Grigory
Sokolov (Klavier), Solo-Rezital im großen Saal der Alten
Oper Frankfurt, 12.11.2018 (Eine Veranstaltung von PRO ARTE)
Grigory Sokolov (Foto: PRO ARTE) |
Ein Erzähler auf den Tasten
Was wäre ein Konzert mit Grigory Sokolov (*1950 in St. Petersburg) ohne seine sechs Zugaben? Was wäre ein Konzert mit ihm ohne große Erzählung auf den Tasten? Sokolov erfüllte beide Erwartungen mit Bravour mit Werken von Ludwig van Beethoven (1770-1827) und Franz Schubert (1797-1828): Sonate Nr. 3 C-Dur op 2 Nr. 3 (1794/95) und Elf Bagatellen (1821/22) von Beethoven sowie Vier Impromptus op. posthum. 142 D 935 (1827) von Schubert.
Beethoven konnte, als er den Sonatenzyklus 1795 vollendete,
bereits unter die Berühmtheiten der Musikszene gezählt werden. Seine ersten
beiden Klavierkonzerte hatten bereits den ungeteilten Beifall des kritischen Wiener
Publikums geerntet (so schreibt es zumindest die Wiener Zeitung) und seine Gleichsetzung mit dem unbestrittenen Star
seiner Zeit, Josef Haydn (Mozart war weitgehend vergessen), stellte ihn auf den
Sockel mit seinem großen Vorbild. Die C-Dur
Sonate ist folgerichtig nicht nur ihm gewidmet (wie auch die beiden anderen
in f-Moll und A-Dur) sondern auch ganz im Duktus der Haydnschen
Sonatenform gehalten. Das allerdings macht die Interpretation dieses Werkes nicht
einfacher, denn wo ist Beethoven und wo ist Haydn, wo ist Plagiat und wo ist Neues
und Avantgardistisches?
In einem allerdings ist sie schon als typisches
Produkt eines aufmüpfigen, extrovertierten, heroischen und zornigen Menschen zu
sehen: nämlich in der Fülle der Ideen, der disparaten Stellen und vor allem an
dem Hang zum Sinfonischen, zum Vielschichtigen, ja zum Orchestralen.
Sokolov nahm sich Zeit, um den Reichtum an Motiven
herauszuschälen, wählte gemäßigte Tempi und vermied jegliche Rubati sowie
Accelerandi oder Rallentandi, konturierte dort wo es notwendig war, ohne den
wütenden Wechsel von Pianissimo und Fortissimo, wie beim späteren Beethoven:
Nein, er pflegte eine strenge Agogik, ohne romantisches Pathos. Auch schaffte
er es, die galante Leichtigkeit und klassische Ernsthaftigkeit, vor allem im
Scherzo und Finalsatz, zusammenzuhalten, ohne manieriert zu wirken. Gerade der
Vierte und gleichzeitige Finalsatz, ein Mischtyp aus Sonaten und Rondoform,
geriet ihm sinfonisch, geradezu episch. Herrliche Sextakkordleiter, gefolgt von
rasenden Sechszehntelläufen, unterbrochen durch ein liedhaftes Zwischenspiel, einer technisch herausfordernden Durchführung
sowie einer Coda, die bereits an Chopins Sonaten erinnerte, ließen unter den
Händen von Sokolov dieses, in vielen Teilen untypische und janusköpfige
Frühwerk zu einem Genuss werden, der allerdings auf Steigerung hoffen ließ.
Grigory Sokolov in der Alten Oper Frankfurt (Foto: Daniel Juch) |
„Kleinigkeiten“ zum Nachdenken und Erheitern
Die Bagatellen
op. 119, die ohne Pause folgten – Sokolov lässt sich nicht feiern –,
zeigten wiederum einen untypischen Beethoven. Elf scheinbar dahingeworfene Piècen,
eine Sammlung von „Kleinigkeiten“, die Beethoven wegen finanzieller Sorgen für
seinen Leipziger Verleger Peters aus älteren Kompositionen, die bis in die 1790er
Jahre zurückreichten, zusammenstellte. Bekanntlich nahm Peters Abstand von der
Veröffentlichung, weil er befürchtete, die Bagatellen könnten als Fälschung
missverstanden werden: „ … dass ich
einen Unterschleif (Betrug) und Ihren Namen jenen Kleinigkeiten fälschlich
vorgesetzt habe, denn dass dieses Werkchen von dem berühmten Beethoven sei,
werden wenige glauben.“ Nebenbei bemerkt gelang erst seinem Klavierschüler,
Ferdinand Ries, die „11 Trifles“ (Kleinigkeiten) ein Jahr später (1823) bei
einem Londoner Verlag unterzubringen.
Was aber machen die Bagatellen so interessant? Sie
sind weder Zyklus noch hängen sie thematisch zusammen. Es sind kleine Etüden, bestehen
aus Tänzen, sind mal gesanglich, liedhaft konzipiert, dann wieder virtuos und
motivisch an diverse eigene Sonaten angelehnt. Sind es existentielle Fragen, die
Beethoven in diesen über fast sein gesamtes Schaffen verteilte Miniaturen
aufwirft? Ist es Bestandteil seines Spätwerks, oder eher kritischer Rückblick?
Sokolov machte all diese Fragen zu einem Konvolut ganz eigensinnigen Humors, zu einer
musikalischen Bilanz mit Augenzwinkern und Ernst, aber ohne Wehmut und Trauer. Wie
ein charmantes Lächeln glitten die Stücke über die Tasten und Sokolov schien in Beethovens Bagatellen seinen
eigenen Blick auf die Vergangenheit in Musik zu fassen. Selten gespielt,
gehörten diese Tonstücke zum Nachdenklichsten und Heitersten dieses Abends, wenn
man von den Zugaben absieht.
Romantischer Zauber bei spontanen Einfällen
Davor aber noch die vier späten Impromptus von Franz Schubert. Schubert war eigentlich das genaue
Gegenstück von Beethoven. Zu Lebzeiten nahezu unbekannt, arm und ohne Stellung,
eher einsam und weltabgewandt, komponierte er lieber für seinen Freundeskreis
und deren Zusammenkünfte, auch Schubertiaden
genannt. Dennoch schaffte er über 1000 Werke, darunter 9 Sinfonien, die zu
Lebzeiten nie aufgeführt wurden, drei Opern, die alle drei untergegangen sind,
und über 600 Lieder. Die Impromptus
(Improvisationen oder auch spontane Einfälle) schließen sein gewaltiges, weit
über das von Beethoven gehende, Werkschaffen ab. Die letzten vier (D 935) von
insgesamt acht beendete er wenige Monate vor seinem allzu frühen Tode. Eigentlich
ist es nach Robert Schumann (1810-1856), der nebenbei auch Musikkritiker war,
und dem Musikwissenschaftler Alfred Einstein (1880-1952) eine viersätzige Sonate,
„woran kein Zweifel bestehen kann“.
Egal, denn tatsächlich durchzog ein romantischer
Zauber den vollbesetzten Saal der Alten Oper. Sokolov machte aus den spontanen
Einfällen ein Meisterwerk der Poesie. Auch hier wählte er, wie bei Beethovens
Sonate, ein moderates Tempo, spielte mit abgeklärter, altersweiser Gelassenheit.
Seine fließenden Übergänge schafften tragende Zusammenhänge. Selbst die Variationen des dritten Impromptus, nach
einer Zwischenaktmelodie aus dem Schauspiel der Rosamunde, konnten da durchaus an Beethovens späte Sonatenform
anknüpfen. Sokolov bewegte sich durch die fünf Variationen mit lyrischer
Gesanglichkeit, zierlicher Verspieltheit und angemessenem Pathos. Hochgradig elektrifizierend
dann sein abschließendes Allegro
scherzando. Gar nicht furios, wie üblicherweise gespielt, sondern extrem pointiert, fein gegliedert, wird
es erst am Schluss zum Prestissimo, zu einem wahren Teufelsritt.
Grigory Sokolov in der Alten Oper Frankfurt (Foto: Daniel Juch) |
Sokolov verstand es wieder einmal ausgezeichnet, das über 50-minütige Gesamtwerk
zu einer großen Erzählung werden zu lassen. Spannungsgeladen und von
klanglicher nachhaltiger Schönheit, die das Publikum zu Begeisterungsstürmen
hinriss.
Dann seine obligatorischen sechs Zugaben, mittlerweile
ein Markenzeichen des Dichters und Erzählers auf den Tasten. Nicht überraschend
das As-Dur Impromptu aus Schuberts
erstem Zyklus (D 899). Mit starker Akzentuierung der begleitenden Hand ein ganz
neues Hörerlebnis. Aber dann kleine, von ihm noch nicht gehörte Tänze und
spanische Rhythmen von Philippe Rameau, ein nach Abschied klingendes, ins
Atonale gleitendes Poem von Alexander N. Skrjabin und Des pas sur neige (Schritte
durch den Schnee), ein Prélude
von Claude Debussy. Eine tief traurige Klangwelt in einer eisigen Schneelandschaft.
Ein endgültiges Adieu, das Sokolovs Sensibilität und Einfühlsamkeit, seine außergewöhnliche
Tongestaltung und Farbigkeit noch einmal toppte. Sokolov kann auch Barock und
Moderne, und das bezaubernd schön.
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