Liliom, Ballett von Tim Plegge nach dem
gleichnamigen Schauspiel von Ferenc Molnár, Uraufführung am Staatstheater
Darmstadt, 22.02.2019
Daniel Alwell (Liliom), Sayaka Kado (Julie) Fotos: Regina Brocke |
Wenn Sprachlosigkeit zum Tanz wird
Liliom, 1912 als Misserfolg gestartet, um
dann im Laufe von 100 Jahren zu einem der meistgespielten Volksstücke zu werden
– ob im Film, als Musical oder auf der Bühne – ist auch am Staatstheater
Darmstadt nicht unbekannt. Bereits 1996 unter der Regie von Michael Gruner oder
2008 als Musical Carousel in der
Inszenierung von Philipp Kochheim gefeiert, im vergangenen Jahr gar im Wiesbadener
Staatstheater unter Thomas Jonigk mit einer aufsehenerregenden Premiere, hat
sich der Choreograph und Ballettdirektor des Hessischen Staatsballetts, Tim Plegge, das Schauspiel von Molnár noch
einmal vorgenommen, um die unergründliche Liebesgeschichte zwischen Liliom und
Julie tänzerisch auf die Bühne zu bringen. Eine Uraufführung, die einzig in
John Neumeiers Ballett von 2011 ein Vorbild findet.
Plegge,
bekannt für seine interdisziplinären Experimente (wer erinnert sich nicht an
seine Interpretation der Schubertschen Winterreise
im November 2017), sieht, eigenen Aussagen zufolge, in Liliom die „Sprachlosigkeit“ eines Liebespaares, Liliom (Daniel Alwell) und Julie (Sayaka Kado), deren Chancenlosigkeit
von Anfang an fest steht. Sie sind Gefangene einer schicksalhaften Lebensspirale,
in der häusliche Gewalt, Selbstüberschätzung, Verlustängste, materielle Not
sowie die hilflose Suche nach Liebe und Geborgenheit das Leben bestimmt und
sich im ewigen Kreislauf der Geschichte wiederholt. Er möchte ihre
Sprachlosigkeit körperlich verorten, differenziert, mit Tiefenschärfe die
menschlichen Körper zu Erzählern ihrer ganz persönlichen Geschichte werden
lassen.
Die Bühne (Andrea Auerbach) wurde zum Rummelplatz
einer Jugendkultur, wie sie heute an jedem Ort der westlichen Welt angetroffen
werden könnte. In modernem Outfit (Kostüme: Judith Adam) tanzten die Gruppen um Bänke und Autoscooter, während
im Hintergrund bunte Riesen-Räder drehten (Licht: Tanja Rühl). Die Leinwände im Stile der Malerei Roy Lichtensteins
taten ihr Übriges: schlicht und wirkungsvoll in die Choreographie und
Dramaturgie (Karin Dietrich) perfekt
eingebunden.
Ebenso passte
die Lifemusik in die emotionsgeladenen, brüchigen Szenen der Tänzer. Es spielte
das Staatsorchester Darmstadt, unter der Leitung von Michael Mündel, und am Flügel saß Kai Adomeit, der Passagen aus Sergej Rachmaninows Variationen (op.43) meisterlich interpretierte,
wiewohl die Auswahl der Musikstücke einfühlsam gelungen ist, darunter Suiten von Alfred Schnittke, Teile aus
Bohuslav Martinůs ersten drei Sinfonien, aus Henryk Góreckis Sinfonie
Nr. 4, aus Dimitri Schostakowitschs Filmmusik zu Barrel Organ, oder auch aus Peteris Vasks Sinfonie Nr. 2, 2. Satz und last but not least von Perez Prado Cherry Pink and Apple Blossom White, ein
jazziger Ohrwurm aus den 1950er Jahren. Alles Kompositionen an der Schwelle zur
Moderne, changierend zwischen Romantik, Neoklassik sowie polytonaler und
atonaler Stilistik.
v.l.: Ramon John (Ficsur), Daniel Alwell (Liliom) |
Wenn ein Sozialdrama zum Ballett wird
Die Handlung
ist übersichtlich in acht Szenen aufgeteilt (eine Pause nach der sechsten
Szene) und von insgesamt 21 musikalischen Einlagen dramaturgisch durchdacht gerahmt. Dreimal tritt die
gesamte Kompagnie auf, auf dem Rummelplatz, der Hochzeitsgesellschaft und im
Himmel, im „Amt für Todesangelegenheiten – Abteilung Selbstmörder“. Gekonnter
Spitzentanz und prächtige Kostüme auf der Hochzeitsfeier, militärisch mit Marschrhythmen
im Himmel, wo eine reine Frauengruppe agierte, sowie leger und ausgelassen auf
dem Festplatz. Eine Kompanie ohne Fehl und Tadel.
Herausragend
neben den überzeugend tanzenden Hauptdarstellern, Daniel Alwell als Liliom, hochgewachsen, geschmeidig und
differenziert im Ausdruck, und Sayaka
Kado als Julie, die es verstand, alle Facetten ihres zerrissenen
Innenlebens als Liebende, Trauernde und Mutter in Bewegung umzusetzen und so
der Handlung ihren ganz besonderen Stempel aufdrückte, noch Ramon John als Ficsur, ein
durchtriebener Gangster bis in die kleinste Faser seiner Tanznummern, die
beiden Polizisten, Masayoshi Katori
und Gaetano Vestris Terrana, die
einen Slapstick nach dem anderen brachten und so dem Tanzdrama eine humorvolle
Note verschafften, sowie Margaret Howard,
als Frau Muskat, Budenbesitzerin und Liebhaberin von Liliom und Konkurrentin
Julies, die eine selbstbewusste femme fatale verkörperte, den Zickenkrieg
beherrschte und durch geradlinige Eleganz hervorstach.
Plegge neigt
zum Musiktheater, möglicherweise gar zur Oper, möchte man nach dieser
Uraufführung meinen. Warum? Weil er eine opernreife Handlung, ein Sozialdrama, tänzerisch
erzählen lässt: Liliom, ein Hallodri begeht
wegen Nichtigkeiten Selbstmord, findet im Himmel die bittere irdische Realität
wieder, wird zurückgeschickt auf die Erde, wo es feststellt, dass sich seine,
wie die Geschichte der Menschheit im Kreise dreht, wie in der berühmten Filmkomödie
Und täglich grüßt das Murmeltier.
Kann man aber
eine Erzählung, ein Drama dieser Art nur tanzen? Man kann, auch wenn man
automatisch auf die sprachliche Kommunikation wartet. Ein musical-, opern- und
filmaffines Volkstheaterstück, dazu mit einer sehr dominanten Musik von renommierten
Komponisten, als Ballett auf die Bühne zu zaubern, ist allerdings eine
Herausforderung, sorgt unweigerlich für Diskussionsstoff und muss nicht auf Anhieb überzeugen.
vorne: Daniel Alwell (Liliom), Margaret Howard (Frau Muskat) |
Bekanntlich
hat John Neumeier (*1939) im Jahre 2011 ebenfalls ein Ballet zu Liliom choreographiert. Allerdings als
stumme Musikkomödie, die er in die 1930er Jahre versetzte und mit der Musicalmusik
aus Michel Legrands die Regenschirme von
Cherbourg (1964) unterlegte. Auf den ersten Blick bestehen zwar keine
Gemeinsamkeiten, denn Neumeier legt seinen Tenor auf die Komödie und das Musical,
während Plegge das Drama und die ernste Musik unterschiedlicher Provenienz bevorzugt. Auf den zweiten Blick
aber bleibt Liliom ein Theaterstück bei beiden (ob Komödie oder Drama) und hier ist Plegge mit seinem Team ein dramaturgisches
Meisterwerk, ein choreographisches und musikalisches Unikat gelungen, das beim
Publikum gut ankam und durchaus eine neue Stufe des Handlungsballetts erklimmen
könnte.
Das Tor zu
einem durchgetanzten Musiktheater oder einer durchgetanzten Oper (man denke nur an
Strauss´ Salome – der Tanz der sieben
Schleier – oder an Glucks Orpheus und Euridice
– Der Reigen der seligen Geister) ist da bereits mehr als ein Spalt
geöffnet.
Nächste
Vorstellungen: 28.02., 14. und 17.03.
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