Ensemble
Modern mit Jaan Bossier (Metallkontrabassklarinette) unter
der Leitung von Ilan Volkov, Alte Oper Frankfurt (Mozartsaal), 10.12.2018
Neue Musik ohne Grenzen
Vier Komponisten scharten sich in der Konzerteinführung um den Moderator, Patrick Hahn, und plauderten zu ihren nicht mehr so ganz neuen Werken aus dem sprichwörtlichen Nähkästchen: der Palästinenser, Israeli und seit 26 Jahren in Deutschland lebende Samir Odeh-Tamimi (*1970), der Franzose Yann Robin (*1974), die Deutsch-Jüdin Sarah Nemtsov (*1980) sowie der deutschstämmige Johannes Motschmann (*1978).
Vier Persönlichkeiten mit gänzlich unterschiedlichen
Biographien und entsprechend sehr individuellen Musikauffassungen, was sich
bereits in der Darstellung ihrer Ideen und musikalischen Umsetzungen zeigte. Odeh-Tamimi
auf der Suche nach dem Klang der Weltstadt zwischen den Kulturen, Istanbul,
Robin auf der Suche nach den materialen Urkräften der Erde, Nemtsov auf der
Suche nach musikalischen Biographien und Motschmann auf der Suche nach dem
virtuellen Raum.
Die Besonderheit dieses Abends war es, dass das Ensemble
Modern (EM), fast in Gesamtstärke, sein exzeptionelles musikalische Potenzial
zur Geltung bringen konnte, denn alle Kompositionen (ausgenommen A long way away, ein Oktett) erforderten
Ensembles zwischen 18 und 20 Instrumentalisten.
Samir Odeh-Tamimi (Foto: Karsten Witt) |
Zunächst Odeh-Tamimis Cihangir (2008, revidierte Fassung 2009). Dieses Stück entstand
2008 im Rahmen des Projekts „into …“, das, in Zusammenarbeit mit dem EM, dem
Siemens Art Programm sowie des Goetheinstituts, vier ausgewählte Komponisten für
einen Monat nach Istanbul schickte (neben Odeh-Tamimi noch Mark Andre, Beat
Furrer und Vladimir Tarnopolski), um Eindrücke und Atmosphäre musikalisch
einzufangen. Herausgekommen ist unter anderen Cihangir, nach einem pulsierenden weltoffenen Stadtteil benannt,
ein „musikalisches Tagebuch“ für 18 Instrumentalisten mit arabischer Darbuka-Trommel
und geschichteten Muezzinrufen.
Odeh-Tamimi mischte die Vielfalt der Geräusche
dieses Szenenviertels mit westeuropäischen Klangfarben, ein Gemisch zwischen
chaotischem Krach und Pressgesängen der Holzinstrumente, zwischen arabischem
Maqam, dem Umspielen eines Haupttons im Sekundbereich, und den Echos und
Halleffekten der quirligen Straßenszenen. Ein kurzweiliger Einstieg, der viel
vermittelte, was der Komponist im Vorgespräch andeutete: „Ich habe mich wie
eine schleichende Katze gefühlt, die von einem Monster angebrüllt wurde.“
Yann Robin (Foto: Henry Lemoine) |
Yann Robins Art
of Metal (2007) ist ein Konzert für eine Metallkontrabassklarinette mit
Metallmundstück. Was möchte er mit diesem Bau eines neuen Instruments bewirken?
Spontan ist man an Helmut Lachenmanns Devise: „Komponieren heißt … Instrumente
bauen“ erinnert. Tatsächlich geht es Robin aber um die Entdeckung neuer
Materialien für die Musik, wobei er alle Metamorphosen des Metalls, von der
flüssigen bis zur härtesten Form, musikalisch verarbeitet und umdeutet. Ergänzt
durch die Mischung von Stimme und Instrument entstehen Klangspektren von
außerordentlicher Eindringlichkeit.
Jaan Bossier bearbeitete dieses ästhetisch
wunderschöne Instrument mit knalliger Härte und gesanglicher Wärme (einem
Basssaxophon-Sound ähnlich), mit klopfendem Beat und doppelstimmigem Gesang. Beeindruckend
sein Duett mit dem Kontrabass (Paul Cannon), ein heftiger Disput, der von
Clustern des Klaviers und Schlagzeugs untermalt wurde. Auch die eingestreuten
langsamen Passagen – Zeit zum Luftholen –, mit Streicherflageoletts und
virtuosen Bläsereinlagen, verliehen dem Kampf der Titanen zusätzlich Würze. Ein
sehr physisches Stück, das das härteste aller Metalle zu formen verstand. Ein
Solist wie ein Vulkan und ein Ensemble Modern wie die leibhaftigen Titanen.
Zwischen Assoziation und Virtualität
Sarah Nemtsov (Foto: Sarah Nemtsov) |
A
long way away (2011) von Sarah Nemtsov besteht aus
einem siebenteiligen Zyklus (dem siebenarmigen Leuchter, der Menorah
nachempfunden), woraus sie den vierten Teil, das mittlere Stück also,
präsentierte. Sie bevorzugt in ihrer Musik Bezüge zur Literatur, um sich der
eigenen Gegenwart zu versichern, wie sie sagt. Immer also ist ihre Tonsprache
mit literarischen Biographien assoziiert. Konkret geht es in diesem Stück um
vier fiktive jüdische Personen, deren Lebensgeschichten tragisch und skurril
verlaufen – sie fühlen sich fremd in dieser Welt und löschen sich selbst aus.
Dabei bezieht sie sich auf W.G. Sebalds
Buch Die Ausgewanderten (1992).
Musikalisch ideenreich – sie verwendet ein
elektronisch verstärktes Cembalo, eine Schreibmaschine, ein Radio-Weltempfänger,
Pappkartons und diverse Tröten, Rasseln und Ratschen – changieren die Tonfolgen
zwischen Harmonie (Dreiklängen) und Kakophonie (Cluster), unterbrochen von
Radiogeräuschen und unverständlichen Wortfetzen.
Auch wenn sie allen beschriebenen Personen einen
eigenen Charakter zuordnet, wie im Vorgespräch hervorhoben, wirkte das Stück
insgesamt doch ziemlich zersplittert, mitunter beliebig bis unfertig. Immer
dann aber, wenn die Schreibmaschine einen Rhythmus formte, wurde es lebendig
und assoziativ. Ihr Wahlspruch aus Sebalds Buch, zudem Titel dieses Stücks, könnte
aber gerade auch für ihre musikalische Absicht gelten: „Ich weiß nicht, woher
ich komme …“ Eine ganz subjektive Haltung, die durchaus typisches Merkmal der postmodernen
Gesellschaft geworden ist.
Johannes Motschmann (Foto: Johannes Motschmann) |
Vollkommen in der realen Virtualität dagegen Attac Decay (2011). Johannes Motschmann
hat dieses Stück bereits vor sieben Jahren im Auftrag des EM geschrieben. Er
gilt als Grenzgänger, der die Räume zwischen E- und U-Musik erkundet und von
Jazz, Pop, Elektronik bis Avantgarde alles miteinander zu mischen versteht.
Attac
decay ist der elektronischen Musik entnommen und bezeichnet
einen Teil der Hüllkurve (A für Anstieg, D für Abfall, S für Sustain /Halten
und R für Release/Freigeben), die vor allem für Synthesizer und
computergenerierte Musik von Bedeutung ist. Warum auf AD reduziert? Weil dies
einen impulshaften Ton erzeugt, der in dieser Komposition durch rasend schnelle
Staccati, quer durch alle Instrumente und Tonhöhen, weite Teile des
Klanggeschehens beherrscht. Hoch explosiv mit virtuosen Einschüben von Klavier,
Geige, Kontrabass und Flöte, aber auch mit melodischen Passagen von Horn und Trompeten
am Schluss, wechselte das 15-minütige Powerstück gnadenlos zwischen treibenden
Tuttiarpeggien zu Popmusikzitaten (hier wohl, so der Komponist, Closer von den The Chainsmokers), die den Raum nicht allein in Schwingung versetzten,
sondern vor allem die Absicht des Komponisten, Raum statt konkret, virtuell zu
denken, fast schon physische erfahrbar machte. Seine orchestralen Klangbilder
ließen zeitweise den begrenzten Raum des Mozartsaals in endlose Weiten
transformieren – zumindest in den Köpfen.
Motschmann sprach im Vorgespräch von einem Schachbrettverfahren,
das mit seinen Übertreibungen die Akteure schier in den Wahnsinn treibe.
Dennoch habe sich seine „Rücksichtslosigkeit“ (das Stück fordert die Grenzen des
spielerischen Vermögens heraus), gelohnt, denn das Werk wirke insgesamt doch „sehr
sortiert“. Sortiert durchaus, aber auch experimentierfreudig sowie formschön
und aufreibend gefällig. Seine Musik löste nicht von ungefähr große
Begeisterung beim Publikum aus.
Ein bunter Abend mit vier sehr unterschiedlichen Kompositionen
für Ensemble, was die musikalische Vielfalt des EM auf eine harte Probe stellte,
das es aber unter der umsichtigen musikalischen Leitung von Ilan Volkov mit gewohnter Bravour
meisterte. Allen voran Jaan Bossier,
Solist und Klarinettenmagier, müssen unbedingt noch der Oboist Christian Hommel, der herausragend das
arabische Idiom beherrschte, Ueli Wiget und Hermann Kretschmar, die beide mit großer Virtuosität die Tastaturen
bearbeiteten, sowie der Kontrabassist Paul
Cannon, ein fantastischer Performer seines Instruments, hervorgehoben
werden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen