (Eötvös). Sie ist in nuce ein existentialistisches Kreislauf-Erlebnis der Gegenwart. Peter Eötvös, zu Gast bei der Frankfurter Erstaufführung, konnte dieser Inszenierung sicher vollkommen zustimmen, wie auch das begeisterte Frankfurter Publikum 

Nächste Termine: 12., 14., 20., 23., 30. September sowie 03. Oktober

2 Kommentare:

  1. Eine kleine Korrektur: für ERIC JURENAS war es das Hausdebüt an der Oper Frankfurt.
    Sein Rollendebüt als Natasha hat Herr Jurenas bereits im März 2016 unter dem Dirigat von Peter Eötvös an der Wiener Staatsoper gegeben.

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  2. Hat auch jemand dirigiert an dem Abend??

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