Sonntag, 3. Februar 2019


Mina, Musiktheater von Jugendlichen und Uwe Dierksen (Musik) sowie Sonja Rudorf (Text), Uraufführung im Bockenheimer Depot Frankfurt, 02.02.2019


Lena Diekmann (Mina), Ole Schwarz (Finn) Fotos: Barbara Aumüller

Mina ist ein Lebensgefühl


„Mina ist anders“, „Mina sind wir alle“, „Mina ist ein Lebensgefühl“, „Mina ist eine interessante Person“ (Antworten von Jugendlichen auf die Frage: Warum Mina?). Wer also ist Mina? Jugendliche haben in einem „Elefantenprojekt“ (Adda Grevesmühl, Projektleiterin) von über einem Jahr Dauer eine ungewöhnliche Oper entwickelt. Ob Oper oder Musiktheater ist hier vollkommen ohne Belang. Es ist ein Bühnenwerk, unter der musikalischen Leitung von Uwe Dierksen (*1959) und der Schriftstellerin Sonja Rudorf (*1966), das über Kompositions- und Schreibteams nicht etwa die zeitüblichen Jugendfragen wie Mobbing, Social Media oder Umgang mit Flüchtlingen aufwirft, sondern der überzeitlichen Frage der Freiheit mit all ihren Facetten nachgeht.


Mina (Lena Diekmann) ist eine junge Frau, die dem Alltagsstress nicht gewachsen ist. Sie braucht Hilfe von allen Seiten und kann nur über zwanghafte Strukturen ihr Leben gestalten. Dabei sind ihr die verstorbene Mutter (Antonia Papenfuhs) und ihr ebenfalls verstorbener Kindheitsfreund Rey (Jago Schlingensiepen), begleitet von den Sirenen (Josephine Oeß und Paulina Geschwandner) geistig-geisterhafte Hilfen. Beide aber verfolgen eigene Interessen und treiben die Verwirrtheit der jungen Frau auf die Spitze.

Dann ist da noch Finn (Ole Schwarz), ein Gitarre spielender Freak, ein Frauenschwarm und freiheitsliebender Hausbootbesitzer. Ihn fasziniert Mina auf den ersten Blick, „ein scharfes Stück“, und er setzt alles dran, sie zu erobern. Auch Mina erfährt erstmals, was Freiheit bedeuten kann, nämlich lebendig sein zu können. Aber etwas hält sie fern von ihm. Ist es seine Unverschämtheit, Freiheit grenzenlos zu leben?

v.l.: Josephine Oeß (Sirene 1), Jago Schlingensiepen (Rey), Lena Diekmann (Mina)
Paulina Geschwandner (Sirene 2)

Mina gerät in Konflikt mit sich selbst. Ihre Geister quälen sie, aber auch der Streit der jungen Leute auf dem Hausboot, wo Pascal (Jan van Dick), ein Philosoph, das Böse auf der Welt geißelt und seine Wut und Hilflosigkeit bedauert. Seine Worte, man müsse sich vor der Welt fremdschämen, alles an ihr sei schmutzig und falsch; am liebsten wolle er wieder Kind sein, denn Kinder seien wirklich frei, führen bei Nina zur Erkenntnis, dass auch Finns Freiheit nur eine Chimäre ist. Wer Freiheit will, muss sie bei sich selbst finden. In einem ergreifenden Abschlusssong, eine Ballade, in der sie Freiheit und Notwendigkeit endlich selbst in die Hand nehmen möchte: „Weißes Papier ist dazu da, um beschrieben zu werden“, trennt sie sich von allen einflussnehmenden Geistern, auch von Finn, um selbst ihr eigenes Leben aufzunehmen: selbstbestimmt und unabhängig, selbstbewusst und ohne Zwang. Kurz: Sie fängt an zu leben.

Da ist ein fast zweistündiges Psychogramm einer Jugendkultur entstanden, die selbst die 68er Generation begeistern muss. Nicht Krawall und blinde Wut beherrscht die Bühnenszene (man ist an das Musical Hair erinnert), sondern große Poesie und Sprachgewalt. Eine Jugend, die Kernfragen des Lebens aufwirft und an der Person Mina, medizinisch ein Fall für die Psychiatrie, eine von dissoziativer Identitätsstörung geplagte Frau, auf der Bühne real werden lässt. Mina führt einen Kampf mit sich selbst, bei dem sie sich schlussendlich für das wahre Leben entscheidet. Hierfür gebührt dem Schreibteam, unter der Leitung von Sonja Rudorf, größte Anerkennung.

Chor

Ein neues Kapitel Operngeschichte wird aufgeschlagen


Inszeniert (Ute M. Engelhardt) auf einer blanken Schrägbühne mit einem an der rechten Seite installierten Hausboot als Freiheitssymbol, fand ein lebendiges Spiel, ein Ineinandergreifen von Musik und Handlung von konziser Dichte statt, die keine Sekunde Längen aufwies. Auch Bühnenbilder und Kostüme (Mara Scheibinger) sowie Choreographie (Andrew Cummings) und Licht (Marcel Heyde) waren bestens abgestimmt auf die Laienakteure und die Handlungsdramatik. Da wurde mit vergleichbar wenig Aufwand dramatische Atmosphäre erzeugt und ein abwechslungsreiches Bühnenspiel ermöglicht.

Vor allem aber die Musik war es, die mitriss. Uwe Dierksen (musikalische Leitung), schaffte mit seinem Kompositionsteam ein buntes Kaleidoskop an Musiken, ein Abbild gegenwärtiger Musikspektren. Zwischen Pop und Barock, zwischen Rock und musique concrète, zwischen Improvisation und Soul, alles dabei, aber immer zur jeweiligen Szene passend.


Er schaffte quasi eine Nummernoper im Stile der opera seria, aber auf zeitgenössischer Basis. Dazu diente ihm eine Band, ein Streichquintett, Blechbläser, Cembalo, Keyboard, E-Gitarre und Perkussion. Man hörte Rezitative mit Secco- und Accompagnatobegleitung, vor allem Rey (Jago Schlingensiepen) sang sie in gutem Bassbariton und gekonnter Kopfstimme, wunderbare Balladen, wobei das Liebesduett zwischen Finn (Ole Schwarz) und Mina(Lena Diekmann) herauszuheben ist, ein Chanson der Leinwanddiva (Zinah Edzave) von großer Ausdruckskraft und französischem Flair, einen Kanon des Chors: „Der Kaffee ist ein heißes Getränk“, mit komplexer rhythmischer Synkopik, mal einen Marsch nach Kurt Weills und Bert Brechts Dreigroschenoper und chaplinesken Szenen mit jazziger Untermalung. Immer wieder Tänze, vom Calypso bis zum Rumba, und alles von den mehr als 22 Akteuren und etwa ähnlich vielen Musikern erstaunlich selbstsicher und, man ist geneigt zu sagen, professionell in Szene gesetzt. Eigentlich müsste man jeden einzelnen dieses jugendlichen Teams mit Namen nennen, denn alle, ohne Ausnahme, gaben nicht nur ihr Bestes, sondern wuchsen förmlich über sich hinaus.
links vorne: Jan van Dick (Pascal), Mitte zweite Reihe: Lena Diekmann (Mina), Ole Schwarz (Finn), Zinah Edzave (Leinwanddiva, stehend)

Ein Musiktheater, das ein neues Kapitel aufschlägt. Zwar hat schon Benjamin Britten seinerzeit Musiken und Opern (Welcome OdeA Midsummer Night´s Dream) für Jugendliche geschrieben und der musikalischen Bildung junger Menschen großen Raum eingeräumt. Aber was hier neu ist, das ist die Teamarbeit: Das Entstehen eines musiktheatralischen Werks in direkter Zusammenarbeit von Librettist und Komponist mit Jugendlichen. Wie schrieb doch Sonja Rudorf in ihren "Nachgedanken" zu Mina: „Mina steht für die Bereitschaft umzudenken und für einen Aufbruch in eine Welt, die auf nichts so angewiesen ist wie auf die Vielschichtigkeit und Zusammenhalt.“ Dem gibt es eigentlich nichts hinzuzufügen.

Das Publikum hatte dies auch verspürt und goutiert, denn der Beifall war grenzenlos. Wie stellte doch ein bühnenerfahrener Teilnehmer des Abends fest: „Noch nie habe ich im Rhein-Main-Gebiet so einen Applaus erlebt wie heute.“

Die nächsten Vorstellungen: 04. (19.30 Uhr) und 06.02 (11.00 und 19.30 Uhr)

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