Mittwoch, 28. November 2018


Happy New Ears 2018/19: Portrait Rolf Riehm, Werkstattkonzert in der Oper Frankfurt mit dem Ensemble Modern, 27.11.2018

Rolf Riehm (Foto: Stefan Forster)

Ein radikaler Grenzüberschreiter

Rolf  Riehm (*1937) ist ein unverbesserlicher Grenzüberschreiter. Seine Musik  verlässt konsequent jegliche kompositorische Tradition. Bei ihm gibt es keine herkömmliche Form mehr. Statt dessen „Schübe“, „Vermengungen von Wahrnehmungen“, ein Gemisch aus erfundenen Topoi“, „zutiefst menschlich“, oder, wie es Christian Hommel, Oboist des Ensemble Modern, Moderator und Dirigent des Abends, formulierte, einfach „nur pure Musik“.


Vorgestellt wurden zwei Werke aus seinen jüngsten Kompositionen: Lenz in Moskau – ein Melodram in fünf Schüben für sieben Instrumentalisten und zwei Sprecher (2010/2018) sowie Adieu, Sirènes für Mezzosopran, zwei Violoncelli und zwei Trompeten (2015). Beide Extreme menschlicher, mythischer und ästhetischer Existenzen.

Lenz in Moskau erzählt die Geschichte des Sturm und Drängers Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), der von Goethe gegängelt, gar missachtet, aus Weimar verbannt, von schizophrenen Zügen geplagt durch Europas Welt zieht und schließlich „von wenigen vermisst und von niemand betrauert“ unwürdig auf Moskaus Straßen stirbt. Aber es ist vor allem eine Anklage an Johann Wolfgang von Goethe, der als Machtmensch und selbsternanntes Genie niemand neben sich duldete und alle Dichter und Vertreter des Sturm und Drang denunzierte, sich abfällig über sie äußerte, darunter Heinrich Leopold Wagner, Friedrich Maximilian Klinger, Heinrich von Kleist oder auch Friedrich Hölderlin. Nur Lenz erwischte es am Schlimmsten. Seine „Eseleien“, sein „liebenswürdiger Wirrkopf“ trieben ihn, auch auf Betreiben Goethes hin, in die gesellschaftliche Isolation, die Geisteskrankheit und in den Tod. Von all den Sturm und Drängern, heißt es, war Lenz der Traurigste.

Riehms Musik dazu ist von außerordentlicher Intensität. Er geht den Weg des Paradoxons, indem er ein Ensemble in seine Einzelteile zerlegt. Ein stammelndes Violoncello (Eva Böcker) mit einem Motiv, das innerhalb einer Quarte changiert, korrespondiert mit einer Posaune (Carlo Eisenmann), die scheinbar unmotiviert wild dazwischenfährt. Eine gesungene Melodie von der Trompete (Sava Stoianov) erweist sich sehr bald als unsingbar. Sie gleitet ab in unmögliche Lagen, zitternde Flageoletts und brummelndes Zungenflattern. Die zwischendurch erzählte Geschichte (im Wechsel: Eva Böcker und Ueli Wiget) bot die Klammer zwischen Text und musikalischer Dramatik. Riehm, so meinte er im Gespräch mit Klaus Zehelein (*1940), geht es um die Darstellung von Vereinsamung des Menschen, der Unmöglichkeit der Kommunikation. Insofern seien die Instrumentalisten durchaus isoliert, auch wenn mitunter ein Zusammenspiel hörbar wird. Aber selbst das sei absolut gestört. Zehelein ergänzte: „Es ist die Sprachlosigkeit des Musikers, die hier ausgereizt wird. Er ist nicht mehr Herr im eigenen Hause. Er wird durch die musikalische Vorgabe an den Rand des Unvermögens getrieben.“

Dieses Stück bot in seiner revidierten Fassung, das heißt ohne elektronische Zuspielung und mit neun Instrumentalisten (Singende Säge und Gitarre), eine beeindruckende Reflexion über das „Herausfallen eines Dichters aus der Ordnung der Dinge“ (Frank Castorf). Ein musikalisches Drama mit sozialpsychologischer und politischer Attitüde.

Adieu, Sirènes (2015), v.l.: Markus Bebek, Christian Hommel (Dirigent), Michael M. Kasper, Sarah Maria Sun (Sopran)
Eva Böcker, Sava Stoianov (Foto: Barbara Fahle)

Die Sirenen wollen nicht mehr verführen


Adieu, Sirènes besteht, so der Komponist, weitgehend aus Vermengungen, Wahrnehmungen und Assoziationen. Er sprach von Helene-Fischer-Auftritten im Fernsehen und dem gleichzeitigen Beschuss der syrischen Städte Aleppo, Tyros und Rakka. Dann erzählte er von dem gegoogelten Satz zum Begriff des Terreur: „Wir leben in einer Epoche des Terrors, der keine Grenzen zu kennen scheint“, der ihn für diese Komposition inspiriert habe. Der Abgesang der Sirenen, ihr betörender aber tödlicher Gesang, der lediglich von Odysseus und Orpheus überwunden wurde, sei heute sinnbildlich für die Existenz der Kunst im Allgemeinen und der Musik im Besonderen. Die Frage, ob dieser Abschied bereits geschehen sei, beantwortete er mit: „Ich weiße es nicht.“ Und an das Publikum gewandt: „Vielleicht verabschieden Sie sich von mir?“

Sehr theatralisch in einer Pyramide aufgestellt, die Sopranistin, Sarah Maria Sun, in grüner Robe in der Mitte, daneben die beiden CellistInnen, Eva Böcker (rot) und Michael M. Kasper (gelb), und außen die beiden Trompeter, Sava Stoianov und Markus Bebek (schwarz). 
Hinreißend Sarah Maria Sun als Sirene, mit extremem Stimmumfang, langen, komplexen Melismen, gewaltigen Intervallsprüngen, präziser Intonation und einem abschließenden Lamento von entsetztem Schauern bis zum Weinen schön. Ein Wechselspiel der Gefühle, mit nachdrücklicher Theatralik und großer Geste performt. Dazu die Instrumentalisten, die mal melodisch, mal chaotisch, mal erhaben, mal verzweifelt interagierten. Der Gesangstext, vom Komponisten selbst, könnte der Abgesang der Kunst sein, denn die Sirenen „sitzen auf der Wiese von aufgehäuften Gebeinen“. Überhaupt ist der Text eine Anklage an die Moderne, die den Terror zu ihrem Inhalt gemacht hat. Vor diesem Hintergrund wollen die Sirenen nicht mehr verführen, denn den Tod bereiten sich die Menschen selbst alltäglich.

Kommen wir an dieser Stelle auf den Mythos der Sirenen zurück. Eigentlich Inbegriff des betörend tödlichen Gesangs gehören die Sirenen bei Adorno zu den Begründern des modernen Konzertwesens. Der Mensch obsiegt, aber um den Preis des eigenen Untergangs, falls er ihre Überwindung nicht schafft. Das Urproblem des Künstlers heute, sich auf Gedeih und Verderb dem Publikum (den Sirenen?) zu stellen.

Zehelein sprach von den Mittelchen, die sich Odysseus und Orpheus ausdachten, um den Sirenengesang zu überstehen, aber auch von der Bedeutung des Sehens, von der Erkenntnis des Raums und der Bedeutung des Theaters. Es folgte ein höchst emotionales Plädoyer gegen die angedachte Versetzung des Opernhauses an einen anderen Ort. „Ein doofer Gedanke“, oder, um mit Goethe zu sprechen, eine Eselei, die der Kunst unabwendbaren Schaden zufüge. Frankfurt brauche keine Elbphilharmonie und keinen Osthafen als Kunstzentrum. Frankfurt brauche allein dieses Opernhaus, das bereits bestens den tödlichen Gesängen der Sirenen widerstehe.

Viel Beifall aus dem gut besetzten Opernsaal für die Diskutanten, Rolf Riehm, Hans Zehelein und Christian Hommel sowie die Mitglieder des Ensemble Modern und allen voran die Solistin, Sarah Maria Sun.

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