Berliner Philharmoniker, Leitung Gustavo Dudamel,
Alte Oper Frankfurt, 05.11.2018
Gustavo Dudamel und die Berliner Philharmoniker (Foto: Stephan Rabold) |
Eine sinfonische Dichtung von bleibender Aktualität
Ein Konzert mit politischer Botschaft und humanistischen Idealen. Gustavo Dudamel (*1981) und seine Berliner Philharmoniker hatten dazu zwei Werke zweier Komponisten ausgewählt, die zu ihrer Zeit die Welt bewegten, und bis heute noch die Gemüter beherrscht: Die Sinfonie Nr. 1, genannt Jeremiah (1942/1944), von Leonard Bernstein (1918-1990) und die Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47 (1937) von Dimitri Schostakowitsch (1906-1975).
Leonard Bernstein verstand seine Sinfonie von Anfang
an als Anklage an Faschismus und Holocaust, die Anfang der 1940er Jahre ihrem
globalen apokalyptischen Höhepunkt zustrebten. 1942 entstanden und 1944 in Pittsburgh
(USA) uraufgeführt, gehörte diese dreiteilige sinfonische Dichtung, die der biblischen
Geschichte des Propheten Jeremia folgt, zum besten neuen klassischen Werk in
der Saison 1943/44 in Amerika und besiegelte den Weltruhm des Komponisten. Bernstein,
der ursprünglich eine Karriere als Rabbi plante, folgt darin dem Beispiel
Beethovens und Mahlers, indem er im Schlusssatz die Klagelieder des Jeremias von einer Mezzosopranistin singen lässt.
Instrumental vorbereitet in Prophecy (Largamente) und Profanation
(Vivace con brio), erhebt sich dieses
Werk von der Weissagung über die Entweihung des Tempels bis zur Klage, der Lamentation (Lento) des Jeremias über
die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier unter Nebukadnezar (587 v. Chr.),
was dem Königreicheich Juda ein Ende bereitete.
Was Dudamel, die Mezzosopranistin, Tamara Mumford, und die Berliner
Philharmoniker daraus machten, gehörte zu den interpretatorischen Denkwürdigkeiten
eines klingenden Mahnmals gegen Gewalt und Unterdrückung. Es begann mit
drohenden Blechbläserfanfaren und dissonanten Akkorden. Grollende Bleche und
extreme Crescendi ließen die Allgewalt Gottes spüren. Mit den Jericho-Trompeten
wurde der Fall Jerusalems vorhergesagt. Die Profanation
oder Entweihung des Tempels, ein pochendes, mit Synkopierung durchsetztes Scherzo, enthielt Anklänge an Bernsteins
spätere West Side Story. Splitter aus
I want to be in America waren
herauszuhören und verwiesen unmissverständlich auf die Rettung der Verfolgten
und Geschundenen.
Die abschließende Lamentation wurde zu einem jüdischen
Herzensgebet, gesungen in hebräischer Sprache, mit einem Schuss Anklage, Wut und
Verzweiflung. Mumford, eine weltbekannte Opernsängerin mit Wagnerischer Fülle,
bot hier großen Gesang mit ergreifenden Passagen. Stimmgewaltig verschmolz sie
mit dem feingliedrigen und zuweilen flächig homophonen und emotional
aufwallenden Orchester, ohne je an Kraft einzubüßen. Dudamel zeigte gerade hier
sein inspiratives und integratives Vermögen, und stellte sein Temperament ganz
in den Dienst der kompositorischen Absicht.
Tamara Mumford (Foto: Teatro Nuovo) |
Statt einer Apotheose ein Libera me
Dimitri Schostakowitschs Fünfte gehört zwar nicht zu seinen eindrucksvollsten und
innovativsten Werken, dafür aber ist es sein bemerkenswertes, da während der stalinistischen Schauprozesse (1937/38) geschrieben. Vorausgegangen war ein,
vermutlich von Stalin höchstpersönlich verfasster Artikel in der Prawda, worin ihm, bezogen auf seine
1935 uraufgeführte Oper Lady Macbeth von
Mzenk, Formalismus und dekadenter Modernismus vorgeworfen wurde. Zur
damaligen Zeit ein absolutes Todesurteil. Bekanntlich übte Schostakowitsch
Selbstkritik (so lautet der Untertitel dieser Sinfonie: „Die praktische
schöpferische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf eine berechtigte Kritik“)
und überlebte die Säuberungsphase. Aber seine Existenz veränderte sich
fundamental. Angst und Rückzug bestimmten seine Zukunft, was sich musikalisch
auch in der Sinfonie Nr. 5, seinem
Folgewerk nach der Oper, niederschlug.
Und dennoch verstand es der Komponist, seine
erzwungenen Kompromisse in eine Musik voller Allusionen und versteckter Kritik
einzubetten. In nur drei Monaten schrieb er eine Partitur der Anklage, die
allerdings von den Kulturpäpsten nicht verstanden wurde, denn das Werk hatte
unvergleichlichen Erfolg.
Was aber geht in diesem Werk vor? Im Aufbau den
Werken von Beethoven, Mahler oder Tschaikowskys ähnlich (viersätzig mit Moderato, Allegretto, Largo und Allegro ma non troppo), erzählt Schostakowitsch eine dramatische,
konfliktreiche Geschichte. Über allem
steht der persönliche Groll. So beginnt der erste Sonatensatz (Moderato) mit aufsteigenden und fallenden Sexten, gefolgt von
punktierten Achtelnoten, die in ein Klagemotiv münden. Militärtrommeln und Trompeten
leiten die disparate Durchführung in einen aufbrausenden Marsch über. Eine Reprise
im Wechselspiel von Trauer, Klage, Widerstand und Wut leitet ein Allegretto von bitterem Dreivierteltakt
ein. Ein Ländler, ein Menuett, ein Walzer? Man weiß es nicht. Alles klingt
drohend, wie eine Anklage. Der Tanz lässt die Knie zittern. Und dann das Largo. Eine Ruhe vor dem Sturm.
Sehnsuchtsvoll die Streicher, bedrohlich allerdings die Bässe. Dann heftige
Tremoli und erschütternde Klänge der Bläser. Ein Dies Irae voller Angstschweiß, eine Chromatik ohne Hoffnung.
Der Schlusssatz wurde lange Zeit als Apotheose im
Stile Beethovens beschrieben. Schostakowitsch schrieb 40 Jahre später dazu: „Das
ist doch keine Apotheose. Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das
nicht zu hören.“ Harte Worte. Aber wie recht er hat. Das Allegro ist ein Parforceritt ins
Verderben. Ein Libera me mit Militärtrommeln,
Paukenschlägen und wütenden Orgelpunkt-Tremoli. Statt „schöpferische Antwort
auf berechtigte Kritik“ eher ein Höllengewitter und Faust ballen. Ein Heulen
und Zähneknirschen.
Gustavo Dudamel und die Berliner Philharmoniker (Foto: Stephan Rabold) |
Dudamel und sein genialischer Klangkörper (seit 10
Jahren begleitet er regelmäßig dieses einzigartige Orchester, das zurzeit von
Kirill Petrenko geleitet wird) schafften mit den beiden Sinfonien ein
zeitgenössisches Ausrufezeichen: eine politische und moralische Anklage gegen Gewalt
und Unterdrückung, eine Nachdenklichkeit in geistigen und philosophischen
Krisenzeiten. Der Schlusstext des Lamentos
aus Bernsteins Erster Sinfonie, ein
vom Wahnsinn getragenes Stoßgebet von Gesang (mit einer bestechenden Tamara Mumford) und Orchester, könnte dem
Konzertabend einen tieferen Sinn verleihen: „Warum willst du uns für immer
vergessen, uns verlassen alle Tage? Bringe uns zurück, o Herr!“
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