Musikfest Atmosphères, 15.-30.09.2018
Ensemble
Modern mit Ueli Wiget (Klavier) und Dirk Kaftan (Dirigent),
Mozart Saal der Alten Oper Frankfurt, 20.09.2018
Ueli Wiget (Klavier) Foto: Andreas Etter |
Klangflächen als gefrorene Zeit
Gebannte Zeit, schrieb einstmals György Ligeti (1923-2006) über seine ästhetische Grundhaltung, sei sein Streben, die Vergänglichkeit des Klangs aufzuheben, ihn ins Jetzt des Augenblicks einzuschließen. Ganz in diesem Sinne könnte man die Kompositionen dieses Konzertabends im Mozartsaal der Alten Oper einordnen.
Alle drei Komponisten präsentierten Werke im Geiste
dieser Ästhetik: Die Uraufführung von Michael
Pelzels (*1978) Chromosphères
(2018), die Uraufführung von Felipe Laras
(*1979) Brutal Mirrors (2018) sowie Gougalōn. Szenen aus einem
Straßentheater (2009/11) von Unsuk
Chin (*1961) und das abschließende „Opus Summum“ von György Ligeti, das Konzert
für Klavier und Ensemble (1980-1988), mit dem Konzertpianisten und
langjährigem Mitglied des Ensemble Modern, Ueli
Wiget (*1957) am Flügel.
Bereits in der Vorbesprechung des Konzerts
(Moderation Christoph Dennerlein) hob Pelzel
Ligeti als Vorbild für sein Schaffen heraus und betonte seine Verantwortung
gegenüber dem namensähnlichen Atmosphères,
das 1961 in Donaueschingen ähnliche Reaktionen ausgelöst habe wie 47 Jahre zuvor
das Sacre du Printemps von Strawinsky
in Paris. Es waren die Klangflächen mit 59 auf über fünfeinhalb Oktaven
verteilten Tönen, die Mikropolyphonie, die farbenreichen Clusterstrukturen, die
die Gemüter der Avantgardisten damals erregten. Ligeti leitete mit dieser Musik
eine neue Ära ein.
Pelzels Auftragswerk (Ensemble Modern und Alte Oper)
Chromosphères orientiert sich zwar an
Ligetis Klangflächen, er gebraucht aber andere Mittel, bevorzugt Spektralklänge
und Obertonskalen.
Er vermeidet Cluster und ersetzt sie durch monochrome
Klanglandschaften. Das Ganze bereichert er mit ungewöhnlichen
Percussion Gegenständen wie Gläser, Wasserorgelpfeifen, Klangschalen, Geigenbogenhaare, Bürste und
Elektroradierer. Die einzelnen Instrumente, wie Klarinette, Posaune und Horn
werden gemixt mit Tamtam und Trillerpfeife. Obertöne der Bläser vermischen sich
mit Flageoletttönen der Streicher und bilden einen Klangteppich, der sich flirrend,
vibrierend und tremolierend im Raum bewegt. Vierzehn Minuten voller Geheimnis.
Eine Verführung in eine fremdartige Klangwelt, in der die Zeit für einen Moment
lang stehen blieb.
Der Brasilianer Felipe
Lara lässt sich bei seinem Werk von Fotografien seines Landsmann Mauro
Restiffe (*1970) leiten, womit er zumindest einen Bezugspunkt zu Ligetis Konzert für Klavier und Ensemble
aufweist. Vor allem das Motiv eines post sowjetischen Gebäudekomplexes, das
durch einen Fluss gespiegelt wird, hat es ihm wegen seiner geometrischen Linien
und Formen angetan. Brutal Mirrors
ist, seinen Aussagen zufolge, ein Werk „über die Verzerrung der Symmetrie durch
Reflexion, über die Formbarkeit der Strukturen und die Brutalität der
Erinnerung“ (O-Ton). Eine Auseinandersetzung zwischen Starrheit und Fließen sowie
im übertragenen Sinne zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
In zwölf musikalischen Sektionen färbt er im freien
Spiel der Formen und Instrumentierung sein „streng proportioniertes Setting“
immer wieder neu ein. Eine Spiegelung von extremen Kontrasten im permanenten
Wechsel der Dynamik, Rhythmik, percussiven Mittel und instrumentaler
Zusammensetzung. Mal Pauke und Kontrabass, Horn, Trompete und Posaune, dann
wieder das Anschwellen der Klänge mit abruptem Abbruch. Und immer zwischendurch
das Klappern der Kastagnetten, die Signaltöne der Bleche und Glocken sowie das
bedrohliche Pochen des Schlagzeugs. Keine strukturierte Spiegelung, wie man es
von den Bachschen Partiten oder der Zwölftonmusik her kennt, sondern vielmehr
klangliche und atmosphärische Spiegelungen, bei denen sich die Konturen in
immer neuen polychromen Bildern zusammensetzen. Ein Spiel mit der Zeit, das in
der Gegenwart erstarrte.
Klangbilder und Klangfarben als Zeitzauber
Gougalōn
von der in Seoul geborenen Unsuk Chin
gehört in die Welt der schwarzen Magie und des derben Humors. Als Schülerin von
Ligeti beherrscht sie das gesamte Spektrum der Polytempik und der
Mixturentechnik. Musikalisch erzählt sie eine Geschichte der chinesischen
Gaukler, die als fliegende Händler und Quacksalber noch in den 1960er Jahren
durch die ärmlichen Dörfer zogen und die unwissende, von der Welt
abgeschlossene Bevölkerung mit dilettantischer Musik und schlechten
Kunststückchen vorsätzlich über den Tisch zogen.
Ihre Musik für großes Ensemble strotzte nur so vor
Vitalität, Skurrilität und grellen Farben. In sechs Episoden ließ sie einen
imaginären Film ablaufen, der eine fantastische Zeitreise in die Vergangenheit
möglich machte. Chin spricht von Kindheitserlebnissen, die in ihr wach wurden
als sie die Musik dazu schrieb. Gougalōn (aus dem althochdeutschen jemandem etwas vorgaukeln), entführte
aus der Realität in fremde Kulturen und ließ für einige Minuten die Zeit
stehen.
Höhepunkt des Abends war ohne Zweifel das Konzert für Klavier und Ensemble, das Ligeti
in einem Zeitraum von über acht Jahren entstehen ließ. Außermusikalisch wurde
er durch Fraktals, die in den 1980er
Jahren bekannt wurden, angeregt. Das sind Computerbilder, die mathematische
Operationen im Bereich der komplexen Zahlen visualisieren (z. B. Apfelmännchen-Fraktal).
In fünf Sätzen hat er außergewöhnliche
klaviertechnische Ideen verarbeitet, die Solist wie Ensemble vor gewaltige
Aufgaben stellt. Neu an diesem Werk waren seinerzeit die Mixturentechnik,
bestehend aus den beiden Ganztonskalen, die parallel zueinander gespielt
wurden, sowie die Amalgamierung von Klavier und Orchester, das heißt es gibt
kein Konzertieren im herkömmlichen Sinne, sondern lediglich Ergänzungen.
Darüber hinaus arbeitet Ligeti mit verschiedenen Temposchichten (Polytempik)
und 'inhärenten Patterns', worunter versteckte Melodien innerhalb von
Klangkonstellationen zu verstehen sind.
Was das Ensemble Modern unter der souveränen Leitung
von Dirk Kaftan und Ueli Wiget (Piano) daraus machten, konnte
musikalisch absolut überzeugen. Eigentlich für großes Orchester gedacht
(jeweils sechs bis acht Streicher, vier Kontrabässe etc.), wuchs jeder Einzelne
des Ensembles über sich hinaus und entwickelte eine Klangfülle, die den
vollbesetzten Saal in ein Meer von Farben verwandelte. Dazu ein gigantischer Percussion Apparat
mit Crotales, Woodblocks, Snare Drum, Bongos, Flexatone, Mundharmonika und
vieles mehr, das Rainer Römer und Rumi Ogawa zusätzlich eine Menge Physis
abverlangte. Hervorragend das Lamento des zweiten Satzes (Lento und Deserto), in dem
Passagen aus Ligetis Horn-Trio und
der sechsten Klavieretüde zu hören
waren. Fantastisch das Allegro risoluto
des vierten Satzes, in den angeblich Fraktal-Bilder wie Mandelbrot und Julia-Set assoziativ
eingewoben sind. Polymetrien mit komplizierten Aksak-Rhythmen dominierten den
ersten und fünften Satz, in denen Wiget durch unglaubliche Präzision und
Virtuosität brillierte. Wie überhaupt das Klavierkonzert wie aus einem Guss die Zeit über 24-Minuten bannte.
Ein denkwürdiger Abend im Geiste von Ligetis Atmosphères. Kein Skandal und Aufbruch
in ein neues Musikdenken wie 1961, aber immerhin ein Klangereignis als
Spiegelung von gefrorener und verflüssigter Zeit. Ein Zeitzauber des imaginären
Raums. Das Publikum applaudierte begeistert und stimmte noch in das
Geburtstagsständchen für Ueli Wiget ein.
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