Mina,
Musiktheater von Jugendlichen und Uwe Dierksen (Musik) sowie Sonja Rudorf
(Text), Uraufführung im Bockenheimer Depot Frankfurt, 02.02.2019
Lena Diekmann (Mina), Ole Schwarz (Finn) Fotos: Barbara Aumüller |
Mina ist ein Lebensgefühl
„Mina ist anders“, „Mina sind wir alle“, „Mina ist ein Lebensgefühl“, „Mina ist eine interessante Person“ (Antworten von Jugendlichen auf die Frage: Warum Mina?). Wer also ist Mina? Jugendliche haben in einem „Elefantenprojekt“ (Adda Grevesmühl, Projektleiterin) von über einem Jahr Dauer eine ungewöhnliche Oper entwickelt. Ob Oper oder Musiktheater ist hier vollkommen ohne Belang. Es ist ein Bühnenwerk, unter der musikalischen Leitung von Uwe Dierksen (*1959) und der Schriftstellerin Sonja Rudorf (*1966), das über Kompositions- und Schreibteams nicht etwa die zeitüblichen Jugendfragen wie Mobbing, Social Media oder Umgang mit Flüchtlingen aufwirft, sondern der überzeitlichen Frage der Freiheit mit all ihren Facetten nachgeht.
Mina (Lena Diekmann)
ist eine junge Frau, die dem Alltagsstress nicht gewachsen ist. Sie braucht
Hilfe von allen Seiten und kann nur über zwanghafte Strukturen ihr Leben
gestalten. Dabei sind ihr die verstorbene Mutter (Antonia Papenfuhs) und ihr ebenfalls verstorbener Kindheitsfreund Rey
(Jago Schlingensiepen), begleitet
von den Sirenen (Josephine Oeß und Paulina Geschwandner) geistig-geisterhafte
Hilfen. Beide aber verfolgen eigene Interessen und treiben die Verwirrtheit der
jungen Frau auf die Spitze.
Dann ist da noch Finn (Ole Schwarz), ein Gitarre spielender Freak, ein Frauenschwarm und
freiheitsliebender Hausbootbesitzer. Ihn fasziniert Mina auf den ersten Blick, „ein
scharfes Stück“, und er setzt alles dran, sie zu erobern. Auch Mina erfährt
erstmals, was Freiheit bedeuten kann, nämlich lebendig sein zu können. Aber etwas
hält sie fern von ihm. Ist es seine Unverschämtheit, Freiheit grenzenlos zu
leben?
v.l.: Josephine Oeß (Sirene 1), Jago Schlingensiepen (Rey), Lena Diekmann (Mina) Paulina Geschwandner (Sirene 2) |
Mina gerät in Konflikt mit sich selbst. Ihre Geister
quälen sie, aber auch der Streit der jungen Leute auf dem Hausboot, wo Pascal (Jan van Dick), ein Philosoph, das Böse
auf der Welt geißelt und seine Wut und Hilflosigkeit bedauert. Seine Worte, man
müsse sich vor der Welt fremdschämen, alles an ihr sei schmutzig und falsch; am
liebsten wolle er wieder Kind sein, denn Kinder seien wirklich frei, führen bei
Nina zur Erkenntnis, dass auch Finns Freiheit nur eine Chimäre ist. Wer
Freiheit will, muss sie bei sich selbst finden. In einem ergreifenden
Abschlusssong, eine Ballade, in der sie Freiheit und Notwendigkeit endlich
selbst in die Hand nehmen möchte: „Weißes Papier ist dazu da, um beschrieben zu
werden“, trennt sie sich von allen einflussnehmenden Geistern, auch von Finn,
um selbst ihr eigenes Leben aufzunehmen: selbstbestimmt und unabhängig, selbstbewusst
und ohne Zwang. Kurz: Sie fängt an zu leben.
Da ist ein fast zweistündiges Psychogramm einer Jugendkultur
entstanden, die selbst die 68er Generation begeistern muss. Nicht Krawall und
blinde Wut beherrscht die Bühnenszene (man ist an das Musical Hair erinnert), sondern große Poesie und
Sprachgewalt. Eine Jugend, die Kernfragen des Lebens aufwirft und an der Person
Mina, medizinisch ein Fall für die
Psychiatrie, eine von dissoziativer Identitätsstörung geplagte Frau, auf der
Bühne real werden lässt. Mina führt einen Kampf mit sich selbst, bei dem sie
sich schlussendlich für das wahre Leben entscheidet. Hierfür gebührt dem
Schreibteam, unter der Leitung von Sonja Rudorf, größte Anerkennung.
Chor |
Ein neues Kapitel Operngeschichte wird aufgeschlagen
Inszeniert (Ute
M. Engelhardt) auf einer blanken Schrägbühne mit einem an der rechten Seite
installierten Hausboot als Freiheitssymbol, fand ein lebendiges Spiel, ein Ineinandergreifen
von Musik und Handlung von konziser Dichte statt, die keine Sekunde Längen
aufwies. Auch Bühnenbilder und Kostüme (Mara
Scheibinger) sowie Choreographie (Andrew
Cummings) und Licht (Marcel Heyde)
waren bestens abgestimmt auf die Laienakteure und die Handlungsdramatik. Da
wurde mit vergleichbar wenig Aufwand dramatische Atmosphäre erzeugt und ein
abwechslungsreiches Bühnenspiel ermöglicht.
Vor allem aber die Musik war es, die mitriss. Uwe Dierksen (musikalische Leitung), schaffte
mit seinem Kompositionsteam ein buntes Kaleidoskop an Musiken, ein Abbild gegenwärtiger
Musikspektren. Zwischen Pop und Barock, zwischen Rock und musique concrète,
zwischen Improvisation und Soul, alles dabei, aber immer zur jeweiligen Szene
passend.
Er schaffte quasi eine Nummernoper im Stile der opera seria, aber auf zeitgenössischer Basis.
Dazu diente ihm eine Band, ein Streichquintett, Blechbläser, Cembalo, Keyboard,
E-Gitarre und Perkussion. Man hörte Rezitative mit Secco- und Accompagnatobegleitung, vor allem
Rey (Jago Schlingensiepen) sang sie
in gutem Bassbariton und gekonnter Kopfstimme, wunderbare Balladen, wobei das Liebesduett
zwischen Finn (Ole Schwarz) und
Mina(Lena Diekmann) herauszuheben ist,
ein Chanson der Leinwanddiva (Zinah
Edzave) von großer Ausdruckskraft und französischem Flair, einen Kanon des
Chors: „Der Kaffee ist ein heißes Getränk“, mit komplexer rhythmischer Synkopik,
mal einen Marsch nach Kurt Weills und Bert Brechts Dreigroschenoper und chaplinesken Szenen mit jazziger Untermalung.
Immer wieder Tänze, vom Calypso bis zum Rumba, und alles von den mehr als 22
Akteuren und etwa ähnlich vielen Musikern erstaunlich selbstsicher und, man ist
geneigt zu sagen, professionell in Szene gesetzt. Eigentlich müsste man jeden
einzelnen dieses jugendlichen Teams mit Namen nennen, denn alle, ohne Ausnahme, gaben nicht
nur ihr Bestes, sondern wuchsen förmlich über sich hinaus.
links vorne: Jan van Dick (Pascal), Mitte zweite Reihe: Lena Diekmann (Mina), Ole Schwarz (Finn), Zinah Edzave (Leinwanddiva, stehend) |
Ein Musiktheater, das ein neues Kapitel
aufschlägt. Zwar hat schon Benjamin Britten seinerzeit Musiken und Opern (Welcome Ode, A Midsummer Night´s Dream) für
Jugendliche geschrieben und der musikalischen Bildung junger Menschen großen
Raum eingeräumt. Aber was hier neu ist, das ist die Teamarbeit: Das Entstehen
eines musiktheatralischen Werks in direkter Zusammenarbeit von Librettist und
Komponist mit Jugendlichen. Wie schrieb doch Sonja Rudorf in ihren "Nachgedanken" zu Mina: „Mina steht für die
Bereitschaft umzudenken und für einen Aufbruch in eine Welt, die auf nichts so
angewiesen ist wie auf die Vielschichtigkeit und Zusammenhalt.“ Dem gibt es eigentlich nichts hinzuzufügen.
Das Publikum hatte dies auch verspürt und goutiert,
denn der Beifall war grenzenlos. Wie stellte doch ein bühnenerfahrener
Teilnehmer des Abends fest: „Noch nie habe ich im Rhein-Main-Gebiet so einen
Applaus erlebt wie heute.“
Die nächsten Vorstellungen: 04. (19.30 Uhr) und 06.02
(11.00 und 19.30 Uhr)
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