Donnerstag, 7. März 2019


Hohe Messe in h-Moll (BWV 232), Johann Sebastian Bach (1685-1750), Chor und Ensemble Pygmalion (Raphaël Pichon), Großer Saal der Alten Oper Frankfurt, 06.03.2019 (eine Veranstaltung der Frankfurter Bachkonzerte)


vorne v.l.: Joanne Lunn,, Lea Desandre, Lucile Richardot, Raphaël Pichon, Emiliano Gonzalez Toro, Manuel Walser, Chor
und Orchester des Ensemble Pygmalion (Foto: Christiane Grün) 

Ein Hörgenuss mit Erkenntnischarakter

Albert Schweitzer (1875-1965), Arzt, Philosoph, Pazifist, Theologe, Musikwissenschaftler und vor allem großer Bachkenner, meinte einmal zur h-Moll Messe, die übrigens zu Lebzeiten Bachs nie aufgeführt wurde, sie sei die großartige Darstellung des katholischen wie des protestantischen Glaubens und dabei „so rätselhaft und unergründlich tief wie das religiöse Gemüt des Meisters“.



Erst am Ende seines Lebens, 1748/49, nimmt sich Bach seine 1733 begonnene Messe wieder vor – ohne Auftrag, ohne Drucklegungs- oder Veröffentlichungsabsicht – und ergänzt bzw. vervollständigt sein Opus magnum nach Kyrie und Gloria durch Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei. Ursprünglich die Bewerbungsbeilage (lediglich die Stimmen, nicht die Partitur) an den sächsischen Kurfürsten August den Starken (1670-1733) zur Erlangung des Titels „Hofkompositeur“, in der Absicht, den ständigen persönlichen und finanziellen Querelen mit seinen Vorgesetzten einen Kontrapunkt zu setzen (die Ernennung erhielt er erst drei Jahre später, ohne wirklichen Nutzen), wird die Messe für ihn am Ende seines Lebens zu einer Gesamtschau seines Schaffens, zu einer Bilanz seines  überaus schöpferischen Lebens.

Ist sie Ausdruck der „Melancholie des Vermögens“, wie sich Hindemith einmal zu ihr äußerte, oder mehr ein Hörgenuss, der Erkenntnis schafft, wie es sinngemäß Theodor W. Adorno formulierte (Christian Kabitz im Einführungsgespräch)? Sie ist schlicht Beides.

Tatsächlich fand ihre erste vollständige Aufführung erst 1834/35 in Berlin mit der Berliner Singakademie statt und 1856 dann in Frankfurt/Main mit dem Cäcilienchor. Sie galt viele Jahrzehnte als nicht sing- und unspielbar und wird noch heute wegen ihrer großen Schwierigkeiten nur von sehr wenig professionellen Ensembles und Chören aufgeführt

Das Ensemble Pygmalion, im Jahre 2006 von dem Countertenor, Geiger und Pianist, Raphaël Pichon (*1984), gegründet, besteht aus einem gemischten Chor und einem Orchester für historische Instrumente. Unter seiner Leitung avancierte dieses professionelle Ensemble mit 30 SängerInnen und 31 InstrumentalistInnen zu einem der renommiertesten Klangkörper für Musik von Bach bis Berlioz. Diverse CD-Aufnahmen wurden mit Preisen belegt und 2018 erhielt Pygmalion gar den Opus-Klassik-Preis in der Kategorie Operneinspielung des Jahres mit Werken aus dem 17. und 18 Jahrhundert. Jetzt hat es sich dieser schwierigen, rätselhaften, prächtigen, tief gläubigen h-Moll Messe angenommen, deren Tournee-Start (weitere Aufführungen in Köln und Essen) in der Frankfurter Alten Oper stattfand. Und das war ein wirklich glanzvoller.

Fünf SolosängerInnen (die Sopranistinnen Joanne Lunn und Lea Desandre, die Mezzosopranistin Lucile Richardot, der Tenor Emiliano Gonzales Toro und der Bariton Manuel Walser) rahmten den überwiegend vom Chor und Orchester  beherrschten lateinischen Messetext (18 Chorsätze und 9 Arien). Bereits das Kyrie eleison (Herr erbarme dich) wechselte vom feierlichen Flehen zur sonnigen Heiterkeit im Christe eleison und im abschließenden Kyrie dann zur friedvollen Apotheose mit Streicher und Basso Continuo Begleitung. Es war ein Einstieg, der bereits die ganze Bandbreite des Gesangs und Spiels herausforderte und das Publikum  in den Fluss des Geschehens mitriss. Hier wurde der romantische Interpretationsrahmen durch lange Phrasierungen und Legatobögen sowie ausgeprägter crescendo-diminuendo sowie rallentando-accelerando Passagen deutlich. Durchaus der Feierlichkeit der Messe, einer  Missa solemnis angemessen.

Glanzvolle Pracht und subjektive Innerlichkeit

Raphaël Pichon (Foto: Alte Oper Frankfurt)

Im Gloria, bestehend aus vier Chor- und vier Solosätzen, konnten sich die SängerInnen erstmals bewähren. Herauszuheben dabei die Sopranistin Joanne Lunn, die durch Frische und Klarheit hervorstach. Lea Desandre, eigentlich eine Sopranistin, hier in der Altstimme, konnte lediglich im Duett mit Lunn überzeugen, da hier die tiefe Lage wenig ausgeprägt war. Allerdings war sie im Laudamus te, einer sehr figurativen Arie stimmlich doch ein wenig überfordert.
Ähnlich die Basspartie, vom Bariton Manuel Walser gesungen. Er, bereits mit vielen Lorbeeren geschmückt, in der Liedgattung und auf der Opernbühne zuhause, war offensichtlich indisponiert. Kaum hörbar in der Tiefe und atemlos in den Höhen. Er hatte zwar nur zwei Solopartien (Gloria /Credo) zu singen, die aber nicht sein sängerisches Potenzial widerspiegelten. Mit heller, natürlich phrasierender Stimme dafür Emiliano Gonzales Toro, der vor allem im Benedictus, das er ohne Noten in gänzlicher verinnerlichter Haltung sang, zur Hochform auflief. 

Ab dem Credo ersetzte die Mezzosopranistin Lucile Richardot die Sopranistin Lea Desandre. Ihre etwas metallische, nasale Stimme passte brillant zum Duett mit Joanne Lunn im Et in unum Deo, der Stelle im Credo, in der die Wesensgleichheit Christi mit Gott hervorgehoben wird. Die streng kanonische Imitation des Gesangs, aus dem Christus ebenbildlich aus Gotte hervorgeht, wurde allein durch die unterschiedlichen Stimmcharaktere der beiden Sängerinnen zu einem musikalischen Glaubensbekenntnis von tiefer Religiosität. 

Der Höhepunkt der Messe, im Kern von drei Chorsätzen geprägt, untermalte im Et resurrexit tertia die (Und ist auferstanden am dritten Tag) noch einmal die Glaubensfestigkeit durch die unentwegte Achtelbewegung der Bässe und ließ im Auferstehungsmotiv des Et expecto resurrectionem mortuorum et vitam (Und erwarte die Auferstehung der Toten und das Leben) den Jubel, das Frohlocken der Auserwählten am Jüngsten Tage ertönen. Mit Pauken und Trompeten, unglaublicher Prägnanz und mitreißender Spiel- und Singfreude ein kurzes Amen (So sei es), aber das mit nachhaltiger Wirkung.

Sanctus, Benedictus und Agnus dei werden zur Sechsstimmigkeit des Chores erweitert, um die Worte des Propheten Jesajas: Heilig, Heilig, Heilig ist Gott der Herr zur himmlischen Anrufung herauszustreichen. Dazu wechselte auch der Chor seine Positionen. Trompetenfanfaren und Paukenschläge begleiteten die machtvollen Schritte der Bässe. Dazu der wellenförmige, figurative, den Kosmos beschreibende Gesang, der an Tempo und Virtuosität zunahm und beim Pleni sunt coeli et terra gloria eius (Voll sind Himmel und Erde von seiner Herrlichkeit) ekstatische Zustände erklomm, die der Chor und das Orchester allerdings mit Leichtigkeit, ja Frohsinn und unglaublicher Musikalität meisterte.

Dann der ruhige Ausklang des Ganzen. Erinnert sei an den Tenor Emiliano Gonzales Toro, der das Benedictus in flehender, bittender Haltung zelebrierte. Eine Arie von Lucile Richardot mit einem Accompagnato gedämpfter Streichinstrumente und Basso Continuo, voll langgezogener Vorhalte mit deutlich dissonanter Absicht, sehr passend zu ihrer Mezzostimme, wurde mit einem Dona nobis pacem (Gib uns Frieden) vom Chor zu Ende gebracht. Nicht aber als Bitte zum Frieden, sondern vielmehr als Danksagung und Lobpreisung, denn Bach wiederholt hier den Satz des Gratias agimus tibi (Wir sagen dir Dank) aus dem Gloria. Eine sechsstimmige Motette mit Orchestertutti, das mit tiefer Überzeugung, gutes auf dieser Welt hinterlassen zu haben, im Äther des Großen Saals der Alter Oper verklang.

Lange Atempause und dann brausender Beifall des vollbesetzten Saals mit viel Blumen und begeisterten Bravorufen. Eine Hohe Messe, die – gefühlt seit Ewigkeiten nicht mehr in Frankfurt aufgeführt – tiefe Ergriffenheit hinterließ. Ein Ensemble Pygmalion, das unter der leichten Hand seines Gründers und musikalischen Leiters, Raphaël Pichon, dem monumentalen Werk glanzvolle Pracht und subjektive Innerlichkeit verlieh: eine Offenbarung der Unergründlichkeit und Religiosität eines Johann Sebastian Bach – eine Preisgebung der Melancholie des Wissenden und der Erkenntnis, die Welt der Musik ungemein bereichert zu haben.

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