Montag, 28. Januar 2019


Candide (1956) von Leonard Bernstein (1918-1990), eine komische Operette in zwei Akten nach Voltaires (1694-1778) Roman „Candide oder der Optimismus“ (1759), Wiederaufnahme im Staatstheater Wiesbaden, 27.01.2019 (Premiere 31.10.2014)

Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden (Fotos: Paul Leclaire)




 Die beste aller Welten?

Bekanntlich war Leonard Bernstein (1918-1990) nicht nur Komponist, sondern auch kritischer Kommentator seiner geliebten Heimat, die USA, und ein Verfechter der Wahrheit und der Machbarkeit des Guten. Er glaubte fest an den Menschen und es gibt kaum ein Werk von ihm, das nicht mehr als nur Musik war. Immer war es seine Absicht, über die Musik auch den Menschen zu erreichen und dessen Haltung zum Leben positiv zu beeinflussen. So auch in der witzig-ironischen Operette Candide, die er zusammen mit der Schriftstellerin Lillian Hellman (1905-1984) zurzeit der McCarthy Ära, dem dunkelsten Kapitel der amerikanischen Nachkriegsära, parallel zur Westside Story erarbeitete und 1956 zur Uraufführung in New York brachte.


Allerdings war die Operette zunächst ein Flop, was wohl hauptsächlich am Text lag, der beim Publikum nicht ankam. Es folgten drei Überarbeitungen, 1973, 1882 und 1989, wovon die letzte Fassung, die sogenannte Scottish Opera Version, im Wiesbadener Staatstheater gespielt wurde.

Warum ausgerechnet Voltaires Candide? Candide ist eine universale, globale Anklage an die philosophische (Gottfried Wilhelm Leibniz´ Theodizee) wie biblisch-kanonische Behauptung seiner Zeit, diese Welt sei die Beste aller möglichen. Mit ironischer Noblesse lässt er dabei Candide, ein einfach gestrickter Held und illegitimer Neffe des Barons Thunder-ten-tronckh, über den Globus wandern und die absurdesten Erfahrungen erleben. Er wird zu einem sprichwörtlichen Katastrophentouristen erster Güte und erfährt alle möglichen Grausamkeiten, Laster und Missbräuche, die man im menschlichen Geist nur finden kann. Allein sein unbändiger Optimismus, sein Glaube an die Liebe, scheint ihn zu retten.

Das Fazit dieser aufklärerischen, gegen den Katholizismus gerichteten Satire ist recht simpel: Candide findet seine ebenfalls vom Schicksal geschundene große Liebe wieder, Kunigunde, heiratet sie, lässt die Suche nach dem irdischen Paradies sausen und bestellt gemeinsam mit ihr den Garten: „Wir bauen ein Haus, hacken Holz und ruhen im Garten aus. Wir sind nicht weise, gut und stolz, wir machen das Beste draus“, lautet der Abschlusschoral, begleitet vom Orchestertutti mit Pauken und Trompeten.

Das Team um Bernd Mottl (Regie), Friedrich Eggert (Bühne, Kostüme), Götz Hellriegel (Choreographie), Rolf Baars (Licht), Myriam Lifka (Dance Captain) sowie Albert Horne (musikalische Leitung und Chor) machten nicht allein das Beste aus dieser brillanten Satire, nein, sie spannten über diese höchst komplexe (allein zehn unterschiedliche Orte, Themen und Erzählungen mussten bedient werden) und weitschweifigen Groteske ein dichtes Netz, das sowohl über die leitmotivisch-musikalischen Verknüpfungen als auch über den verbindenden Erzählstrang zusammengehalten wurde. Daraus entstand ein gut zweistündiges Musikspektakel zwischen vermeintlichem Schrecken, skurrilen Szenerien, sehr europäischen Gesangsnummern und herrlich-gewaltigen Bildern.
v.l.: Wolfgang Vater (Voltaire, Pangloss etc.), Benjamin Russell (Maximilian), Victoria Lambourne/Lena Haselmann (Paquette), Gloria Rehm (Kunigunde), Aaron Cawley/Thomas Blondelle (Candide) 

Gewaltiges Musiktheater gegen die postmoderne Unaufgeklärtheit


Dabei brillierte Wolfgang Vater als Voltaire, Pangloss (übersetzt aus dem griechischen: Der Allessprecher), Cacambo (Begleiter Candides in Eldorado) und Martin (Der Pessimist) in einer Person. Hervorragend sein Witz, seine List und seine Pfiffigkeit. Genial verkörperte er das wichtigste Bindeglied dieser weitschweifigen Geschichte. Sein mehr gesprochener als gesungener Song als Martin, worin er den angeblich freien Willen des Menschen geißelt und auf diesen „Drecksplanet“ pisst, war einfach klasse und erntete zu Recht Zwischenapplaus.


Perfekt für ihre Rollen ausgewählt waren auch die SolosängerInnen. Allen voran Candide mit Thomas Blondelle, ein lyrischer Tenor mit ausgesprochen weichen Höhen und schubertesken Songs voller Romantik und Innerlichkeit. Die Sopranistin Gloria Rehm sang und spielte eine vom Schicksal geschundene Kunigunde mit tänzerischer Leichtigkeit und Wahnsinnskoloraturen. Herausragend dabei ihr Song als Hure zweier Herrn, Don Isaachar und der Kardinal: „Glitzern, fröhlich sein, muss ich ganz allein.“ Dazu die halbnackten Playmates mit einem Cancan, ein Knüller, der gut ankam.

Auch der Tenor Benjamin Russell machte aus dem opportunistischen und korrupten Maximilian, Cousin von Candide, eine Person, wie man sie auch heute noch alltäglich antreffen könnte. Zeitnah und überzeugend unter anderem sein Part als bestechlicher Polizeipräfekt von Venedig, absolut komisch seine Rolle als weiblicher Sklave. Paquette, von der Mezzosopranistin Lena Haselmann gespielt, glänzte vor allem in den Duetten mit Kunigunde durch ein warmes Timbre und romantische Lyrik. Die Alte Lady, ideal besetzt von der Altistin Romina Boscolo, tritt zwar erst zu Ende des Ersten Teils als Begleiterin von Kunigunde und Candide in Erscheinung, aber dafür umso exponierter. Stimmgewaltig mit einem Schuss Flamenco-Rhythmus erzählte sie ihre Geschichte unter Kannibalen, wo den Frauen jeweils eine Pobacke zum Grillen abgeschnitten wurde. Ein Habanera vor rotschwarzer spanischer Kulisse mit fächerndem Chor gehörte zu einem ihrer Highlights an diesem Abend. Viel Beifall war ihr sicher.

Dazu die Vielrollenbesetzer Ralf Rachbauer (Tenor), Julian Habermann (Tenor) und Nathaniel Webster (Bariton), die alle drei nur Bestnoten verdienen. Bemerkenswert ihre schauspielerische Vielseitigkeit und ihre stimmliche Flexibilität, die sich situationsgerecht an die jeweiligen Stimmungen anpassten. Auch die zehnköpfige Tanzkompanie überzeugte auf der ganzen Linie. Zwischen Schauspiel und Tanz bot sie Soldatenmärsche, Erdbebenopfer, Ministranten, Sklaven, Schafe, Playmates, Showballette, Walzer und nicht zuletzt südamerikanischen Rumba, Paso doble, Tango oder auch Cancan. In wechselnden Kostümen, vom mittelalterlichen Habitus bis zu den amerikanischen Stars and Stripes, von der Pariser Salonmode bis zum schrillen Junkietreff mit Rastafaris und Punkern (stellvertretend für die Indigenen?) im Kreis der Jesuiten, alles war dabei. Immer schrill, aber durchweg der voltaireschen Aufklärung geschuldet.

Gloria Rehm (Kunigunde), TänzerInnen (Foto: Paul Leclaire)

Wäre da noch der König von Eldorado (Christian Balzer) zu erwähnen, der mit seinem arabischen Kauderwelsch die Lacher auf seiner Seite hatte. Das Paradies war das auch nicht: ein Emirat im Irgendwo, bevölkert mit goldenen Schafen (ein Seitenhieb auf das mythische goldene Vlies), die nichts weiter als Kopulation im Sinne hatten. Als dann eine mit Burka verschleierte Frau von der Männergesellschaft gesteinigt wird, ist das Fass endgültig voll.

Besonders hervorzuheben sind auch der Chor des Hessischen Staatstheaters sowie das Hessische Staatsorchester Wiesbaden unter der Leitung von Albert Horne. Ihre ansteckende Spielfreude versetzte das vollbesetzte Staatstheater in Schwingungen. Bernsteins Musik tat dazu ihr Übriges: Sie hat zwar noch viel europäisches Flair – es fehlt noch der später für ihn typische Jazzton und der schwarzamerikanische Blues –, dafür aber bietet sie viele Querverbindungen zur westeuropäischen Oper, wie auch zur Rhythmik eines Carl Orff, zur Kollage eines Gustav Mahler und zur Kontrapunktik eines Johann Sebastian Bach, die diese Komposition vertraut erscheinen lassen. Bereits in der Ouvertüre, ein weltbekannter vielgespielter Ohrwurm, schreibt Bernstein die Leitmotive dieses, man möchte fast sagen, gewaltigen Musiktheaters im Stile Wagners fest, die an brisanter Stelle immer wieder in abgewandelter Form zu hören sind. So bei der Schlacht von Westfalia, der Autodafé oder im Dschungel bei den Jesuiten.

Musik, Gesang und Tanz, Bühne und Kostüme, all das geriet in dieser Inszenierung - die letzte liegt bereits fünf Jahre zurück - zu einem harmonischen, spektakulären und sehr überzeugenden Ganzen und hinterließ ein restlos begeistertes Publikum. Ein Candide, der es verdient, in der aufgeklärten Unaufgeklärtheit der heutigen neoliberalen Postmoderne, öfter auf der Bühne gezeigt zu werden.

Nächste Vorstellungen: 10.02., 03. und 24.03., 06. und 17.04. sowie 07.06.

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