Happy New Ears 2018/19: Portrait Rolf Riehm, Werkstattkonzert in der Oper Frankfurt mit dem Ensemble
Modern, 27.11.2018
Rolf Riehm (Foto: Stefan Forster) |
Ein radikaler Grenzüberschreiter
Rolf Riehm (*1937) ist ein unverbesserlicher
Grenzüberschreiter. Seine Musik verlässt
konsequent jegliche kompositorische Tradition. Bei ihm gibt es keine
herkömmliche Form mehr. Statt dessen „Schübe“, „Vermengungen von Wahrnehmungen“,
ein Gemisch aus erfundenen Topoi“, „zutiefst menschlich“, oder, wie es
Christian Hommel, Oboist des Ensemble Modern, Moderator und Dirigent des Abends,
formulierte, einfach „nur pure Musik“.
Vorgestellt wurden
zwei Werke aus seinen jüngsten Kompositionen: Lenz in Moskau – ein Melodram in fünf Schüben für sieben
Instrumentalisten und zwei Sprecher (2010/2018) sowie Adieu, Sirènes für Mezzosopran, zwei Violoncelli und zwei Trompeten
(2015). Beide Extreme menschlicher, mythischer und ästhetischer Existenzen.
Lenz in Moskau erzählt die Geschichte des Sturm und Drängers
Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), der von Goethe gegängelt, gar
missachtet, aus Weimar verbannt, von schizophrenen Zügen geplagt durch Europas
Welt zieht und schließlich „von wenigen vermisst und von niemand betrauert“ unwürdig
auf Moskaus Straßen stirbt. Aber es ist vor allem eine Anklage an Johann
Wolfgang von Goethe, der als Machtmensch und selbsternanntes Genie niemand neben sich
duldete und alle Dichter und Vertreter des Sturm und Drang denunzierte, sich
abfällig über sie äußerte, darunter Heinrich Leopold Wagner, Friedrich
Maximilian Klinger, Heinrich von Kleist oder auch Friedrich Hölderlin. Nur Lenz
erwischte es am Schlimmsten. Seine „Eseleien“, sein „liebenswürdiger Wirrkopf“
trieben ihn, auch auf Betreiben Goethes hin, in die gesellschaftliche Isolation,
die Geisteskrankheit und in den Tod. Von all den Sturm und Drängern, heißt es,
war Lenz der Traurigste.
Riehms Musik dazu ist
von außerordentlicher Intensität. Er geht den Weg des Paradoxons, indem er ein
Ensemble in seine Einzelteile zerlegt. Ein stammelndes Violoncello (Eva Böcker)
mit einem Motiv, das innerhalb einer Quarte changiert, korrespondiert mit einer
Posaune (Carlo Eisenmann), die scheinbar unmotiviert wild dazwischenfährt. Eine
gesungene Melodie von der Trompete (Sava Stoianov) erweist sich sehr bald als
unsingbar. Sie gleitet ab in unmögliche Lagen, zitternde Flageoletts und
brummelndes Zungenflattern. Die zwischendurch erzählte Geschichte (im Wechsel:
Eva Böcker und Ueli Wiget) bot die Klammer zwischen Text und musikalischer Dramatik.
Riehm, so meinte er im Gespräch mit Klaus Zehelein (*1940), geht es um die
Darstellung von Vereinsamung des Menschen, der Unmöglichkeit der Kommunikation.
Insofern seien die Instrumentalisten durchaus isoliert, auch wenn mitunter ein
Zusammenspiel hörbar wird. Aber selbst das sei absolut gestört. Zehelein
ergänzte: „Es ist die Sprachlosigkeit des Musikers, die hier ausgereizt wird.
Er ist nicht mehr Herr im eigenen Hause. Er wird durch die musikalische Vorgabe
an den Rand des Unvermögens getrieben.“
Dieses Stück bot in
seiner revidierten Fassung, das heißt ohne elektronische Zuspielung und mit
neun Instrumentalisten (Singende Säge und Gitarre), eine beeindruckende
Reflexion über das „Herausfallen eines Dichters aus der Ordnung der Dinge“ (Frank
Castorf). Ein musikalisches Drama mit sozialpsychologischer und politischer
Attitüde.
Adieu, Sirènes (2015), v.l.: Markus Bebek, Christian Hommel (Dirigent), Michael M. Kasper, Sarah Maria Sun (Sopran) Eva Böcker, Sava Stoianov (Foto: Barbara Fahle) |
Die Sirenen wollen nicht mehr verführen
Adieu, Sirènes besteht, so der Komponist, weitgehend aus Vermengungen, Wahrnehmungen
und Assoziationen. Er sprach von Helene-Fischer-Auftritten im Fernsehen und dem
gleichzeitigen Beschuss der syrischen Städte Aleppo, Tyros und Rakka. Dann erzählte
er von dem gegoogelten Satz zum Begriff des
Terreur: „Wir leben in einer Epoche des Terrors, der keine Grenzen zu kennen
scheint“, der ihn für diese Komposition inspiriert habe. Der Abgesang der Sirenen,
ihr betörender aber tödlicher Gesang, der lediglich von Odysseus und Orpheus
überwunden wurde, sei heute sinnbildlich für die Existenz der Kunst im
Allgemeinen und der Musik im Besonderen. Die Frage, ob dieser Abschied bereits
geschehen sei, beantwortete er mit: „Ich weiße es nicht.“ Und an das Publikum
gewandt: „Vielleicht verabschieden Sie sich von mir?“
Sehr theatralisch in
einer Pyramide aufgestellt, die Sopranistin, Sarah Maria Sun, in grüner Robe in der Mitte, daneben die beiden
CellistInnen, Eva Böcker (rot) und Michael M. Kasper (gelb), und außen die
beiden Trompeter, Sava Stoianov und Markus Bebek (schwarz).
Hinreißend Sarah
Maria Sun als Sirene, mit extremem Stimmumfang, langen, komplexen Melismen,
gewaltigen Intervallsprüngen, präziser Intonation und einem abschließenden Lamento
von entsetztem Schauern bis zum Weinen schön. Ein Wechselspiel der Gefühle, mit
nachdrücklicher Theatralik und großer Geste performt. Dazu die Instrumentalisten,
die mal melodisch, mal chaotisch, mal erhaben, mal verzweifelt interagierten.
Der Gesangstext, vom Komponisten selbst, könnte der Abgesang der Kunst sein,
denn die Sirenen „sitzen auf der Wiese von aufgehäuften Gebeinen“. Überhaupt
ist der Text eine Anklage an die Moderne, die den Terror zu ihrem Inhalt
gemacht hat. Vor diesem Hintergrund wollen die Sirenen nicht mehr verführen,
denn den Tod bereiten sich die Menschen selbst alltäglich.
Kommen wir an dieser
Stelle auf den Mythos der Sirenen zurück. Eigentlich Inbegriff des betörend
tödlichen Gesangs gehören die Sirenen bei Adorno zu den Begründern des modernen
Konzertwesens. Der Mensch obsiegt, aber um den Preis des eigenen Untergangs,
falls er ihre Überwindung nicht schafft. Das Urproblem des Künstlers heute, sich
auf Gedeih und Verderb dem Publikum (den Sirenen?) zu stellen.
Zehelein sprach von
den Mittelchen, die sich Odysseus und Orpheus ausdachten, um den Sirenengesang
zu überstehen, aber auch von der Bedeutung des Sehens, von der Erkenntnis des
Raums und der Bedeutung des Theaters. Es folgte ein höchst emotionales Plädoyer
gegen die angedachte Versetzung des Opernhauses an einen anderen Ort. „Ein
doofer Gedanke“, oder, um mit Goethe zu sprechen, eine Eselei, die der Kunst unabwendbaren
Schaden zufüge. Frankfurt brauche keine Elbphilharmonie und keinen Osthafen als
Kunstzentrum. Frankfurt brauche allein dieses Opernhaus, das bereits bestens
den tödlichen Gesängen der Sirenen widerstehe.
Viel Beifall aus dem
gut besetzten Opernsaal für die Diskutanten, Rolf Riehm, Hans Zehelein und
Christian Hommel sowie die Mitglieder des Ensemble Modern und allen voran die Solistin,
Sarah Maria Sun.
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