Avis de Tempête
(2004), Oper von Georges Aperghis, Deutsche Erstaufführung im Staatstheater
Mainz, Kleines Haus, 16.03.2019 (Premiere am 09.03.2019)
v.l.: Brett Carter, Alexandra Samouilidou, Michael Dahmen (Fotos:Andreas J. Etter) |
Der Sturm tobt im Kopf
Avis de Tempête (2004) von Georges Aperghis (*1945) kann man eigentlich nicht als Oper bezeichnen, denn sie erzählt nichts, sie kennt keine Arien, keine Helden und sie kennt kein Ende. Was aber macht Avis de Tempête (übersetzt: Sturmwarnung) dennoch zu einer Oper?
Aperghis
dazu: „Das Stück ist so, wie ich mir Oper heute vorstelle. Es ist eine Art und
Weise, von unserer Welt mit unseren heutigen Mitteln zu erzählen. Indem ich die
Linearität der Narration (Erzählung) aufhebe, kann ich die Komplexität des
großen Luna Park (Synonym gigantischer Rummelplätze), der uns umgibt, besser
vergegenwärtigen.“ Oder anders formuliert. Es gibt keine heroischen Taten,
keine Helden mehr. Die Menschen stottern, stammeln, können sich nicht auf den
Beinen halten, sind in eine zusammenhanglose Welt geworfen wie fragmentierte
Bruchstücke, die einzig durch ihre Energie Zusammenhang herstellen können. Und
was eignet sich zu dieser Welteinstellung besser als der Sturm.
Sturmwarnung ist
vor allem ein Vorgang, der sich vorwiegend im Kopf abspielt. Zwar kommen die
Impulse von außen (durch Videosequenzen, Bewegungsspiele und Schriftzüge), aber das eigentliche
Geschehen ereignet sich im Kopfe der Protagonisten. Es sind ihre Gedanken, ihre "durchgeknallten Synapsen", die durch ständige Stimulationen immer weiter
ausschlagen und eine Verheerung im Gehirn, ein Dauerfeuer hinterlassen. Dazu
werden Treppenteile der Zuschauertribüne zweckentfremdet, transparente Vorhänge
in drei Kreisen, einem inneren, mittleren und äußeren, im Laufschritt von Statisten
gedreht, worauf sich die Weltenstürme des Klimawandels, der Massenbewegungen sowie Kriegsgetümmel, Revolutionen, Börsencrashs und Naturkatastrophen abbilden. Auch
die Misere der Europäischen Union wird im Wechsel der Nationalflaggen
demonstriert und dazu Wortfetzen aus Herman Melvilles Moby Dick und Der Blitzableitermann
rezitiert, gesungen, gestöhnt, gerufen. Es ist der äußere Sturm, der ins Innere
des Gehirns eindringt, der, so Melville, im alten Schädel knackt und knistert, „wie
ein Glas mit Wasser, das zu Eis gefriert und es zerspringen lässt“.
Dieser Kernsatz bildete den roten Faden des einstündigen,
unglaublich energetischen Werkes, das Ohr und Auge gleichermaßen in seinen Bann
schlug. Die atemlosen Turbulenzen glichen Wetterphänomenen von der Windstille
(unbewegliche Stürme) bis hin zum Orkan, begleitet von einem Psychothriller musikalischer
Untermalungen.
Ein Mix aus akustischen Elementen, erzeugt von zehn Instrumentalisten
(darunter fünf Bläser, zwei Streicher, ein E-Gitarrist und zwei Keyboarder) und
jeder Menge elektronischer Einspielungen (Samples, Radiowellen, Sturmmaschinen),
ließ eine variierende Collage unterschiedlichster cut-ups entstehen: eine
Sequenztechnik, die nicht allein Worte und Texte fragmentiert, um ihnen einen
neuen Sinn zu verleihen, sondern auch ins Vokabular der Algorithmen eingreift, und
so völlig neue Klangfarben, Obertonreihen und Klangeffekte produziert. Es
herrschte ein Atmen und Schnaufen, ein Blitzen und Donnern, das, durch Sprechen, Lallen, Stöhnen und Singen ergänzt, zu einem ganz eigenwilligen Raumklang amalgamierte, der
auch die kleinsten Synapsen des Gehirns reizte und dort chaotische Zustände
auszulösen drohte.
Bildszene mit Ensemble |
Neue akustische Räume im Sturm erobert
Vier Akteure, zwei Baritone (Brett Charter und Michael
Dahmen), eine Sopranistin (Alexandra
Samouilidou) sowie eine Schauspielerin (Konstantina Samouilidou) und dazu noch der Dirigent Hermann Bäumer (mehr Kapitän Ahab,
Steuermann und Wetterbeobachter als musikalischer Leiter) führten durch die stürmische
Welt der Oper, was ihnen, alle sind Mitglieder des Mainzer Staatstheaters, eindrucksvoll
und hinreißend gelang. Weitere fünf Statisten, die die Vorhänge wie die Freitreppe
bewegten und die Videos organisierten, verwandelten das Bühnengeschehen mit viel
Symbolik (Horrormasken, Gummiwal als Moby Dick, aufgeblasene Gummiaugen, Segel
eines Schiffes und vieles mehr) und Lichteffekten (transparente Farbspiele, Hell-Dunkel-Kontraste) zu einem meteorologischen Sturmbild, wo selbst Bäumer, in der Kleidung
eines Zirkuschefs und in der Pose des Ahab, die wilden Winde des sturmumtosten
Schiffes zu beschwören schien.
Anselm Dalferths
(Regie) Absicht, die Oper selbst zu einem Sturm werden zu lassen, „überraschend,
rücksichtslos und mitreißend“, ist voll aufgegangen. Gemeinsam mit seinem Team
um Birgit Keller (Bühne), Alexandre Corazzola (Kostüme), René Zensen (Licht) Christoph Schödel (Video) und Elena Garcia Fernandez (Dramaturgie) –
unterstützt von Klangregie (Joachim
Haas/Simon Spillner) und Life-Elektronischer Realisation des SWR – hat er das Wagnis einer
zeitgenössischen Opernaufführung unternommen, den Begriff der Oper völlig
neu zu definieren und somit das Hör- und Seherlebnis des Publikums im wahrsten
Sinne auf den Kopf zu stellen. Der Philosoph und Zweitlibrettist von Avis de Tempête, Peter Szendy (*1966), bekannt unter anderem durch seine Geschichte
des Hörens (Buchtitel: Höre/n 2015),
möchte die Ohren wachrütteln, „neue gedankliche und akustische Räume eröffnen,
nachdenklich machen und zu genauerem Hören verführen“. Gemeinsam mit der Musik
von Aperghis ist dieses Ansinnen durchaus realisiert worden, wenngleich doch einige den Raum des Kleinen Hauses vorzeitig verließen.
„Plötzlich wurde alles hell, der Wind verschwand, die Blitze
erstarrten.“ Bäumer, in einer Deus-ex-machina-Pose mit Widdermaske, zitiert zum Schluss aus Melvilles Moby Dick den halluzinatorischen Traum
des vom Schicksal heimgesuchten Kapitäns: „Wäre ich der Wind, ich würde nicht
mehr wehen über eine Welt, die so böse und so elend ist.“ Er lobt den Passatwind,
in dem Herrliches und Liebliches zugleich liegt. Sein Seelenschiff scheint den
Hafen gefunden zu haben. Das Unwetter zu Ende, der Wind gedreht?
Bildszene, Mitte Konstantina Samouilidou |
Keineswegs - Aperghis lässt das Ende zum Anfang werden: „Es schien
das Ende zu sein, aber es war der Anfang.“ Licht aus, der Vorhang fällt und
viele Fragen offen. Bei Melville heißt es dazu: „Der Sturm war im Begriff, mit
einer frischen Truppe von Orkanen anzurücken.“ Der ewige Kreislauf des Sturms bleibt der ewige Begleiter des Lebens.
Eine Opernstunde, die man sich nicht entgehen lassen sollte.
Nächste Vorstellungen: 22.03., 07.04., 28.04. und 11.05.
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