Dienstag, 16. Oktober 2018


Alexandre Tharaud, Klavierabend in der Alten Oper Frankfurt, 15.10.2018

Alexandre Tharaud (Foto: Marco Borggreve)

Ein Titan an den Tasten


Fast zerbrechlich wirkend betritt Alexandre Tharaud (*1968) die Bühne des leider nicht voll besetzten Mozart Saals der Alten Oper Frankfurt, um gleich darauf zum Titan an den Tasten zu mutieren. Tharauds Art zu spielen erinnert in Ästhetik und Anschlag spontan an den 1995 verstorbenen Arturo Benedetti Michelangeli: extremes Fingerspiel (russische Schule), fantastische Dynamik, variantenreicher Pedalgebrauch, wenig Körperbewegung bei höchst sensibler Tastenbehandlung. Bei Tharaud hat man den Eindruck, dass auch das kleinste Motiv in seiner letzten Ausformung analysiert und klanglich verarbeitet ist.


Sein Programm changierte zwischen Ludwig van Beethovens (1770-1827) letzten Sonaten (op. 109 und op. 110), François Couperins (1668-1733) pièces de clavecin (1713-1733, eine Auswahl von sechs Stücken der insgesamt mehr als 240 aus vier Bänden, sowie einer eigenen Bearbeitung des Adagiettos aus Gustav Mahlers (1860-1911) Sinfonie Nr. 5 (1901/02).

Eine Trilogie zwischen Barock, Klassik und Romantik, die an Facettenreichtum kaum zu überbieten war. Allein die Klavierstückchen von Couperin, alle mit einem witzigen und ironischen Bezug zu Personen oder Ereignissen (Les Calotines zum Beispiel auf die Pfaffen am königlichen Hof zu Paris bezogen, oder Tic-toc-choc, den Stürmern bzw. maillotins des Pariser Rathauses im Mittelalter gewidmet), wurden unter den Händen Tharauds zu tänzerischen Kleinodien, zu Rondeaus, Allemandes, Gigues und Menuetts von einladender Rhythmik und spannungsgeladener Lebendigkeit. Da wurde selbst die Passacaglia zu einer feierlichen Prozession, zu einer Polonaise durch den Saal.

Beethoven markierte die Eckpunkte des Abends. Zwischen 1820 und 1822 geschrieben – in einer Zeit also, die geprägt war von seiner vollständigen Taubheit, von Leberzirrhose und familiären Konflikten –, gehören die letzten drei Sonaten (op. 109, 110 und 111), trotz oder wegen dieser äußeren Umstände, zum innovativsten und avanciertesten für Klavier. Sie leiten die Auflösung der Sonatenform ein, gehen an die Grenzen der Tonalität wie auch an die Grenzen der damaligen technischen Möglichkeiten (der Hammerflügel gehörte zu Anfang des 19. Jahrhunderts zum Top-Gerät der Tasteninstrumente).

Tharaud spielte, wie gesagt, zwei davon, nahm sich große Freiheiten heraus und das zu recht. Denn er verstand es, die Sonaten, die musikgeschichtlich am Anfang der Romantik stehen, in neuer, moderner Weise zu interpretieren. Herausragend waren dabei seine dynamischen Wechsel zwischen dreifachen, kaum hörbaren Pianissimo und schlagendem, perkussivem Drei- bis Vierfach-Forte. Ebenso seine Pedalbehandlung, die sowohl verschattete und dämpfte als auch Klangflächen erzeugte, die vor allem in den Trillerpassagen der sechsten Variation von op. 109 in ein impressionistisches Klangmeer eines Debussy führten. Und dennoch: Immer war Beethoven am Werk. Zwischen tiefer Verzweiflung, klagender Schicksalsverdrossenheit (in der Fuge von op. 110) und aufmüpfigem Jetzt erst recht (ebendort), alles davon setzte Tharaud musikalisch mit brillanter Technik und tiefer Durchdringung des Notentextes um, in einem Spannungsbogen, der selbst einem kleinen Mädchen von knapp vier Jahren im Publikum größte Aufmerksamkeit abverlangte. Ein echtes Qualitätsmerkmal.

Alexandre Tharaud (Foto: Marco Borggreve)

Ein Beethoven der Moderne


In der eigenen Bearbeitung von Gustav Mahlers Adagietto (vierter Satz aus seiner Sinfonie Nr. 5, mit der Bezeichnung Sehr langsam) zeigte sich denn doch die romantische Präferenz des Pianisten, was in Vielem an Franz Liszts Années de Pèlerinage (1855) erinnerte. Sehr melodisch mit wunderbar leisen träumerischen Passagen sowie aufwallenden, extrem wilden und dabei virtuosen Zwischenspielen von absoluter pianistischer Herausforderung kennzeichnete die Komposition. 
Man muss nicht extra betonen, dass Tharaud ein Meisterstück der Romantik ablieferte, und doch wirkte die weithin bekannte Melodie (sie ist die Leitmusik in Luchino Viscontis Verfilmung von Thomas Manns Der Tod in Venedig, 1971) wie aus der Tiefe eines Brunnens geschöpft: frisch, schmackhaft und belebend.

Tharaud spielte alles vom Blatt, auch seine Eigenkomposition, was für seinen analytischen Geist spricht. Auch nahm er sich viele Tempofreiheiten, changierte durchweg zwischen rechtem und linkem Pedal – gepaart mit seinem hochsensiblen Tastenanschlag eine perfekte Mischung – und gestaltete die dynamischen Prozesse in einzigartiger Ausprägung – jeder Tastenanschlag war durchdacht. Seine Beethoven Interpretation (Tharauds Einspielung von Beethovens letzten drei Sonaten sind aktuell bei Warner Classics/Erato käuflich zu erwerben) gehört mit zum Innovativsten und modernsten auf dem gegenwärtigen Musikmarkt der Pianisten.

Seine drei Zugaben, die Antwort auf den frenetischen Beifall, konnten, ja mussten auch den letzten Zweifler überzeugen. Mit Domenico Scarlattis d-Moll Sonate (K 141), einer Mazurka von Fréderic Chopin und einer Sarabande von Jean-Philippe Rameau zeigte Tharaud noch einmal sein Spektrum der Epochen und Stile, wobei Scarlattis d-Moll Sonate nur so von atemberaubendem Presto und wahnwitziger Virtuosität sprühte. 
Tharaud ist ebenfalls bekannt für seine Präferenzen zur zeitgenössischen Musik. Vielleicht wäre es eine Idee, beim (unbedingt) nächsten Mal mit einem Programm des 21. Jahrhunderts aufzuwarten? Eine Freude wäre es allemal.

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