Sonntag, 9. Dezember 2018


Nelson Freire (Klavier) und die Academy of St Martin in the Fields, Alte Oper Frankfurt, 08.12.2018 (Eine Veranstaltung von PRO ARTE Frankfurt)

Nelson Freire und die Academy of St Martin in the Fields (Foto: Paul Sklorz)

Zwischen stürmisch drängend und tiefer Innerlichkeit

Der Abend galt dem Frühwerk Ludwig van Beethovens (1770-1827), dem Wendepunkt von der Klassik zur Romantik, von der aristokratischen Galanterie, dem Klaren und Singbaren, zum bürgerlichen Selbstbewusstsein, dem Extremen und Bizarren. Es ist die frühe und ausgesprochen erfolgreiche Schaffensphase des kaum 30-jährigen Genies, das bereits in Wien die Berühmtheit eines Haydn und Mozart erlangt hatte, ja sogar übertraf.


Nelson Freire (*1944) und Academy of St Martin in the Fields hatten sich für ein Programm entschieden, das die Zwiespältigkeit, den Sturm und Drang des Komponisten zur Zeit der französischen Revolution und der napoleonischen Umgestaltung Europas beeindruckend widerspiegelte: Die Romanze für Violine und Orchester Nr. 1 G-Dur op. 40 (1800/01), die Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36 (1800/03) sowie das 5. Klavierkonzert Es-Dur op. 73 (1809/11)

Eine bedächtige Violinromanze von tiefer romantischer Innerlichkeit eröffnete diesen denkwürdigen Abend. Tomo Keller (*1974), seit 2016 Leiter, Konzertmeister und Solist der 'Academy' in personam, ließ dieses in keine Gattung passende Stückchen zu einem musikalischen Dialog zwei Liebenden werden. Ein  berückendes Zwiegespräch zwischen Ensemble und Solist (Keller spielte auf einer G.B. Guadagnini-Violine von 1778), das der Romantik Tür und Tor öffnete.

Ganz stürmisch drängend dann die Sinfonie Nr. 2 D-Dur – 1803 in Wien uraufgeführt, aber bereits seit 1800 in Arbeit. Man ist geneigt, dem Kritiker der Allgemeinen musikalischen Zeitung von 1812 zu folgen, der dazu meinte: „… warum wollen wir denn von dem Komponisten, der das Ganze, so wenig erforschte Gebiet der Tonkunst in Anspruch nimmt, erwarten, dass er nur an hergebrachten Formen hange; nur immer den Ohren schmeichle; nie uns erschüttere, und über das Gewohnte, wenn auch etwas gewaltsam, erhebe?“ Im Klartext: Schon damals trennt sich Beethoven von dem Stil Haydns und Mozarts, seine unbestrittenen Vorbilder, um einen ganz eigenen, neuen Weg einzuschlagen. Durchaus im Schatten seiner Eroica, der Dritten Sinfonie, zeigt er in dieser vierteiligen Sinfonie bereits einen klaren Paradigmenwechsel hin zur Romantik, vom objektiven Allgemeinen hin zum subjektiven Individuellen.

Es ist die ungewöhnliche Themengebung, das einleitende Adagio molto des ersten Satzes mit seiner kontrastreichen Gestaltung, es ist das Nebeneinander von fortissimo-Akkorden und sanften Kantilenen, die herabstürzenden Dominantseptakkorde, die beinahe schon an die Neunte erinnern. Dann das spannend schöne Larghetto, wo Galanterie und plötzliche dunkle Schattenseiten miteinander konkurrieren. Das Scherzo mit seinen dynamischen Wechseln, rhythmischen Widerborstigkeiten und heftigen Dissonanzen sowie das abschließendes Allegro molto, das den Wahnsinn in Rondoform einführt und in einer Coda gipfelt, die in einem Tutti-Fortissimo mit stockenden Fermaten und hämmernden Repetitionen einer musikalischen Explosion gleichkommt.

All das wäre allerdings ohne die Academy undenkbar. Was die knapp dreißig Instrumentalisten unter der umsichtigen Leitung von Tomo Keller auf die Bühne zauberten, war vom Feinsten: Perfekte Akzentuierung, breitgestreute Dynamik, absolut harmonisches Zusammenspiel ließen diesen frühen Beethoven zu einem ganz neuen Hörerlebnis werden.

Ein majestätischer Löwe lässt seine Pranken spielen


Ungewöhnlich die Aufteilung des Programms, denn das Klavierkonzert wurde erst zum Schluss der Abendvorstellung präsentiert. Das aber mit gutem Grund, denn das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur (1809 entstanden und 1811 in Leipzig uraufgeführt) ist das zuletzt verfasste Werk aus dieser illustren Reihe (Vierte und Fünfte Sinfonie sowie das Vierte Klavierkonzert, die Chorfantasie und die C-Dur Messe) und bildet quasi den Abschluss einer Entwicklung, die, jenseits von Rokoko, Klassik sowie Sturm und Drang, endgültig das Tor zur Romantik öffnet.

Nelson Freire sprang für den leider erkrankten Murray Perahia ein. Das aber mit einer Verve und Vitalität, was dem Konzert eine ganz eigenwillige Neuinterpretation verlieh. Einem alten, majestätischen Löwen gleich bearbeitete er die Tasten mit seinen Pranken, mal butterweich, dann wieder mit ausgefahrenen Krallen. Alle Hürden und Schwierigkeiten bereits genommen, spielte er cool seinen Part und zeigte gleich zu Anfang des Allegro, der ungewöhnlichen Kadenz nach dem Es-Dur Dreiklang des Orchesters vor der Exposition, wer der Herr im Hause ist – unglaublich virtuos und abgeklärt zugleich.


Das Adagio mit gedämpften Streichern zu einer choralähnlichen Thematik machte aus dem Löwen einen sanften Familienvater, der mit weicher Tatze über die Häupter seiner Kinder strich. Ein berückender Dialog zwischen Orchester und Solist, der tatsächlich offen ließ, wer hier die Dominanz inne hatte.
Ganz im Gegensatz dazu das Finale, das Allegro ma non tanto: ein Rondo mit donnerndem Fortissimo eines aufstrebenden Dreiklangs und eingebauten rhythmischen Verschiebungen. Beide, Orchester wie Solist, führten hier einen heftigen, äußerst spannenden Dialog mit mehrmals folgender Rückführung zum Grundthema. Dazwischen Ausflüge in verschiedene, vom Es-Dur weit entfernte Tonarten. Ein Kampf der Giganten, brillant geführt mit scharfer Klinge. Hier zeigte der Löwe erstmals Emotionen und man merkte, dass trotz des tänzerischen 6/8-Takts, das Gefecht auf Messers Schneide geführt wurde. Die ausgedehnte Coda, eine längerer Dialog zwischen Klavier und Pauke, führte denn doch zum triumphalen Gipfelpunkt, wo das Klavier zumindest einen kleinen Sieg für sich verbuchen konnte.

Freire und die Academy of St Martin in the Fields – eine Verbindung, die der Persönlichkeit Beethovens sehr nahe kam. Wie schrieb noch Bettina Brentano, ein Freundin des Komponisten über ihn: „Er kann sehr zornig werden, hat Wutausbrüche, wirkt schroff, sogar beleidigend … doch schnell weicht dieser Zustand dem der Reue und rührend aufflackernden Güte.“ All das ist in diesem Konzert enthalten und wurde von beiden Klangkörpern mit Bravour in Szene gesetzt. Selten so etwas gehört.

Die Zugabe, eine Klavierbearbeitung von Willibald Glucks Der Reigen seliger Geist aus dessen Oper Orpheus und Euridice, ließ noch einmal die „rührend aufflackernde Güte“ des Meisters aufblitzen. So wie er die Tasten streichelte wollte man selbst zum Konzertflügel werden. Der Beifall war denn auch überschwänglich und ausgesprochen herzlich.

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