Dienstag, 13. November 2018


Grigory Sokolov (Klavier), Solo-Rezital im großen Saal der Alten Oper Frankfurt, 12.11.2018 (Eine Veranstaltung von PRO ARTE)


Grigory Sokolov (Foto: PRO ARTE)

Ein Erzähler auf den Tasten


Was wäre ein Konzert mit Grigory Sokolov (*1950 in St. Petersburg) ohne seine sechs Zugaben? Was wäre ein Konzert mit ihm ohne große Erzählung auf den Tasten? Sokolov erfüllte beide Erwartungen mit Bravour mit Werken von Ludwig van Beethoven (1770-1827) und Franz Schubert (1797-1828): Sonate Nr. 3 C-Dur op 2 Nr. 3 (1794/95) und Elf Bagatellen (1821/22) von Beethoven sowie Vier Impromptus op. posthum. 142 D 935 (1827) von Schubert.


Beethoven konnte, als er den Sonatenzyklus 1795 vollendete, bereits unter die Berühmtheiten der Musikszene gezählt werden. Seine ersten beiden Klavierkonzerte hatten bereits den ungeteilten Beifall des kritischen Wiener Publikums geerntet (so schreibt es zumindest die Wiener Zeitung) und seine Gleichsetzung mit dem unbestrittenen Star seiner Zeit, Josef Haydn (Mozart war weitgehend vergessen), stellte ihn auf den Sockel mit seinem großen Vorbild. Die C-Dur Sonate ist folgerichtig nicht nur ihm gewidmet (wie auch die beiden anderen in f-Moll und A-Dur) sondern auch ganz im Duktus der Haydnschen Sonatenform gehalten. Das allerdings macht die Interpretation dieses Werkes nicht einfacher, denn wo ist Beethoven und wo ist Haydn, wo ist Plagiat und wo ist Neues und Avantgardistisches?

In einem allerdings ist sie schon als typisches Produkt eines aufmüpfigen, extrovertierten, heroischen und zornigen Menschen zu sehen: nämlich in der Fülle der Ideen, der disparaten Stellen und vor allem an dem Hang zum Sinfonischen, zum Vielschichtigen, ja zum Orchestralen.

Sokolov nahm sich Zeit, um den Reichtum an Motiven herauszuschälen, wählte gemäßigte Tempi und vermied jegliche Rubati sowie Accelerandi oder Rallentandi, konturierte dort wo es notwendig war, ohne den wütenden Wechsel von Pianissimo und Fortissimo, wie beim späteren Beethoven: Nein, er pflegte eine strenge Agogik, ohne romantisches Pathos. Auch schaffte er es, die galante Leichtigkeit und klassische Ernsthaftigkeit, vor allem im Scherzo und Finalsatz, zusammenzuhalten, ohne manieriert zu wirken. Gerade der Vierte und gleichzeitige Finalsatz, ein Mischtyp aus Sonaten und Rondoform, geriet ihm sinfonisch, geradezu episch. Herrliche Sextakkordleiter, gefolgt von rasenden Sechszehntelläufen, unterbrochen durch ein liedhaftes Zwischenspiel, einer technisch herausfordernden Durchführung sowie einer Coda, die bereits an Chopins Sonaten erinnerte, ließen unter den Händen von Sokolov dieses, in vielen Teilen untypische und janusköpfige Frühwerk zu einem Genuss werden, der allerdings auf Steigerung hoffen ließ.

Grigory Sokolov in der Alten Oper Frankfurt (Foto: Daniel Juch)

„Kleinigkeiten“ zum Nachdenken und Erheitern


Die Bagatellen op. 119, die ohne Pause folgten – Sokolov lässt sich nicht feiern –, zeigten wiederum einen untypischen Beethoven. Elf scheinbar dahingeworfene Piècen, eine Sammlung von „Kleinigkeiten“, die Beethoven wegen finanzieller Sorgen für seinen Leipziger Verleger Peters aus älteren Kompositionen, die bis in die 1790er Jahre zurückreichten, zusammenstellte. Bekanntlich nahm Peters Abstand von der Veröffentlichung, weil er befürchtete, die Bagatellen könnten als Fälschung missverstanden werden: „  … dass ich einen Unterschleif (Betrug) und Ihren Namen jenen Kleinigkeiten fälschlich vorgesetzt habe, denn dass dieses Werkchen von dem berühmten Beethoven sei, werden wenige glauben.“ Nebenbei bemerkt gelang erst seinem Klavierschüler, Ferdinand Ries, die „11 Trifles“ (Kleinigkeiten) ein Jahr später (1823) bei einem Londoner Verlag unterzubringen.

Was aber machen die Bagatellen so interessant? Sie sind weder Zyklus noch hängen sie thematisch zusammen. Es sind kleine Etüden, bestehen aus Tänzen, sind mal gesanglich, liedhaft konzipiert, dann wieder virtuos und motivisch an diverse eigene Sonaten angelehnt. Sind es existentielle Fragen, die Beethoven in diesen über fast sein gesamtes Schaffen verteilte Miniaturen aufwirft? Ist es Bestandteil seines Spätwerks, oder eher kritischer Rückblick? 
Sokolov machte all diese Fragen zu einem Konvolut ganz eigensinnigen Humors, zu einer musikalischen Bilanz mit Augenzwinkern und Ernst, aber ohne Wehmut und Trauer. Wie ein charmantes Lächeln glitten die Stücke über die Tasten und Sokolov schien in Beethovens Bagatellen seinen eigenen Blick auf die Vergangenheit in Musik zu fassen. Selten gespielt, gehörten diese Tonstücke zum Nachdenklichsten und Heitersten dieses Abends, wenn man von den Zugaben absieht.

Romantischer Zauber bei spontanen Einfällen


Davor aber noch die vier späten Impromptus von Franz Schubert. Schubert war eigentlich das genaue Gegenstück von Beethoven. Zu Lebzeiten nahezu unbekannt, arm und ohne Stellung, eher einsam und weltabgewandt, komponierte er lieber für seinen Freundeskreis und deren Zusammenkünfte, auch Schubertiaden genannt. Dennoch schaffte er über 1000 Werke, darunter 9 Sinfonien, die zu Lebzeiten nie aufgeführt wurden, drei Opern, die alle drei untergegangen sind, und über 600 Lieder. Die Impromptus (Improvisationen oder auch spontane Einfälle) schließen sein gewaltiges, weit über das von Beethoven gehende, Werkschaffen ab. Die letzten vier (D 935) von insgesamt acht beendete er wenige Monate vor seinem allzu frühen Tode. Eigentlich ist es nach Robert Schumann (1810-1856), der nebenbei auch Musikkritiker war, und dem Musikwissenschaftler Alfred Einstein (1880-1952) eine viersätzige Sonate, „woran kein Zweifel bestehen kann“.

Egal, denn tatsächlich durchzog ein romantischer Zauber den vollbesetzten Saal der Alten Oper. Sokolov machte aus den spontanen Einfällen ein Meisterwerk der Poesie. Auch hier wählte er, wie bei Beethovens Sonate, ein moderates Tempo, spielte mit abgeklärter, altersweiser Gelassenheit. Seine fließenden Übergänge schafften tragende Zusammenhänge. Selbst die Variationen des dritten Impromptus, nach einer Zwischenaktmelodie aus dem Schauspiel der Rosamunde, konnten da durchaus an Beethovens späte Sonatenform anknüpfen. Sokolov bewegte sich durch die fünf Variationen mit lyrischer Gesanglichkeit, zierlicher Verspieltheit und angemessenem Pathos. Hochgradig elektrifizierend dann sein abschließendes Allegro scherzando. Gar nicht furios, wie üblicherweise gespielt, sondern extrem pointiert, fein gegliedert, wird es erst am Schluss zum Prestissimo, zu einem wahren Teufelsritt. 
Grigory Sokolov in der Alten Oper Frankfurt (Foto: Daniel Juch)

Sokolov verstand es wieder einmal ausgezeichnet, das über 50-minütige Gesamtwerk zu einer großen Erzählung werden zu lassen. Spannungsgeladen und von klanglicher nachhaltiger Schönheit, die das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriss.

Dann seine obligatorischen sechs Zugaben, mittlerweile ein Markenzeichen des Dichters und Erzählers auf den Tasten. Nicht überraschend das As-Dur Impromptu aus Schuberts erstem Zyklus (D 899). Mit starker Akzentuierung der begleitenden Hand ein ganz neues Hörerlebnis. Aber dann kleine, von ihm noch nicht gehörte Tänze und spanische Rhythmen von Philippe Rameau, ein nach Abschied klingendes, ins Atonale gleitendes Poem von Alexander N. Skrjabin und Des pas sur neige (Schritte durch den Schnee), ein Prélude von Claude Debussy. Eine tief traurige Klangwelt in einer eisigen Schneelandschaft. Ein endgültiges Adieu, das Sokolovs Sensibilität und Einfühlsamkeit, seine außergewöhnliche Tongestaltung und Farbigkeit noch einmal toppte. Sokolov kann auch Barock und Moderne, und das bezaubernd schön.

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