Candide (1956)
von Leonard Bernstein (1918-1990), eine
komische Operette in zwei Akten nach Voltaires (1694-1778) Roman „Candide oder
der Optimismus“ (1759), Wiederaufnahme im Staatstheater Wiesbaden, 27.01.2019
(Premiere 31.10.2014)
Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden (Fotos: Paul Leclaire) |
Bekanntlich war Leonard Bernstein (1918-1990) nicht nur Komponist, sondern auch kritischer Kommentator seiner geliebten Heimat, die USA, und ein Verfechter der Wahrheit und der Machbarkeit des Guten. Er glaubte fest an den Menschen und es gibt kaum ein Werk von ihm, das nicht mehr als nur Musik war. Immer war es seine Absicht, über die Musik auch den Menschen zu erreichen und dessen Haltung zum Leben positiv zu beeinflussen. So auch in der witzig-ironischen Operette Candide, die er zusammen mit der Schriftstellerin Lillian Hellman (1905-1984) zurzeit der McCarthy Ära, dem dunkelsten Kapitel der amerikanischen Nachkriegsära, parallel zur Westside Story erarbeitete und 1956 zur Uraufführung in New York brachte.
Allerdings war die Operette zunächst ein Flop, was wohl hauptsächlich
am Text lag, der beim Publikum nicht ankam. Es folgten drei Überarbeitungen,
1973, 1882 und 1989, wovon die letzte Fassung, die sogenannte Scottish Opera Version,
im Wiesbadener Staatstheater gespielt wurde.
Warum ausgerechnet Voltaires Candide? Candide ist eine universale, globale Anklage an die philosophische
(Gottfried Wilhelm Leibniz´ Theodizee)
wie biblisch-kanonische Behauptung seiner Zeit, diese Welt sei die Beste aller
möglichen. Mit ironischer Noblesse lässt er dabei Candide, ein einfach gestrickter Held und illegitimer Neffe des
Barons Thunder-ten-tronckh, über den Globus wandern und die absurdesten
Erfahrungen erleben. Er wird zu einem sprichwörtlichen Katastrophentouristen
erster Güte und erfährt alle möglichen Grausamkeiten, Laster und Missbräuche,
die man im menschlichen Geist nur finden kann. Allein sein unbändiger Optimismus, sein Glaube
an die Liebe, scheint ihn zu retten.
Das Fazit dieser aufklärerischen, gegen den Katholizismus gerichteten
Satire ist recht simpel: Candide
findet seine ebenfalls vom Schicksal geschundene große Liebe wieder, Kunigunde, heiratet
sie, lässt die Suche nach dem irdischen Paradies sausen und bestellt gemeinsam mit ihr den Garten: „Wir bauen ein Haus, hacken Holz und ruhen im Garten aus. Wir sind
nicht weise, gut und stolz, wir machen das Beste draus“, lautet der
Abschlusschoral, begleitet vom Orchestertutti mit Pauken und Trompeten.
Das Team um Bernd
Mottl (Regie), Friedrich Eggert
(Bühne, Kostüme), Götz Hellriegel
(Choreographie), Rolf Baars (Licht),
Myriam Lifka (Dance Captain) sowie Albert Horne (musikalische Leitung und
Chor) machten nicht allein das Beste aus dieser brillanten Satire, nein, sie spannten
über diese höchst komplexe (allein zehn unterschiedliche Orte, Themen und
Erzählungen mussten bedient werden) und weitschweifigen Groteske ein dichtes Netz,
das sowohl über die leitmotivisch-musikalischen Verknüpfungen als auch über
den verbindenden Erzählstrang zusammengehalten wurde. Daraus entstand ein gut
zweistündiges Musikspektakel zwischen vermeintlichem Schrecken, skurrilen
Szenerien, sehr europäischen Gesangsnummern und herrlich-gewaltigen Bildern.
v.l.: Wolfgang Vater (Voltaire, Pangloss etc.), Benjamin Russell (Maximilian), Victoria Lambourne/Lena Haselmann (Paquette), Gloria Rehm (Kunigunde), Aaron Cawley/Thomas Blondelle (Candide) |
Gewaltiges Musiktheater gegen die postmoderne Unaufgeklärtheit
Dabei brillierte Wolfgang Vater als Voltaire, Pangloss (übersetzt aus dem griechischen: Der Allessprecher), Cacambo (Begleiter Candides in Eldorado) und Martin (Der Pessimist) in einer Person. Hervorragend sein Witz, seine List und seine Pfiffigkeit. Genial verkörperte er das wichtigste Bindeglied dieser weitschweifigen Geschichte. Sein mehr gesprochener als gesungener Song als Martin, worin er den angeblich freien Willen des Menschen geißelt und auf diesen „Drecksplanet“ pisst, war einfach klasse und erntete zu Recht Zwischenapplaus.
Perfekt für ihre Rollen ausgewählt waren auch die
SolosängerInnen. Allen voran Candide
mit Thomas Blondelle, ein lyrischer
Tenor mit ausgesprochen weichen Höhen und schubertesken Songs voller Romantik
und Innerlichkeit. Die Sopranistin Gloria
Rehm sang und spielte eine vom Schicksal geschundene Kunigunde mit tänzerischer Leichtigkeit und Wahnsinnskoloraturen. Herausragend
dabei ihr Song als Hure zweier Herrn, Don Isaachar und der Kardinal: „Glitzern,
fröhlich sein, muss ich ganz allein.“ Dazu die halbnackten Playmates mit einem
Cancan, ein Knüller, der gut ankam.
Auch der Tenor Benjamin
Russell machte aus dem opportunistischen und korrupten Maximilian, Cousin
von Candide, eine Person, wie man sie auch heute noch alltäglich antreffen könnte.
Zeitnah und überzeugend unter anderem sein Part als bestechlicher Polizeipräfekt
von Venedig, absolut komisch seine Rolle als weiblicher Sklave. Paquette, von der Mezzosopranistin Lena Haselmann gespielt, glänzte vor
allem in den Duetten mit Kunigunde durch ein warmes Timbre und romantische
Lyrik. Die Alte Lady, ideal besetzt
von der Altistin Romina Boscolo, tritt
zwar erst zu Ende des Ersten Teils als Begleiterin von Kunigunde und Candide in
Erscheinung, aber dafür umso exponierter. Stimmgewaltig mit einem Schuss
Flamenco-Rhythmus erzählte sie ihre Geschichte unter Kannibalen, wo den Frauen
jeweils eine Pobacke zum Grillen abgeschnitten wurde. Ein Habanera vor
rotschwarzer spanischer Kulisse mit fächerndem Chor gehörte zu einem ihrer
Highlights an diesem Abend. Viel Beifall war ihr sicher.
Dazu die Vielrollenbesetzer Ralf Rachbauer (Tenor), Julian
Habermann (Tenor) und Nathaniel Webster
(Bariton), die alle drei nur Bestnoten verdienen. Bemerkenswert ihre schauspielerische
Vielseitigkeit und ihre stimmliche Flexibilität, die sich situationsgerecht an
die jeweiligen Stimmungen anpassten. Auch die zehnköpfige Tanzkompanie überzeugte auf der ganzen Linie. Zwischen Schauspiel
und Tanz bot sie Soldatenmärsche, Erdbebenopfer, Ministranten, Sklaven, Schafe,
Playmates, Showballette, Walzer und nicht zuletzt südamerikanischen Rumba,
Paso doble, Tango oder auch Cancan. In wechselnden Kostümen, vom
mittelalterlichen Habitus bis zu den amerikanischen Stars and Stripes, von der Pariser
Salonmode bis zum schrillen Junkietreff mit Rastafaris und
Punkern (stellvertretend für die Indigenen?) im Kreis der Jesuiten, alles war dabei. Immer schrill, aber durchweg der voltaireschen Aufklärung geschuldet.
Gloria Rehm (Kunigunde), TänzerInnen (Foto: Paul Leclaire) |
Wäre da noch der König von Eldorado (Christian Balzer) zu erwähnen, der mit seinem arabischen Kauderwelsch die
Lacher auf seiner Seite hatte. Das Paradies war das auch nicht: ein Emirat im
Irgendwo, bevölkert mit goldenen Schafen (ein Seitenhieb auf das mythische goldene Vlies), die nichts weiter als Kopulation im Sinne hatten. Als dann eine
mit Burka verschleierte Frau von der Männergesellschaft gesteinigt wird, ist das
Fass endgültig voll.
Besonders hervorzuheben sind auch der Chor des Hessischen
Staatstheaters sowie das Hessische Staatsorchester Wiesbaden unter der Leitung
von Albert Horne. Ihre ansteckende Spielfreude
versetzte das vollbesetzte Staatstheater in Schwingungen. Bernsteins Musik tat
dazu ihr Übriges: Sie hat zwar noch viel europäisches Flair – es fehlt noch der
später für ihn typische Jazzton und der schwarzamerikanische Blues –, dafür
aber bietet sie viele Querverbindungen zur westeuropäischen Oper, wie auch zur
Rhythmik eines Carl Orff, zur Kollage eines Gustav Mahler und zur Kontrapunktik
eines Johann Sebastian Bach, die diese Komposition vertraut erscheinen lassen.
Bereits in der Ouvertüre, ein
weltbekannter vielgespielter Ohrwurm, schreibt Bernstein die Leitmotive dieses,
man möchte fast sagen, gewaltigen Musiktheaters im Stile Wagners fest, die an
brisanter Stelle immer wieder in abgewandelter Form zu hören sind. So bei der Schlacht von Westfalia,
der Autodafé oder im Dschungel bei den Jesuiten.
Musik, Gesang und Tanz, Bühne und Kostüme, all das geriet in
dieser Inszenierung - die letzte liegt bereits fünf Jahre zurück - zu einem harmonischen, spektakulären und sehr überzeugenden Ganzen und hinterließ ein restlos begeistertes Publikum. Ein Candide, der es verdient, in der
aufgeklärten Unaufgeklärtheit der heutigen neoliberalen Postmoderne, öfter auf der Bühne
gezeigt zu werden.
Nächste Vorstellungen: 10.02., 03. und 24.03., 06. und
17.04. sowie 07.06.
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