Montag, 24. September 2018


Musikfest Atmosphères, 15.-30.09.2018

Ensemble Modern mit Ueli Wiget (Klavier) und Dirk Kaftan (Dirigent), Mozart Saal der Alten Oper Frankfurt, 20.09.2018


Ueli Wiget (Klavier) Foto: Andreas Etter

Klangflächen als gefrorene Zeit


Gebannte Zeit, schrieb einstmals György Ligeti (1923-2006) über seine ästhetische Grundhaltung, sei sein Streben, die Vergänglichkeit des Klangs aufzuheben, ihn ins Jetzt des Augenblicks einzuschließen. Ganz in diesem Sinne könnte man die Kompositionen dieses Konzertabends im Mozartsaal der Alten Oper einordnen.


Alle drei Komponisten präsentierten Werke im Geiste dieser Ästhetik: Die Uraufführung von Michael Pelzels (*1978) Chromosphères (2018), die Uraufführung von Felipe Laras (*1979) Brutal Mirrors (2018) sowie Gougalōn. Szenen aus einem Straßentheater (2009/11) von Unsuk Chin (*1961) und das abschließende „Opus Summum“ von György Ligeti, das Konzert für Klavier und Ensemble (1980-1988), mit dem Konzertpianisten und langjährigem Mitglied des Ensemble Modern, Ueli Wiget (*1957) am Flügel.

Bereits in der Vorbesprechung des Konzerts (Moderation Christoph Dennerlein) hob Pelzel Ligeti als Vorbild für sein Schaffen heraus und betonte seine Verantwortung gegenüber dem namensähnlichen Atmosphères, das 1961 in Donaueschingen ähnliche Reaktionen ausgelöst habe wie 47 Jahre zuvor das Sacre du Printemps von Strawinsky in Paris. Es waren die Klangflächen mit 59 auf über fünfeinhalb Oktaven verteilten Tönen, die Mikropolyphonie, die farbenreichen Clusterstrukturen, die die Gemüter der Avantgardisten damals erregten. Ligeti leitete mit dieser Musik eine neue Ära ein.
Pelzels Auftragswerk (Ensemble Modern und Alte Oper) Chromosphères orientiert sich zwar an Ligetis Klangflächen, er gebraucht aber andere Mittel, bevorzugt Spektralklänge und Obertonskalen. 

Er vermeidet Cluster und ersetzt sie durch monochrome Klanglandschaften. Das Ganze bereichert er mit ungewöhnlichen Percussion Gegenständen wie Gläser, Wasserorgelpfeifen,  Klangschalen, Geigenbogenhaare, Bürste und Elektroradierer. Die einzelnen Instrumente, wie Klarinette, Posaune und Horn werden gemixt mit Tamtam und Trillerpfeife. Obertöne der Bläser vermischen sich mit Flageoletttönen der Streicher und bilden einen Klangteppich, der sich flirrend, vibrierend und tremolierend im Raum bewegt. Vierzehn Minuten voller Geheimnis. Eine Verführung in eine fremdartige Klangwelt, in der die Zeit für einen Moment lang stehen blieb.

Der Brasilianer Felipe Lara lässt sich bei seinem Werk von Fotografien seines Landsmann Mauro Restiffe (*1970) leiten, womit er zumindest einen Bezugspunkt zu Ligetis Konzert für Klavier und Ensemble aufweist. Vor allem das Motiv eines post sowjetischen Gebäudekomplexes, das durch einen Fluss gespiegelt wird, hat es ihm wegen seiner geometrischen Linien und Formen angetan. Brutal Mirrors ist, seinen Aussagen zufolge, ein Werk „über die Verzerrung der Symmetrie durch Reflexion, über die Formbarkeit der Strukturen und die Brutalität der Erinnerung“ (O-Ton). Eine Auseinandersetzung zwischen Starrheit und Fließen sowie im übertragenen Sinne zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

In zwölf musikalischen Sektionen färbt er im freien Spiel der Formen und Instrumentierung sein „streng proportioniertes Setting“ immer wieder neu ein. Eine Spiegelung von extremen Kontrasten im permanenten Wechsel der Dynamik, Rhythmik, percussiven Mittel und instrumentaler Zusammensetzung. Mal Pauke und Kontrabass, Horn, Trompete und Posaune, dann wieder das Anschwellen der Klänge mit abruptem Abbruch. Und immer zwischendurch das Klappern der Kastagnetten, die Signaltöne der Bleche und Glocken sowie das bedrohliche Pochen des Schlagzeugs. Keine strukturierte Spiegelung, wie man es von den Bachschen Partiten oder der  Zwölftonmusik her kennt, sondern vielmehr klangliche und atmosphärische Spiegelungen, bei denen sich die Konturen in immer neuen polychromen Bildern zusammensetzen. Ein Spiel mit der Zeit, das in der Gegenwart erstarrte.

Dirk Kaftan (Musikalische Leitung) Foto: Dirk Kaftan

Klangbilder und Klangfarben als Zeitzauber


Gougalōn von der in Seoul geborenen Unsuk Chin gehört in die Welt der schwarzen Magie und des derben Humors. Als Schülerin von Ligeti beherrscht sie das gesamte Spektrum der Polytempik und der Mixturentechnik. Musikalisch erzählt sie eine Geschichte der chinesischen Gaukler, die als fliegende Händler und Quacksalber noch in den 1960er Jahren durch die ärmlichen Dörfer zogen und die unwissende, von der Welt abgeschlossene Bevölkerung mit dilettantischer Musik und schlechten Kunststückchen vorsätzlich über den Tisch zogen.

Ihre Musik für großes Ensemble strotzte nur so vor Vitalität, Skurrilität und grellen Farben. In sechs Episoden ließ sie einen imaginären Film ablaufen, der eine fantastische Zeitreise in die Vergangenheit möglich machte. Chin spricht von Kindheitserlebnissen, die in ihr wach wurden als sie die Musik dazu schrieb. Gougalōn (aus dem althochdeutschen jemandem etwas vorgaukeln), entführte aus der Realität in fremde Kulturen und ließ für einige Minuten die Zeit stehen.

Höhepunkt des Abends war ohne Zweifel das Konzert für Klavier und Ensemble, das Ligeti in einem Zeitraum von über acht Jahren entstehen ließ. Außermusikalisch wurde er durch Fraktals, die in den 1980er Jahren bekannt wurden, angeregt. Das sind Computerbilder, die mathematische Operationen im Bereich der komplexen Zahlen visualisieren (z. B. Apfelmännchen-Fraktal).
In fünf Sätzen hat er außergewöhnliche klaviertechnische Ideen verarbeitet, die Solist wie Ensemble vor gewaltige Aufgaben stellt. Neu an diesem Werk waren seinerzeit die Mixturentechnik, bestehend aus den beiden Ganztonskalen, die parallel zueinander gespielt wurden, sowie die Amalgamierung von Klavier und Orchester, das heißt es gibt kein Konzertieren im herkömmlichen Sinne, sondern lediglich Ergänzungen. Darüber hinaus arbeitet Ligeti mit verschiedenen Temposchichten (Polytempik) und 'inhärenten Patterns', worunter versteckte Melodien innerhalb von Klangkonstellationen zu verstehen sind.

Was das Ensemble Modern unter der souveränen Leitung von Dirk Kaftan und Ueli Wiget (Piano) daraus machten, konnte musikalisch absolut überzeugen. Eigentlich für großes Orchester gedacht (jeweils sechs bis acht Streicher, vier Kontrabässe etc.), wuchs jeder Einzelne des Ensembles über sich hinaus und entwickelte eine Klangfülle, die den vollbesetzten Saal in ein Meer von Farben verwandelte. Dazu ein gigantischer Percussion Apparat mit Crotales, Woodblocks, Snare Drum, Bongos, Flexatone, Mundharmonika und vieles mehr, das Rainer Römer und Rumi Ogawa zusätzlich eine Menge Physis abverlangte. Hervorragend das Lamento des zweiten Satzes (Lento und Deserto),  in dem Passagen aus Ligetis Horn-Trio und der sechsten Klavieretüde zu hören waren. Fantastisch das Allegro risoluto des vierten Satzes, in den angeblich Fraktal-Bilder wie Mandelbrot und Julia-Set assoziativ eingewoben sind. Polymetrien mit komplizierten Aksak-Rhythmen dominierten den ersten und fünften Satz, in denen Wiget durch unglaubliche Präzision und Virtuosität brillierte. Wie überhaupt das Klavierkonzert wie aus einem Guss die Zeit über 24-Minuten bannte. 


Ein denkwürdiger Abend im Geiste von Ligetis Atmosphères. Kein Skandal und Aufbruch in ein neues Musikdenken wie 1961, aber immerhin ein Klangereignis als Spiegelung von gefrorener und verflüssigter Zeit. Ein Zeitzauber des imaginären Raums. Das Publikum applaudierte begeistert und stimmte noch in das Geburtstagsständchen für Ueli Wiget ein.

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