Oedipus
Rex
(1927), Oratorium in zwei Akten von Igor Strawinsky, und Jolanta (1892), Oper in einem Akt von Peter Tschaikowsky, Premiere
und Frankfurter Erstaufführung (Jolanta), Oper Frankfurt, 28.10.2018
Peter Marsh (Oedipus Rex), Ensemble (Fotos: Barbara Aumüller) |
Zwei Knüller zwischen Dunkel und Licht
Ist es die Unfähigkeit, das Offensichtliche zu sehen, was die beiden doch sehr unterschiedlichen Werke zusammenhält? Immerhin liegen das Oratorium von Igor Strawinsky (1882-1971), Oedipus Rex, 1927 in Paris konzertant und 1928 szenisch in Berlin uraufgeführt, und die Oper von Peter Tschaikowsky (1840-1893), Jolanta, 1892 in St. Petersburg uraufgeführt, mehr als 35 Jahre auseinander, behandeln einmal einen antiken mythischen Stoff nach Sophokles und zum anderen ein Märchen (vermutlich) nach Hans Christian Andersen in einer dramatischen Bühnenbearbeitung von Hendrik Hertz (1778-1870), und vermitteln darüber hinaus zwei Musikstile, die kontrastreicher kaum sein können.
Zwei sehr unterschiedliche Sujets also. Und doch hat
es das Frankfurter Opernteam unter der Regie der umtriebigen Lydia Steier geschafft, „zwei Knüller“
(Steier) auf die Bühne zu zaubern, die alles enthalten, was Oper sein soll:
großes Theater mit eindrucksvollen und perfekt gelungenen Bühnenbildern (Barbara Ehnes), historischen wie
märchenhaften Kostümen (Alfred
Mayerhofer), ausgeklügeltem Licht und passenden Videoeffekten (Olaf Winter und fettFilm),
einer durchdachten Dramaturgie (Mareike
Wink) sowie einem Chor (Tilman
Michael) und einem Orchester (Sebastian
Weigle), die beide alles gaben und dem Geschehen auf der Bühne die feinste Würze
verliehen.
Oedipus
Rex,
die Tragödie des Ödipus von Sophokles, wird von Strawinsky zum Anlass genommen,
eine neue Form des Musiktheaters zu entwickeln. Es sollte ein Mittelding
zwischen Oratorium und epischer Oper sein. Ein Sprecher (hier: Philipp Rumberg) erzählt die Handlung,
Sologesänge und Chor sollen lateinisch gehalten werden. Die Musik dagegen
sollte archaisch, einfach, leidenschaftslos sein, im Stile eines erhabenen
antiken Reliefs: „Es war stets meine Meinung“, schreibt Strawinsky dazu, „dass
es zum Ausdruck der erhabenen Dinge eine besondere Sprache geben müsse, die
nichts mit dem Alltag gemein habe.“
Die Regie versetzte die antike Szene Thebens im Zustand
der Pest in die Weimarer Republik, in den Ort der Krise: den düsteren Reichstag.
Der Chor repräsentierte die Abgeordneten, die handelnden Personen agierten
dazwischen. Ein Szenarium, in dem persönlicher Konflikt und gesellschaftliche
Krise miteinander verwoben wurden.
Peter
Marsh als Ödipus glänzte dabei als Blinder seines Schicksals.
Er weiß nichts von seiner Vergangenheit, wird aber Schritt für Schritt in den
Strudel des Orakels hineingezogen. Die Erkenntnis, dass er die Ursache der Pest
ist, unwissend zwar (bekanntlich tötete er seinen Vater Laios und heiratete
seine Mutter Jokaste, mit der vier Kinder zeugte), aber dennoch mit der
objektiven Last der Schuld behaftet, veranlasst ihn, sich zu blenden, weil er
sich weder den Toten noch den Lebendigen zeigen kann. Marsh steigerte sich förmlich
in die Metamorphose von der Schicksalsblindheit zur bitteren Erkenntnis. Seine
Arie „Glück ist dem Neid verhasst“, in Anspielung seines Schwiegersohns Kreon (Gary Griffith), dass der Königsmörder
selbst ein König sei, geriet ihm ahnungsvoll kantabel, nervös und voller
Schmerz. Ein wunderbarer Tenor und überzeugender Ödipus.
Tanja Ariane Baumgartner (Jokaste), Gary Griffith (Kreon) Ensemble |
Jokaste, Ödipus´ Frau und Mutter, wurde von der
höchst präsenten Mezzosopranistin, Tanja
Ariane Baumgartner, in blutroter Robe und schwanger, glaubwürdig dargestellt
und gesungen. Sie ist die eigentlich Wissende, weshalb sie die Orakelsprüche
und Weissagungen des Teiresias (Andreas
Bauer, Bass) schlichtweg leugnet. Sie will die Fäden ziehen und führt ihre
Untertanen an der Leine, ähnlich wie in Pasolinis Film die Faschisten Die 120
Tage von Sodom (1975). Das Stichwort Kreuzweg (der Ort, wo König Laios von
Ödipus ermordet wird) lässt sie in die Falle der Wahrheit stürzen. Sie tut
alles, um sie zu verschleiern und erst die Aussagen des Boten (Brandon Cedel, Bassbariton) und des
Hirten (Matthew Swensen, Tenor), die
das Geheimnis endgültig lüften, lassen ihr keinen Ausweg mehr. Sie erhängt
sich. Wieder einmal zeigte Baumgartner großes Theater und mitreißenden Gesang.
Zu erwähnen sei noch der Chor, der in der Rolle der Weimarer Abgeordneten alle Facetten der
Gefühlslagen auf die Bühne brachte: hymnische Schwelgerei, wilde Polemik, tumultartige
Schlägerei und pöbelhaftes Geschrei, alles, was so ein Parlament zu bieten hat.
Große Lebendigkeit, ganz im Gegensatz zur geforderten statuarischen
Menschenmenge, aber trotzdem überzeugend.
Die Musik sollte, nach den Anweisungen Strawinskys, „männlich
hart, leidenschaftslos und abgeklärt“ sein und nichts mit der üblichen
Musiksprache der Oper zu tun haben. Diese Absicht allerdings konnte das
Orchester nicht ganz erfüllen. Ihm gerieten unter der Hand von Sebastian Weigle
viele Passagen ein wenig zu rund, zu romantisch angehaucht. Oder bildhaft
gesprochen: den kubistischen Gemälden von Pablo Picasso oder den Readymades von
Marcel Duchamp wurden die Ecken und Kanten abgerundet.
Und dennoch, ein Oedipus
Rex mit Unterleib, so wie sich ihn die Regisseurin Lydia Steier gewünscht
hat, ein doch sehr aktives Stillleben zumindest, das tiefsinniges Bauchgrummeln aufkommen ließ.
Bildmitte oben, ohne Maske: Asmik Grigorian (Jolanta), Ensemble und Chor (Fotos: Barbara Aumüller) |
Grelle Bühne, hysterische Blindheit und romantische Innerlichkeit
Hell und grell dagegen Jolanta. Eine zweistöckige Bühne, ganz in Pink mit unendlich vielen Puppen und maskenhaft gestalteten Figuren, im unteren Bereich eine riesige Manufaktur, in der Puppen und Kleider hergestellt werden. Auf einem riesigen Bett Jolanta im Nachthemd, von drei Nurses umsorgt. Eine skurrile Szenerie, die den Beifall des Publikums herausforderte.
Ein ursprünglich paradiesischer, unwirklicher Garten
wie im Märchen, wurde hier zum abgeschotteten Gefängnis eines verrückten
Königs, René, der seine blinde Tochter, eine wunderschöne junge Frau, in eine erdrückende
Puppenwelt einsperrt, um sie unmündig, in Unkenntnis ihrer Blindheit, zu halten.
Angeblich ist sie seit ihrer Kindheit Robert von Burgund (Gary Griffith, Bariton)) versprochen, der nichts von ihrer
Blindheit wissen darf. Tatsächlich aber ist ihr Bräutigam in Martha verliebt
und René erweist sich als besitzergreifender Vater mit krankhaft inzestuöser
Neigung. Seine Tochter leidet offensichtlich unter dem Syndrom „hysterischer Blindheit“, ein Trauma infolge
eines sexuellen Übergriffes, das nur durch das Bewusstwerden dieser Tat geheilt
werden kann.
Ausgerechnet die psychologische Hilfe des arabischen
Arztes, Ibn-Hakia, ist es, die Licht ins Dunkel bringt: Nur dann, lautet seine
Diagnose, wenn sie sich ihrer Blindheit bewusst wird, kann sie geheilt werden.
Und das geschieht durch den Grafen Vaudémont, der eher durch Zufall in das
Luxusgefängnis gerät und sich sofort in Jolanta verliebt.
Jolanta
ist die letzte Oper Tschaikowskys, und sie gehört zum Besten aus seiner Feder,
voller Anspielungen und Allegorien. Ein große Sinfonie (vieles erinnert an
seine Fünfte) mit einer grandiosen
Jolanta (Asmik Grigorian, Sopran und
Debüt in Frankfurt) und einem umtriebigen, powervollen Graf Vaudémont (AJ Glueckert, Tenor). Hinreißend die
Soloarien und Duette der beiden Ausnahmesänger, die immer wieder frenetischen
Zwischenapplaus ernteten.
Asmik Grigorian (Jolanta) |
Nicht zu verachten aber auch die Mitsänger und der
Chor. Allen voran König René (Robert Pomakov,
Bass), der seine Vaterrolle und seinen autokratischen Herrschaftsanspruch mit
festem Ton wie durchdringender Resonanz verband, und bar jeder Selbstkritik bis
zum Schluss das Geschehene nicht wahr haben will. Ob er sich umbringt (er hält
sich die Pistole in den Mund), bleibt offen. Hervorragend ebenfalls Ibn-Hakia (Andreas Bauer), der mit klarem, sonorem
Bass die Rolle des Aufgeklärten und wissenschaftlich Denkenden spielte. Sein
arabisch angehauchtes Arioso, nachdem er die schlafende Jolanta untersucht
hatte, gehörte mit zum Eindrücklichsten des Abends.
Fast schon an Mozarts Zauberflöte erinnerte das
Terzett der drei Nurses (Elizabeth
Reiter, Sopran, Judita Nagyová,
Mezzo, und Nina Tarandek, Mezzo): „Eie,
eia, schlaf ein“, ein Wiegenlied von engelhafter Leichtigkeit und Helle. Und
nicht zuletzt sei Magnus Baldvinsson
als Bertrand erwähnt, der mit seinem metallenen Bass einen perfekten Aufseher
abgab.
Auch der Chor
erreichte wieder einmal einen neuen Zenit. Herrliche russische Volkslieder wechselten
mit Walzereinlagen und Lobeshymnen. Musikalisch gibt es zwar Bezüge zu Wagner,
vor allem der Schluss erinnert ein wenig an dessen Lohengrin (As-Dur Passage), aber Alles in Allem ist Tschaikowsky
immer er selbst: romantisch verinnerlicht mit den typischen Charakteristika
guter und einprägender Melodik. Was man auch dem Orchester anmerkte, dem
Tschaikowskys Musik wie auf den musikalischen Corpus zugeschnitten schien. Hier
vereinigten sich Gesang und Musik in schwelgerischem Einklang und ließen einen
fast schon beschwingten Höreindruck zurück.
Wird Jolanta von ihrem Trauma geheilt? Man weiß es
nicht. Zwar kann sie wieder sehen, wobei ihr das neu erfahrene Licht
regelrechte Schmerzen bereitet. Sie wirft ihre Vergangenheit rigoros fort,
befindet sich aber weiterhin im Zwiespalt, wenn sie ihren Vater von hinten
umarmt, dabei seinen Revolver ergreift, ihn aber gleich wieder zurückgibt. In
dieser Szene zeigte Asmik Gregorian
noch einmal ihre einsame Klasse, sowohl gesanglich als auch schauspielerisch. Ergreifend
ihre Selbstzweifel und die Härte ihre Erkenntnis. Ihr Verehrer, Graf Vaudémont,
verweilt derweil abseits und der Chor singt mit Wagnerischem Impetus: „Gott, du
hast ihr das Licht geschenkt, allmächtiger Schöpfer, Hosanna.“
Asmik Grigorian (Jolanta), Robert Pomakov (König René) |
Kein Happy End, dafür aber Vieles zum Nachdenken.
Ein großartiger Premierenabend mit zwei exorbitant gelungenen Musikdramen zweier
Komponisten, die Blindheit und Sehen als aufklärerisches Moment moderner
Gesellschaften in zwei großartige Musikwerke transportierten. Ein Opernerlebnis,
dass durchaus wiederholt werden sollte.
Nächste Vorstellungen: 01., 03., 08., 11., 16. und 18.
November 2018
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