Dienstag, 11. Dezember 2018


Ensemble Modern mit Jaan Bossier (Metallkontrabassklarinette) unter der Leitung von Ilan Volkov, Alte Oper Frankfurt (Mozartsaal), 10.12.2018

Neue Musik ohne Grenzen


Vier Komponisten scharten sich in der Konzerteinführung um den Moderator, Patrick Hahn, und plauderten zu ihren nicht mehr so ganz neuen Werken aus dem sprichwörtlichen Nähkästchen: der Palästinenser, Israeli und seit 26 Jahren in Deutschland lebende Samir Odeh-Tamimi (*1970), der Franzose Yann Robin (*1974), die Deutsch-Jüdin Sarah Nemtsov  (*1980) sowie der deutschstämmige Johannes Motschmann (*1978).


Vier Persönlichkeiten mit gänzlich unterschiedlichen Biographien und entsprechend sehr individuellen Musikauffassungen, was sich bereits in der Darstellung ihrer Ideen und musikalischen Umsetzungen zeigte. Odeh-Tamimi auf der Suche nach dem Klang der Weltstadt zwischen den Kulturen, Istanbul, Robin auf der Suche nach den materialen Urkräften der Erde, Nemtsov auf der Suche nach musikalischen Biographien und Motschmann auf der Suche nach dem virtuellen Raum.
Die Besonderheit dieses Abends war es, dass das Ensemble Modern (EM), fast in Gesamtstärke, sein exzeptionelles musikalische Potenzial zur Geltung bringen konnte, denn alle Kompositionen (ausgenommen A long way away, ein Oktett) erforderten Ensembles zwischen 18 und 20 Instrumentalisten.
Samir Odeh-Tamimi (Foto: Karsten Witt)

Zunächst Odeh-Tamimis Cihangir (2008, revidierte Fassung 2009). Dieses Stück entstand 2008 im Rahmen des Projekts „into …“, das, in Zusammenarbeit mit dem EM, dem Siemens Art Programm sowie des Goetheinstituts, vier ausgewählte Komponisten für einen Monat nach Istanbul schickte (neben Odeh-Tamimi noch Mark Andre, Beat Furrer und Vladimir Tarnopolski), um Eindrücke und Atmosphäre musikalisch einzufangen. Herausgekommen ist unter anderen Cihangir, nach einem pulsierenden weltoffenen Stadtteil benannt, ein „musikalisches Tagebuch“ für 18 Instrumentalisten mit arabischer Darbuka-Trommel und geschichteten Muezzinrufen.

Odeh-Tamimi mischte die Vielfalt der Geräusche dieses Szenenviertels mit westeuropäischen Klangfarben, ein Gemisch zwischen chaotischem Krach und Pressgesängen der Holzinstrumente, zwischen arabischem Maqam, dem Umspielen eines Haupttons im Sekundbereich, und den Echos und Halleffekten der quirligen Straßenszenen. Ein kurzweiliger Einstieg, der viel vermittelte, was der Komponist im Vorgespräch andeutete: „Ich habe mich wie eine schleichende Katze gefühlt, die von einem Monster angebrüllt wurde.“

Yann Robin (Foto: Henry Lemoine)

Yann Robins Art of Metal (2007) ist ein Konzert für eine Metallkontrabassklarinette mit Metallmundstück. Was möchte er mit diesem Bau eines neuen Instruments bewirken? Spontan ist man an Helmut Lachenmanns Devise: „Komponieren heißt … Instrumente bauen“ erinnert. Tatsächlich geht es Robin aber um die Entdeckung neuer Materialien für die Musik, wobei er alle Metamorphosen des Metalls, von der flüssigen bis zur härtesten Form, musikalisch verarbeitet und umdeutet. Ergänzt durch die Mischung von Stimme und Instrument entstehen Klangspektren von außerordentlicher Eindringlichkeit.  

Jaan Bossier bearbeitete dieses ästhetisch wunderschöne Instrument mit knalliger Härte und gesanglicher Wärme (einem Basssaxophon-Sound ähnlich), mit klopfendem Beat und doppelstimmigem Gesang. Beeindruckend sein Duett mit dem Kontrabass (Paul Cannon), ein heftiger Disput, der von Clustern des Klaviers und Schlagzeugs untermalt wurde. Auch die eingestreuten langsamen Passagen – Zeit zum Luftholen –, mit Streicherflageoletts und virtuosen Bläsereinlagen, verliehen dem Kampf der Titanen zusätzlich Würze. Ein sehr physisches Stück, das das härteste aller Metalle zu formen verstand. Ein Solist wie ein Vulkan und ein Ensemble Modern wie die leibhaftigen Titanen.

Zwischen Assoziation und Virtualität

Sarah Nemtsov (Foto: Sarah Nemtsov)

A long way away (2011) von Sarah Nemtsov besteht aus einem siebenteiligen Zyklus (dem siebenarmigen Leuchter, der Menorah nachempfunden), woraus sie den vierten Teil, das mittlere Stück also, präsentierte. Sie bevorzugt in ihrer Musik Bezüge zur Literatur, um sich der eigenen Gegenwart zu versichern, wie sie sagt. Immer also ist ihre Tonsprache mit literarischen Biographien assoziiert. Konkret geht es in diesem Stück um vier fiktive jüdische Personen, deren Lebensgeschichten tragisch und skurril verlaufen – sie fühlen sich fremd in dieser Welt und löschen sich selbst aus. Dabei bezieht sie sich auf  W.G. Sebalds Buch Die Ausgewanderten (1992).

Musikalisch ideenreich – sie verwendet ein elektronisch verstärktes Cembalo, eine Schreibmaschine, ein Radio-Weltempfänger, Pappkartons und diverse Tröten, Rasseln und Ratschen – changieren die Tonfolgen zwischen Harmonie (Dreiklängen) und Kakophonie (Cluster), unterbrochen von Radiogeräuschen und unverständlichen Wortfetzen.

Auch wenn sie allen beschriebenen Personen einen eigenen Charakter zuordnet, wie im Vorgespräch hervorhoben, wirkte das Stück insgesamt doch ziemlich zersplittert, mitunter beliebig bis unfertig. Immer dann aber, wenn die Schreibmaschine einen Rhythmus formte, wurde es lebendig und assoziativ. Ihr Wahlspruch aus Sebalds Buch, zudem Titel dieses Stücks, könnte aber gerade auch für ihre musikalische Absicht gelten: „Ich weiß nicht, woher ich komme …“ Eine ganz subjektive Haltung, die durchaus typisches Merkmal der postmodernen Gesellschaft geworden ist.

Johannes Motschmann (Foto: Johannes Motschmann)

Vollkommen in der realen Virtualität dagegen Attac Decay (2011). Johannes Motschmann hat dieses Stück bereits vor sieben Jahren im Auftrag des EM geschrieben. Er gilt als Grenzgänger, der die Räume zwischen E- und U-Musik erkundet und von Jazz, Pop, Elektronik bis Avantgarde alles miteinander zu mischen versteht.

Attac decay ist der elektronischen Musik entnommen und bezeichnet einen Teil der Hüllkurve (A für Anstieg, D für Abfall, S für Sustain /Halten und R für Release/Freigeben), die vor allem für Synthesizer und computergenerierte Musik von Bedeutung ist. Warum auf AD reduziert? Weil dies einen impulshaften Ton erzeugt, der in dieser Komposition durch rasend schnelle Staccati, quer durch alle Instrumente und Tonhöhen, weite Teile des Klanggeschehens beherrscht. Hoch explosiv mit virtuosen Einschüben von Klavier, Geige, Kontrabass und Flöte, aber auch mit melodischen Passagen von Horn und Trompeten am Schluss, wechselte das 15-minütige Powerstück gnadenlos zwischen treibenden Tuttiarpeggien zu Popmusikzitaten (hier wohl, so der Komponist, Closer von den The Chainsmokers), die den Raum nicht allein in Schwingung versetzten, sondern vor allem die Absicht des Komponisten, Raum statt konkret, virtuell zu denken, fast schon physische erfahrbar machte. Seine orchestralen Klangbilder ließen zeitweise den begrenzten Raum des Mozartsaals in endlose Weiten transformieren – zumindest in den Köpfen.

Motschmann sprach im Vorgespräch von einem Schachbrettverfahren, das mit seinen Übertreibungen die Akteure schier in den Wahnsinn treibe. Dennoch habe sich seine „Rücksichtslosigkeit“ (das Stück fordert die Grenzen des spielerischen Vermögens heraus), gelohnt, denn das Werk wirke insgesamt doch „sehr sortiert“. Sortiert durchaus, aber auch experimentierfreudig sowie formschön und aufreibend gefällig. Seine Musik löste nicht von ungefähr große Begeisterung beim Publikum aus.  

Ein bunter Abend mit vier sehr unterschiedlichen Kompositionen für Ensemble, was die musikalische Vielfalt des EM auf eine harte Probe stellte, das es aber unter der umsichtigen musikalischen Leitung von Ilan Volkov mit gewohnter Bravour meisterte. Allen voran Jaan Bossier, Solist und Klarinettenmagier, müssen unbedingt noch der Oboist Christian Hommel, der herausragend das arabische Idiom beherrschte, Ueli Wiget und Hermann Kretschmar, die beide mit großer Virtuosität die Tastaturen bearbeiteten, sowie der Kontrabassist Paul Cannon, ein fantastischer Performer seines Instruments, hervorgehoben werden.

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