Samstag, 23. Februar 2019


Liliom, Ballett von Tim Plegge nach dem gleichnamigen Schauspiel von Ferenc Molnár, Uraufführung am Staatstheater Darmstadt, 22.02.2019



Daniel Alwell (Liliom), Sayaka Kado (Julie) Fotos: Regina Brocke


Wenn Sprachlosigkeit zum Tanz wird


Liliom, 1912 als Misserfolg gestartet, um dann im Laufe von 100 Jahren zu einem der meistgespielten Volksstücke zu werden – ob im Film, als Musical oder auf der Bühne – ist auch am Staatstheater Darmstadt nicht unbekannt. Bereits 1996 unter der Regie von Michael Gruner oder 2008 als Musical Carousel in der Inszenierung von Philipp Kochheim gefeiert, im vergangenen Jahr gar im Wiesbadener Staatstheater unter Thomas Jonigk mit einer aufsehenerregenden Premiere, hat sich der Choreograph und Ballettdirektor des Hessischen Staatsballetts, Tim Plegge, das Schauspiel von Molnár noch einmal vorgenommen, um die unergründliche Liebesgeschichte zwischen Liliom und Julie tänzerisch auf die Bühne zu bringen. Eine Uraufführung, die einzig in John Neumeiers Ballett von 2011 ein Vorbild findet.


Plegge, bekannt für seine interdisziplinären Experimente (wer erinnert sich nicht an seine Interpretation der Schubertschen Winterreise im November 2017), sieht, eigenen Aussagen zufolge, in Liliom die „Sprachlosigkeit“ eines Liebespaares, Liliom (Daniel Alwell) und Julie (Sayaka Kado), deren Chancenlosigkeit von Anfang an fest steht. Sie sind Gefangene einer schicksalhaften Lebensspirale, in der häusliche Gewalt, Selbstüberschätzung, Verlustängste, materielle Not sowie die hilflose Suche nach Liebe und Geborgenheit das Leben bestimmt und sich im ewigen Kreislauf der Geschichte wiederholt. Er möchte ihre Sprachlosigkeit körperlich verorten, differenziert, mit Tiefenschärfe die menschlichen Körper zu Erzählern ihrer ganz persönlichen Geschichte werden lassen.

Die Bühne (Andrea Auerbach) wurde zum Rummelplatz einer Jugendkultur, wie sie heute an jedem Ort der westlichen Welt angetroffen werden könnte. In modernem Outfit (Kostüme: Judith Adam) tanzten die Gruppen um Bänke und Autoscooter, während im Hintergrund bunte Riesen-Räder drehten (Licht: Tanja Rühl). Die Leinwände im Stile der Malerei Roy Lichtensteins taten ihr Übriges: schlicht und wirkungsvoll in die Choreographie und Dramaturgie (Karin Dietrich) perfekt eingebunden.

Ebenso passte die Lifemusik in die emotionsgeladenen, brüchigen Szenen der Tänzer. Es spielte das Staatsorchester Darmstadt, unter der Leitung von Michael Mündel, und am Flügel saß Kai Adomeit, der Passagen aus Sergej Rachmaninows Variationen (op.43) meisterlich interpretierte, wiewohl die Auswahl der Musikstücke einfühlsam gelungen ist, darunter Suiten von Alfred Schnittke, Teile aus Bohuslav Martinůs ersten drei Sinfonien, aus Henryk Góreckis Sinfonie Nr. 4, aus Dimitri Schostakowitschs Filmmusik zu Barrel Organ, oder auch aus Peteris Vasks Sinfonie Nr. 2, 2. Satz und last but not least von Perez Prado Cherry Pink and Apple Blossom White, ein jazziger Ohrwurm aus den 1950er Jahren. Alles Kompositionen an der Schwelle zur Moderne, changierend zwischen Romantik, Neoklassik sowie polytonaler und atonaler Stilistik.

v.l.: Ramon John (Ficsur), Daniel Alwell (Liliom)

Wenn ein Sozialdrama zum Ballett wird



Die Handlung ist übersichtlich in acht Szenen aufgeteilt (eine Pause nach der sechsten Szene) und von insgesamt 21 musikalischen Einlagen dramaturgisch durchdacht gerahmt. Dreimal tritt die gesamte Kompagnie auf, auf dem Rummelplatz, der Hochzeitsgesellschaft und im Himmel, im „Amt für Todesangelegenheiten – Abteilung Selbstmörder“. Gekonnter Spitzentanz und prächtige Kostüme auf der Hochzeitsfeier, militärisch mit Marschrhythmen im Himmel, wo eine reine Frauengruppe agierte, sowie leger und ausgelassen auf dem Festplatz. Eine Kompanie ohne Fehl und Tadel.


Herausragend neben den überzeugend tanzenden Hauptdarstellern, Daniel Alwell als Liliom, hochgewachsen, geschmeidig und differenziert im Ausdruck, und Sayaka Kado als Julie, die es verstand, alle Facetten ihres zerrissenen Innenlebens als Liebende, Trauernde und Mutter in Bewegung umzusetzen und so der Handlung ihren ganz besonderen Stempel aufdrückte, noch Ramon John als Ficsur, ein durchtriebener Gangster bis in die kleinste Faser seiner Tanznummern, die beiden Polizisten, Masayoshi Katori und Gaetano Vestris Terrana, die einen Slapstick nach dem anderen brachten und so dem Tanzdrama eine humorvolle Note verschafften, sowie Margaret Howard, als Frau Muskat, Budenbesitzerin und Liebhaberin von Liliom und Konkurrentin Julies, die eine selbstbewusste femme fatale verkörperte, den Zickenkrieg beherrschte und durch geradlinige Eleganz hervorstach. 

Plegge neigt zum Musiktheater, möglicherweise gar zur Oper, möchte man nach dieser Uraufführung meinen. Warum? Weil er eine opernreife Handlung, ein Sozialdrama, tänzerisch erzählen lässt: Liliom, ein Hallodri begeht wegen Nichtigkeiten Selbstmord, findet im Himmel die bittere irdische Realität wieder, wird zurückgeschickt auf die Erde, wo es feststellt, dass sich seine, wie die Geschichte der Menschheit im Kreise dreht, wie in der berühmten Filmkomödie Und täglich grüßt das Murmeltier.

Kann man aber eine Erzählung, ein Drama dieser Art nur tanzen? Man kann, auch wenn man automatisch auf die sprachliche Kommunikation wartet. Ein musical-, opern- und filmaffines Volkstheaterstück, dazu mit einer sehr dominanten Musik von renommierten Komponisten, als Ballett auf die Bühne zu zaubern, ist allerdings eine Herausforderung, sorgt unweigerlich für Diskussionsstoff und muss nicht auf Anhieb überzeugen.

vorne: Daniel Alwell (Liliom), Margaret Howard
(Frau Muskat)

Bekanntlich hat John Neumeier (*1939) im Jahre 2011 ebenfalls ein Ballet zu Liliom choreographiert. Allerdings als stumme Musikkomödie, die er in die 1930er Jahre versetzte und mit der Musicalmusik aus Michel Legrands die Regenschirme von Cherbourg (1964) unterlegte. Auf den ersten Blick bestehen zwar keine Gemeinsamkeiten, denn Neumeier legt seinen Tenor auf die Komödie und das Musical, während Plegge das Drama und die ernste Musik unterschiedlicher Provenienz bevorzugt. Auf den zweiten Blick aber bleibt Liliom ein Theaterstück bei beiden (ob Komödie oder Drama) und hier ist Plegge mit seinem Team ein dramaturgisches Meisterwerk, ein choreographisches und musikalisches Unikat gelungen, das beim Publikum gut ankam und durchaus eine neue Stufe des Handlungsballetts erklimmen könnte. 

Das Tor zu einem durchgetanzten Musiktheater oder einer durchgetanzten Oper (man denke nur an Strauss´ Salome – der Tanz der sieben Schleier – oder an Glucks Orpheus und Euridice – Der Reigen der seligen Geister) ist da bereits mehr als ein Spalt geöffnet.

Nächste Vorstellungen: 28.02., 14. und 17.03.

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