Alexandre Tharaud, Klavierabend in der Alten Oper
Frankfurt, 15.10.2018
Alexandre Tharaud (Foto: Marco Borggreve) |
Ein Titan an den Tasten
Fast zerbrechlich wirkend betritt Alexandre Tharaud (*1968) die Bühne des leider nicht voll besetzten Mozart Saals der Alten Oper Frankfurt, um gleich darauf zum Titan an den Tasten zu mutieren. Tharauds Art zu spielen erinnert in Ästhetik und Anschlag spontan an den 1995 verstorbenen Arturo Benedetti Michelangeli: extremes Fingerspiel (russische Schule), fantastische Dynamik, variantenreicher Pedalgebrauch, wenig Körperbewegung bei höchst sensibler Tastenbehandlung. Bei Tharaud hat man den Eindruck, dass auch das kleinste Motiv in seiner letzten Ausformung analysiert und klanglich verarbeitet ist.
Sein Programm changierte zwischen Ludwig van Beethovens
(1770-1827) letzten Sonaten (op. 109 und op. 110), François Couperins
(1668-1733) pièces de clavecin (1713-1733,
eine Auswahl von sechs Stücken der insgesamt mehr als 240 aus vier Bänden, sowie einer eigenen Bearbeitung des Adagiettos
aus Gustav Mahlers (1860-1911) Sinfonie
Nr. 5 (1901/02).
Eine Trilogie zwischen Barock, Klassik und Romantik,
die an Facettenreichtum kaum zu überbieten war. Allein die Klavierstückchen von
Couperin, alle mit einem witzigen und ironischen Bezug zu Personen oder
Ereignissen (Les Calotines zum
Beispiel auf die Pfaffen am königlichen Hof zu Paris bezogen, oder Tic-toc-choc, den Stürmern bzw. maillotins
des Pariser Rathauses im Mittelalter gewidmet), wurden unter den Händen
Tharauds zu tänzerischen Kleinodien, zu Rondeaus, Allemandes, Gigues und Menuetts von
einladender Rhythmik und spannungsgeladener Lebendigkeit. Da wurde selbst die Passacaglia zu einer feierlichen Prozession,
zu einer Polonaise durch den Saal.
Beethoven markierte die Eckpunkte des Abends. Zwischen
1820 und 1822 geschrieben – in einer Zeit also, die geprägt war von seiner
vollständigen Taubheit, von Leberzirrhose und familiären Konflikten –, gehören
die letzten drei Sonaten (op. 109, 110 und 111), trotz oder wegen dieser
äußeren Umstände, zum innovativsten und avanciertesten für Klavier. Sie leiten
die Auflösung der Sonatenform ein, gehen an die Grenzen der Tonalität wie auch
an die Grenzen der damaligen technischen Möglichkeiten (der Hammerflügel
gehörte zu Anfang des 19. Jahrhunderts zum Top-Gerät der Tasteninstrumente).
Tharaud spielte, wie gesagt, zwei davon, nahm sich
große Freiheiten heraus und das zu recht. Denn er verstand es, die Sonaten, die
musikgeschichtlich am Anfang der Romantik stehen, in neuer, moderner Weise zu
interpretieren. Herausragend waren dabei seine dynamischen Wechsel zwischen
dreifachen, kaum hörbaren Pianissimo und schlagendem, perkussivem Drei- bis
Vierfach-Forte. Ebenso seine Pedalbehandlung, die sowohl verschattete und
dämpfte als auch Klangflächen erzeugte, die vor allem in den Trillerpassagen der
sechsten Variation von op. 109 in ein
impressionistisches Klangmeer eines Debussy führten. Und dennoch: Immer war
Beethoven am Werk. Zwischen tiefer Verzweiflung, klagender
Schicksalsverdrossenheit (in der Fuge
von op. 110) und aufmüpfigem Jetzt erst
recht (ebendort), alles davon setzte Tharaud musikalisch mit brillanter
Technik und tiefer Durchdringung des Notentextes um, in einem Spannungsbogen,
der selbst einem kleinen Mädchen von knapp vier Jahren im Publikum größte Aufmerksamkeit
abverlangte. Ein echtes Qualitätsmerkmal.
Alexandre Tharaud (Foto: Marco Borggreve) |
Ein Beethoven der Moderne
In der eigenen Bearbeitung von Gustav Mahlers Adagietto (vierter Satz aus seiner Sinfonie
Nr. 5, mit der Bezeichnung Sehr langsam)
zeigte sich denn doch die romantische Präferenz des Pianisten, was in Vielem an
Franz Liszts Années de Pèlerinage
(1855) erinnerte. Sehr melodisch mit wunderbar leisen träumerischen Passagen sowie
aufwallenden, extrem wilden und dabei virtuosen Zwischenspielen von absoluter pianistischer
Herausforderung kennzeichnete die Komposition.
Man muss nicht extra betonen,
dass Tharaud ein Meisterstück der Romantik ablieferte, und doch wirkte die weithin
bekannte Melodie (sie ist die Leitmusik in Luchino Viscontis Verfilmung von Thomas Manns Der Tod in Venedig, 1971) wie aus der
Tiefe eines Brunnens geschöpft: frisch, schmackhaft und belebend.
Tharaud spielte alles vom Blatt, auch seine
Eigenkomposition, was für seinen analytischen Geist spricht. Auch nahm er sich
viele Tempofreiheiten, changierte durchweg zwischen rechtem und linkem Pedal – gepaart
mit seinem hochsensiblen Tastenanschlag eine perfekte Mischung – und gestaltete
die dynamischen Prozesse in einzigartiger Ausprägung – jeder Tastenanschlag war
durchdacht. Seine Beethoven Interpretation (Tharauds Einspielung von Beethovens
letzten drei Sonaten sind aktuell bei Warner
Classics/Erato käuflich zu erwerben) gehört mit zum Innovativsten und
modernsten auf dem gegenwärtigen Musikmarkt der Pianisten.
Seine drei Zugaben, die Antwort auf den frenetischen
Beifall, konnten, ja mussten auch den letzten Zweifler überzeugen. Mit Domenico
Scarlattis d-Moll Sonate (K 141), einer
Mazurka von Fréderic Chopin und einer
Sarabande von Jean-Philippe Rameau
zeigte Tharaud noch einmal sein Spektrum der Epochen und Stile, wobei
Scarlattis d-Moll Sonate nur so von
atemberaubendem Presto und wahnwitziger Virtuosität sprühte.
Tharaud ist
ebenfalls bekannt für seine Präferenzen zur zeitgenössischen Musik. Vielleicht
wäre es eine Idee, beim (unbedingt) nächsten Mal mit einem Programm des 21.
Jahrhunderts aufzuwarten? Eine Freude wäre es allemal.
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