Sonntag, 17. März 2019


Avis de Tempête (2004), Oper von Georges Aperghis, Deutsche Erstaufführung im Staatstheater Mainz, Kleines Haus, 16.03.2019 (Premiere am 09.03.2019)

v.l.: Brett Carter, Alexandra Samouilidou, Michael Dahmen (Fotos:Andreas J. Etter)


Der Sturm tobt im Kopf


Avis de Tempête (2004) von Georges Aperghis (*1945) kann man eigentlich nicht als Oper bezeichnen, denn sie erzählt nichts, sie kennt keine Arien, keine Helden und sie kennt kein Ende. Was aber macht Avis de Tempête (übersetzt: Sturmwarnung) dennoch zu einer Oper? 


Aperghis dazu: „Das Stück ist so, wie ich mir Oper heute vorstelle. Es ist eine Art und Weise, von unserer Welt mit unseren heutigen Mitteln zu erzählen. Indem ich die Linearität der Narration (Erzählung) aufhebe, kann ich die Komplexität des großen Luna Park (Synonym gigantischer Rummelplätze), der uns umgibt, besser vergegenwärtigen.“ Oder anders formuliert. Es gibt keine heroischen Taten, keine Helden mehr. Die Menschen stottern, stammeln, können sich nicht auf den Beinen halten, sind in eine zusammenhanglose Welt geworfen wie fragmentierte Bruchstücke, die einzig durch ihre Energie Zusammenhang herstellen können. Und was eignet sich zu dieser Welteinstellung besser als der Sturm.

Sturmwarnung ist vor allem ein Vorgang, der sich vorwiegend im Kopf abspielt. Zwar kommen die Impulse von außen (durch Videosequenzen, Bewegungsspiele und Schriftzüge), aber das eigentliche Geschehen ereignet sich im Kopfe der Protagonisten. Es sind ihre Gedanken, ihre "durchgeknallten Synapsen", die durch ständige Stimulationen immer weiter ausschlagen und eine Verheerung im Gehirn, ein Dauerfeuer hinterlassen. Dazu werden Treppenteile der Zuschauertribüne zweckentfremdet, transparente Vorhänge in drei Kreisen, einem inneren, mittleren und äußeren, im Laufschritt von Statisten gedreht, worauf sich die Weltenstürme des Klimawandels, der Massenbewegungen sowie Kriegsgetümmel, Revolutionen, Börsencrashs und Naturkatastrophen abbilden. Auch die Misere der Europäischen Union wird im Wechsel der Nationalflaggen demonstriert und dazu Wortfetzen aus Herman Melvilles Moby Dick und Der Blitzableitermann rezitiert, gesungen, gestöhnt, gerufen. Es ist der äußere Sturm, der ins Innere des Gehirns eindringt, der, so Melville, im alten Schädel knackt und knistert, „wie ein Glas mit Wasser, das zu Eis gefriert und es zerspringen lässt“.

Dieser Kernsatz bildete den roten Faden des einstündigen, unglaublich energetischen Werkes, das Ohr und Auge gleichermaßen in seinen Bann schlug. Die atemlosen Turbulenzen glichen Wetterphänomenen von der Windstille (unbewegliche Stürme) bis hin zum Orkan, begleitet von einem Psychothriller musikalischer Untermalungen.

Ein Mix aus akustischen Elementen, erzeugt von zehn Instrumentalisten (darunter fünf Bläser, zwei Streicher, ein E-Gitarrist und zwei Keyboarder) und jeder Menge elektronischer Einspielungen (Samples, Radiowellen, Sturmmaschinen), ließ eine variierende Collage unterschiedlichster cut-ups entstehen: eine Sequenztechnik, die nicht allein Worte und Texte fragmentiert, um ihnen einen neuen Sinn zu verleihen, sondern auch ins Vokabular der Algorithmen eingreift, und so völlig neue Klangfarben, Obertonreihen und Klangeffekte produziert. Es herrschte ein Atmen und Schnaufen, ein Blitzen und Donnern, das, durch Sprechen, Lallen, Stöhnen und Singen ergänzt, zu einem ganz eigenwilligen Raumklang amalgamierte, der auch die kleinsten Synapsen des Gehirns reizte und dort chaotische Zustände auszulösen drohte.

Bildszene mit Ensemble

Neue akustische Räume im Sturm erobert


Vier Akteure, zwei Baritone (Brett Charter und Michael Dahmen), eine Sopranistin (Alexandra Samouilidou) sowie eine Schauspielerin (Konstantina Samouilidou) und dazu noch der Dirigent Hermann Bäumer (mehr Kapitän Ahab, Steuermann und Wetterbeobachter als musikalischer Leiter) führten durch die stürmische Welt der Oper, was ihnen, alle sind Mitglieder des Mainzer Staatstheaters, eindrucksvoll und hinreißend gelang. Weitere fünf Statisten, die die Vorhänge wie die Freitreppe bewegten und die Videos organisierten, verwandelten das Bühnengeschehen mit viel Symbolik (Horrormasken, Gummiwal als Moby Dick, aufgeblasene Gummiaugen, Segel eines Schiffes und vieles mehr) und Lichteffekten (transparente Farbspiele, Hell-Dunkel-Kontraste) zu einem meteorologischen Sturmbild, wo selbst Bäumer, in der Kleidung eines Zirkuschefs und in der Pose des Ahab, die wilden Winde des sturmumtosten Schiffes zu beschwören schien.

Anselm Dalferths (Regie) Absicht, die Oper selbst zu einem Sturm werden zu lassen, „überraschend, rücksichtslos und mitreißend“, ist voll aufgegangen. Gemeinsam mit seinem Team um Birgit Keller (Bühne), Alexandre Corazzola (Kostüme), René Zensen (Licht) Christoph Schödel (Video) und Elena Garcia Fernandez (Dramaturgie) – unterstützt von Klangregie (Joachim Haas/Simon Spillner) und Life-Elektronischer Realisation des SWR – hat er das Wagnis einer zeitgenössischen Opernaufführung unternommen, den Begriff der Oper völlig neu zu definieren und somit das Hör- und Seherlebnis des Publikums im wahrsten Sinne auf den Kopf zu stellen. Der Philosoph und Zweitlibrettist von Avis de Tempête, Peter Szendy (*1966), bekannt unter anderem durch seine Geschichte des Hörens (Buchtitel: Höre/n 2015), möchte die Ohren wachrütteln, „neue gedankliche und akustische Räume eröffnen, nachdenklich machen und zu genauerem Hören verführen“. Gemeinsam mit der Musik von Aperghis ist dieses Ansinnen durchaus realisiert worden, wenngleich doch einige den Raum des Kleinen Hauses vorzeitig verließen.

„Plötzlich wurde alles hell, der Wind verschwand, die Blitze erstarrten.“ Bäumer, in einer Deus-ex-machina-Pose mit Widdermaske, zitiert zum Schluss aus Melvilles Moby Dick den halluzinatorischen Traum des vom Schicksal heimgesuchten Kapitäns: „Wäre ich der Wind, ich würde nicht mehr wehen über eine Welt, die so böse und so elend ist.“ Er lobt den Passatwind, in dem Herrliches und Liebliches zugleich liegt. Sein Seelenschiff scheint den Hafen gefunden zu haben. Das Unwetter zu Ende, der Wind gedreht?

Bildszene, Mitte Konstantina Samouilidou

Keineswegs - Aperghis lässt das Ende zum Anfang werden: „Es schien das Ende zu sein, aber es war der Anfang.“ Licht aus, der Vorhang fällt und viele Fragen offen. Bei Melville heißt es dazu: „Der Sturm war im Begriff, mit einer frischen Truppe von Orkanen anzurücken.“ Der ewige Kreislauf des Sturms  bleibt der ewige Begleiter des Lebens.

Eine Opernstunde, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Nächste Vorstellungen: 22.03., 07.04., 28.04. und 11.05.  

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