Hohe
Messe in h-Moll (BWV 232), Johann Sebastian Bach
(1685-1750), Chor und Ensemble Pygmalion (Raphaël Pichon), Großer Saal der
Alten Oper Frankfurt, 06.03.2019 (eine Veranstaltung der Frankfurter Bachkonzerte)
vorne v.l.: Joanne Lunn,, Lea Desandre, Lucile Richardot, Raphaël Pichon, Emiliano Gonzalez Toro, Manuel Walser, Chor und Orchester des Ensemble Pygmalion (Foto: Christiane Grün) |
Albert Schweitzer (1875-1965), Arzt, Philosoph, Pazifist, Theologe, Musikwissenschaftler und vor allem großer Bachkenner, meinte einmal zur h-Moll Messe, die übrigens zu Lebzeiten Bachs nie aufgeführt wurde, sie sei die großartige Darstellung des katholischen wie des protestantischen Glaubens und dabei „so rätselhaft und unergründlich tief wie das religiöse Gemüt des Meisters“.
Erst am Ende seines Lebens, 1748/49, nimmt sich Bach
seine 1733 begonnene Messe wieder vor – ohne Auftrag, ohne Drucklegungs- oder
Veröffentlichungsabsicht – und ergänzt bzw. vervollständigt sein Opus magnum nach
Kyrie und Gloria durch Credo, Sanctus,
Benedictus und Agnus Dei.
Ursprünglich die Bewerbungsbeilage (lediglich die Stimmen, nicht die Partitur)
an den sächsischen Kurfürsten August den Starken (1670-1733) zur Erlangung des
Titels „Hofkompositeur“, in der Absicht, den ständigen persönlichen und
finanziellen Querelen mit seinen Vorgesetzten einen Kontrapunkt zu setzen (die
Ernennung erhielt er erst drei Jahre später, ohne wirklichen Nutzen), wird die
Messe für ihn am Ende seines Lebens zu einer Gesamtschau seines Schaffens, zu
einer Bilanz seines überaus schöpferischen
Lebens.
Ist sie Ausdruck der „Melancholie des Vermögens“,
wie sich Hindemith einmal zu ihr äußerte, oder mehr ein Hörgenuss, der
Erkenntnis schafft, wie es sinngemäß Theodor W. Adorno formulierte (Christian
Kabitz im Einführungsgespräch)? Sie ist schlicht Beides.
Tatsächlich fand ihre erste vollständige Aufführung
erst 1834/35 in Berlin mit der Berliner Singakademie statt und 1856 dann in
Frankfurt/Main mit dem Cäcilienchor. Sie galt viele Jahrzehnte als nicht sing-
und unspielbar und wird noch heute wegen ihrer großen Schwierigkeiten nur von sehr
wenig professionellen Ensembles und Chören aufgeführt
Das Ensemble
Pygmalion, im Jahre 2006 von dem Countertenor, Geiger und Pianist, Raphaël Pichon (*1984), gegründet, besteht
aus einem gemischten Chor und einem Orchester für historische Instrumente.
Unter seiner Leitung avancierte dieses professionelle Ensemble mit 30
SängerInnen und 31 InstrumentalistInnen zu einem der renommiertesten
Klangkörper für Musik von Bach bis Berlioz. Diverse CD-Aufnahmen wurden mit
Preisen belegt und 2018 erhielt Pygmalion
gar den Opus-Klassik-Preis in der
Kategorie Operneinspielung des Jahres mit Werken aus dem 17. und 18
Jahrhundert. Jetzt hat es sich dieser schwierigen, rätselhaften, prächtigen,
tief gläubigen h-Moll Messe
angenommen, deren Tournee-Start (weitere Aufführungen in Köln und Essen) in der
Frankfurter Alten Oper stattfand. Und das war ein wirklich glanzvoller.
Fünf SolosängerInnen (die Sopranistinnen Joanne Lunn und Lea Desandre, die Mezzosopranistin Lucile Richardot, der Tenor Emiliano
Gonzales Toro und der Bariton Manuel
Walser) rahmten den überwiegend vom Chor und Orchester beherrschten lateinischen Messetext (18
Chorsätze und 9 Arien). Bereits das Kyrie
eleison (Herr erbarme dich) wechselte vom feierlichen Flehen zur sonnigen
Heiterkeit im Christe eleison und im
abschließenden Kyrie dann zur
friedvollen Apotheose mit Streicher und Basso Continuo Begleitung. Es war ein
Einstieg, der bereits die ganze Bandbreite des Gesangs und Spiels
herausforderte und das Publikum in den
Fluss des Geschehens mitriss. Hier wurde der romantische
Interpretationsrahmen durch lange Phrasierungen und Legatobögen sowie ausgeprägter
crescendo-diminuendo sowie rallentando-accelerando Passagen deutlich. Durchaus der
Feierlichkeit der Messe, einer Missa solemnis angemessen.
Glanzvolle Pracht und subjektive Innerlichkeit
Raphaël Pichon (Foto: Alte Oper Frankfurt) |
Im Gloria,
bestehend aus vier Chor- und vier Solosätzen, konnten sich die SängerInnen
erstmals bewähren. Herauszuheben dabei die Sopranistin Joanne Lunn, die durch Frische und Klarheit hervorstach. Lea Desandre, eigentlich eine Sopranistin,
hier in der Altstimme, konnte lediglich im Duett mit Lunn überzeugen, da hier
die tiefe Lage wenig ausgeprägt war. Allerdings war sie im Laudamus te, einer sehr figurativen Arie stimmlich doch ein wenig
überfordert.
Ähnlich die Basspartie, vom Bariton Manuel Walser gesungen. Er, bereits mit
vielen Lorbeeren geschmückt, in der Liedgattung und auf der Opernbühne zuhause,
war offensichtlich indisponiert. Kaum hörbar in der Tiefe und atemlos in den
Höhen. Er hatte zwar nur zwei Solopartien (Gloria
/Credo) zu singen, die aber nicht sein sängerisches Potenzial widerspiegelten.
Mit heller, natürlich phrasierender Stimme dafür Emiliano Gonzales Toro, der vor allem im Benedictus, das er ohne Noten in gänzlicher verinnerlichter Haltung
sang, zur Hochform auflief.
Ab dem Credo
ersetzte die Mezzosopranistin Lucile Richardot die Sopranistin Lea Desandre.
Ihre etwas metallische, nasale Stimme passte brillant zum Duett mit Joanne Lunn
im Et in unum Deo, der Stelle im Credo, in der die Wesensgleichheit
Christi mit Gott hervorgehoben wird. Die streng kanonische Imitation des
Gesangs, aus dem Christus ebenbildlich aus Gotte hervorgeht, wurde allein durch
die unterschiedlichen Stimmcharaktere der beiden Sängerinnen zu einem musikalischen
Glaubensbekenntnis von tiefer Religiosität.
Der Höhepunkt der Messe, im Kern von drei Chorsätzen
geprägt, untermalte im Et resurrexit
tertia die (Und ist auferstanden am dritten Tag) noch einmal die
Glaubensfestigkeit durch die unentwegte Achtelbewegung der Bässe und ließ im Auferstehungsmotiv
des Et expecto resurrectionem mortuorum
et vitam (Und erwarte die Auferstehung der Toten und das Leben) den Jubel,
das Frohlocken der Auserwählten am Jüngsten Tage ertönen. Mit Pauken und Trompeten,
unglaublicher Prägnanz und mitreißender Spiel- und Singfreude ein kurzes Amen (So sei es), aber das mit
nachhaltiger Wirkung.
Sanctus, Benedictus und Agnus dei werden zur Sechsstimmigkeit des Chores erweitert, um die Worte des Propheten Jesajas: Heilig, Heilig, Heilig ist Gott der Herr zur himmlischen Anrufung herauszustreichen. Dazu wechselte auch der Chor seine Positionen. Trompetenfanfaren und Paukenschläge begleiteten die machtvollen Schritte der Bässe. Dazu der wellenförmige, figurative, den Kosmos beschreibende Gesang, der an Tempo und Virtuosität zunahm und beim Pleni sunt coeli et terra gloria eius (Voll sind Himmel und Erde von seiner Herrlichkeit) ekstatische Zustände erklomm, die der Chor und das Orchester allerdings mit Leichtigkeit, ja Frohsinn und unglaublicher Musikalität meisterte.
Dann der ruhige Ausklang des Ganzen. Erinnert sei an
den Tenor Emiliano Gonzales Toro, der das
Benedictus in flehender, bittender Haltung zelebrierte. Eine Arie von Lucile Richardot mit einem Accompagnato
gedämpfter Streichinstrumente und Basso Continuo, voll langgezogener Vorhalte
mit deutlich dissonanter Absicht, sehr passend zu ihrer Mezzostimme, wurde mit
einem Dona nobis pacem (Gib uns Frieden)
vom Chor zu Ende gebracht. Nicht aber als Bitte zum Frieden, sondern vielmehr
als Danksagung und Lobpreisung, denn Bach wiederholt hier den Satz des Gratias agimus tibi (Wir sagen dir Dank)
aus dem Gloria. Eine sechsstimmige
Motette mit Orchestertutti, das mit tiefer Überzeugung, gutes auf dieser Welt hinterlassen zu haben, im Äther des Großen
Saals der Alter Oper verklang.
Lange Atempause und dann brausender Beifall des
vollbesetzten Saals mit viel Blumen und begeisterten Bravorufen. Eine Hohe Messe, die – gefühlt seit
Ewigkeiten nicht mehr in Frankfurt aufgeführt – tiefe Ergriffenheit hinterließ.
Ein Ensemble Pygmalion, das unter der
leichten Hand seines Gründers und musikalischen Leiters, Raphaël Pichon, dem
monumentalen Werk glanzvolle Pracht und subjektive Innerlichkeit verlieh: eine
Offenbarung der Unergründlichkeit und Religiosität eines Johann Sebastian Bach –
eine Preisgebung der Melancholie des Wissenden und der Erkenntnis, die Welt der
Musik ungemein bereichert zu haben.
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