Montag, 29. April 2019


73. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) in Darmstadt, Akademie für Tonkunst, 24.-27.04.2018

ÖFFENTLICHprivat – (Zwischen)räume in der Gegenwartsmusik


Vorträge und Konzert am 25.04.2018


In diesem Jahr greift das Institut eine Thematik auf, die seit Menschengedenken die Kunstschaffenden und Kunstrezipienten beschäftigt: In welchen Räumen findet Kunst überhaupt statt? Wo ist das Private, wo das Öffentliche? Gibt es ein Wechselspiel zwischen beiden? Auf die Produktion von Musik bezogen stellt sich die Frage in einer globalisierten, grenzenlosen Kunstwelt: Gibt es heute überhaupt noch die klare Trennung zwischen Komponist, Interpret und Publikum/Auditorium? Können Räume (Konzerthallen, Opernhäuser, Musiktheater etc.) heute noch Orte der Musikrezeption sein, oder setzen sich mehr und mehr die Zwischenräume (Plätze, Industriehallen, Parkhäuser etc.) durch?

Jörn Peter Hiekel, der Vorsitzende des INMM, leitete sein Eingangsreferat mit Zitaten zweier über die Grenzen Europas bekannten Komponisten ein. Helmut Lachenmann  (*1935)  meinte bereits 1979 in seinem Aufsatz Struktur und Musikantik: „Kunst erinnert den Menschen an seine Möglichkeit und Bestimmung, im Spannungsfeld von Innerlichkeit und Öffentlichkeit sich zu erkennen, sich auszudrücken – und verantwortlich zu leben und zu handeln.“ Und Enno Poppe (*1969) ergänzte in einem Vorwort zu einer Konzertreihe des Ensemble Mosaik 2017/18: „Die Idee der autonomen Musik ist ein Widerstand gegen die Vorstellung, dass alle Musik immer verfügbar sein sollte, und nichts kosten darf, ein Tagesbegleitmedium ist. Musik hat eigene Gesetze und Inhalte.“

Beide erkennen unabhängig voneinander, dass Kunst und Musik immer ein Wechselspiel von Öffentlichkeit und Privatheit darstellt und die Räume ihres Konsums auch Supermärkte, Bahnhöfe, Restaurants sein können. Wenngleich dabei die Autonomie (Selbstbestimmtheit) der Kunst immer auch die Verantwortlichkeit gegenüber dem Leben bedeutet, die Souveränität des Einzelnen (Innerlichkeit) in der Gemeinschaft (Öffentlichkeit) und die aufgeklärte Öffentlichkeit gegenüber dem kunstschaffenden Subjekt nur in einem gegenseitig respektierenden Austausch funktionieren kann.

Hiekel spricht anknüpfend daran von Konzert-, Schutz- und Immersionsräumen. Nennt Arnold Schönbergs 1918 gegründeten Verein für musikalische Privataufführungen, als Schutzraum gegen gewalttätige Übergriffe und  Luigi Nonos „radikale Innerlichkeit“ in Il canto sospeso (1956), wo er mit einer nicht öffentlichkeitswirksamen Textreflexion und Musiksprache (seriell) eine quasi „musica privata“ erzeugte. Darüber hinaus verweist er auf den anwesenden israelischen Komponisten, Yuval Shaked (*1955), der seine Musik als „Selbstverteidigungsmaßnahme“ begreift und, in der Hoffnung auf Öffentlichkeit, die ihm oftmals in seiner Heimat verwehrt wird, in der privaten Aufführungspraxis seinen Schutzraum sieht.

Oder auch Ruedi Häusermanns Tonhallenprojekt während der Münchner Biennale 2018: Ein winziges Häuschen vor dem Nationaltheater, worin ein Streichquartett mit geringstem Platz vor drei oder vier Zuschauern die Selbstbehauptung vor der überbordenden und erdrückenden Kulturindustrie probte. An dieser Stelle erinnerte er auch an den Komponisten Manos Tsangaris (*1956), der diverse Stücke für nur einen oder wenige Zuschauer schrieb, um die Intimität der Situation, den inneren Monolog und Dialog unmittelbar erlebbar zu machen (Sein Ein-Personen-Kopf-Duschen-Schreiber für einen Performer und einen Zuhörer/1995, Dauer ca. drei Minuten, war auch Bestandteil des Konzertprogramms und musste wegen der hohen Nachfrage verlost werden).

Die Schaffung neuer Räume macht auch vor der Badewanne nicht halt (Bathtub memory Projekt von 2018, Münchner Biennale). Der Komponist Elephterios Veniadis lässt hier das Musikerlebnis in einer Einpersonen-Badewannenperformance stattfinden, um Immersionserfahrungen durch das unmittelbare körperliche Erleben wirksam werden zu lassen.

Gibt es überhaupt das Private in der Musik? Was ist überhaupt das Private in der Musik? Hiekel verweist auf die autobiographischen Werke, die Privates vom Komponisten widerspiegeln – wie z. B. Hans Sachs in „Die Meistersinger“ als Charakterbild Wagners, oder Fritz in „Der Ferne Klang“, als Lebensbilanz Franz Schrekers. Von der Musikwissenschaft weitgehend geleugnet, sei man heute aber sicher, dass Identitäten und Zweifel der Komponisten in die Musik einfließen, was insbesondere auch für die Interpreten gelten müsse.

Kaj Duncan Davids Up Close and Personal (2018), ein Projekt ebenfalls auf der Biennale realisiert, beschreibt zum Beispiel das Leben des Countertenors Daniel Gloger (*1976), bei dem sich wegen seines nomadischen Lebensstils die Grenzen zwischen Öffentlichkeit (Bühnenauftritte, Proben etc.) und Privatheit (Entspannung, Ich-Sein) radikal verwischen. Bei diesem Projekt mietet Gloger ein Appartement an, das vierundzwanzig Stunden für Besucher offen ist. In einer Art Big-Brother-Manier lässt er Einblicke in sein intimes Leben zu, um dieser Grenzverschiebung Ausdruck zu verleihen.

Hierzu kann man auch Martin Schüttlers (*1974) im Jahre 2017 entstandenes Stück My mother was a piano teacher, uraufgeführt auf den Donaueschinger Musiktagen, zählen, in dem er Autobiographisches/Intimes der Gruppe IKTUS (sechs Instrumentalisten erzählen jeweils ihre Lebensgeschichte) in Musik umsetzt und über Schutzräume (die Instrumentalisten sitzen einzeln in schalldichten Containern) einem Publikum/Auditorium zu Ohren kommen lässt. Ein social- psychological-composing der bizarren Art, das aber die aktuelle Problematik von Privatheit und Öffentlichkeit und zugleich Räumlichkeit und Zwischenräumlichkeit höchst anschaulich (und möglicherweise auch auditiv) zugänglich macht.

Hiekel, der in das weitgefasste Spektrum der Thematik mit großer Sachkenntnis einführte, gab dann an den Theaterwissenschaftler Jörg Bochow (*1963) weiter.

Bochow übertitelte seinen Vortrag: „Das Private öffentlich machen – Authentizität und Fiktion im aktuellen Theater“. Dabei hob er die herrschende Tendenz hervor, das Authentische zum Maßstab des Wahren, das Autobiographische zum Wahrhaftigen aufwerten zu wollen. So habe bereits der Theaterintendant Frank Castorf (*1951) seine Schauspieler aufgefordert, autobiographische Projekte zu erstellen, in denen der Wechsel zwischen Rolle und Privatem, zwischen Fiktion und Authentizität verwischt werden sollten. Als Beispiel führte Bochow dessen Theaterstück Baumeister Solness (2014) nach Henrik Ibsen an, in dem das Bühnenbild aus Castorfs Büro besteht und ein ständiger Mix zwischen Privatem (Telefonate) und Künstlerischem (Ibsens Text) erfolgt. Ein biographisches Theater vor dem Hintergrund fiktionaler Handlung.

Rimini Protokoll, eine seit 2002 bestehende Dreiergruppe, dessen Markenzeichen es ist, sich selbst zu spielen oder andere sich selbst spielen zu lassen, versteht sich Gegenentwurf zum herkömmlichen Theatergeschäft und lässt in ihren Stücken Privates, Fiktives und Authentisches öffentlich werden, wobei die Räume überall sein können: vor dem Gericht, auf dem Wochenmarkt, im Supermarkt etc. Ähnlich agiert auch She She Pop, ein siebenköpfiges Performance-Kollektiv, das sich selbst inszeniert. In ihrem aktuellsten  Werk „Testament“ (2018) wird im Stile von Shakespeares Königs Lear die Frage nach dem Wer-erbt-was mit den realen Vätern der Gruppe auf öffentlicher Bühne ausgehandelt. Und das mit großem Erfolg, so Bochow. Das Kollektiv erhielt in diesem Jahr dafür den Berliner Theaterpreis.

Fazit: Die Selbstrepräsentation feiert auf den Theaterbühnen fröhliche Urständ, wobei die Gefahr des egoistischen biedermeierlichen Abgleitens in den Subjektivismus im vollbesetzten kleinen Saal der Darmstädter Musikakademie durchaus erkannt wurde, aber durch die Publikumserfolge, so Bochow, doch weitgehend noch konterkariert werde. Wohin treibt eine Gesellschaft, deren Theaterkultur das Authentische zum heimeligen Wohlfühlprogramm und das Fiktionale zur vermeintlichen Realität werden lässt? Ist es Spiegelbild einer post-postmodernen neoliberalen Gesellschaft?

Peter Röbke (*1954), Wiener Universitätsprofessor und Gesangspädagoge, hat als Auszubildender ständig den Spagat zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Authentizität und Fiktion zu leisten.

Aus seinem praktischen Nähkästchen parlierend lobte er die digitalen Entwicklungen (Lern-Apps, Playbacks, YouTube etc.), die ihm als Musiklehrer die unterschiedlichsten Lernwelten nahe gebracht hätten. Jedes Üben brauche ein Alter Ego, einen Verglich zwischen Ist und Soll, zwischen Vorbilder und eigener Vorstellung. Selbst das Face-to-face Lernen sei in gewisser Weise eine Öffentlichkeitsarbeit. Immer sei der Lehrer auch Partner oder Publikum, immer werde aus dem Doppel auch eine Community.

Das Lernen mit Apps und digitalen Angeboten sei nie privat, denn jeder menschliche wie auch digitale Kontakt sei in nuce Teil der Öffentlichkeit. Als Beispiel einer Mischform zwischen Privatheit und Öffentlichkeit nennt er die Trachtenkapelle St. Leonhard am Walde – ein Ort von knapp 220 Einwohnern in der Nähe von St. Pölten – in der 45 Einheimische musizieren und sich Privates und Öffentliches in den Probestunden vermischten. Allein 13 unterschiedliche Lerninseln seien ihm bei seinem Probenbesuch aufgefallen. Angefangen bei Face-to-Face bis hin zu zum musikalischen Tutti sei einfach alles nur Erdenkliche vertreten gewesen. Eine Formation, die für das Wechselspiel von Öffentlichkeit und Privatheit, aber auch von Authentizität im Sinne von Echtheit, Sicherheit, Zuverlässigkeit und Wahrheit ein wunderbares Zeugnis ablege. 

In der langen Diskussion wurde die Frage erörtert, was die Internet Lehrangebote mit uns machen. Wird der Face-to-Face Lehrer keine Zukunft haben? Bieten die elektronischen Medien, die digitalen Communities bessere bzw. neue Möglichkeiten der musikalischen Qualifizierung? Dazu Röbke: Immer schon sei die Rolle der Instrumentalpädagogen verschwommen gewesen. Stichwort: es gibt gute und schlechte Lehrer in jedem Metier. Allerdings, und das sei bis heute in allen Lernprogrammen ungelöst, nämlich die Sinnlichkeit, die Empathie, das unmittelbar menschliche Miteinander (Beispiel: Trachtenkapelle). Er betrachte die Digitalisierung als mediale und materiale Bereicherung. Sie habe viele offene Fragen der Lehrenden und Auszubildenden gelöst und bereichere das Face-to-Face-Lernen mehr, als dass es ihm schade.


Der Themenblock II gehörte drei Komponisten der jungen Generation: Stefan Prins (*1979), Martin Schüttler (*1974) und Julia Mihály (*1984).

Stefan Prins, häufiger Gast in Darmstadt (auch auf den Ferienkursen) nimmt in seine Musik, und das ist sein Markenzeichen, immer wieder die neuesten digitalen Medien und Erscheinungsformen auf. Aktuell interessieren ihn die Selfy-Kultur, das Instagram und der Hang, seinen Followern ein nahezu lückenloses Bild seines Alltags abzuliefern. Diesbezüglich nennt er „Junai Ahmed“, einen männlichen Vertreter der Jetztzeit, 23 Jahre alt, der täglich ca. 200 Selfies in den Äther schickt und mit 50.000 Followern einen ganz eigenen Weltrekord aufstellt. Prins dazu: Die Selfies seien eine kulturelle Institution geworden. Seinen Beitrag übertitelte er denn auch: Watch me watch you watch me. Audience in the age of selfies.

An den musikalischen Beispielen seiner Werke Piano Hero #1 (2011/12), Piano Hero #4 (2016/17), Generation Kill (2012), Mirror Box (2014/15) sowie Third Space (2018) erklärte er sein musikalisches Interesse an der Auflösung von Privatheit und Öffentlichkeit. In seinem Piano Hero Zyklus über die unterschiedlichsten Kameraperspektiven (bis neun an der Zahl), die er in Mirror Box auf das Publikum überträgt (es nimmt mit ihren Tablets das musikalische Geschehen auf, postet, filmt und fotografiert) und  somit Teil der Performance wird. In Third Space schließlich agieren zehn Instrumentalisten, ein Dirigent und sieben Tänzer miteinander. Das Publikum wird durch vollkommen unterschiedlichen Video-, Ton- und Tanzeinspielungen mit unterschiedlichen Perspektiven und Wahrnehmungen derart verwirrend konfrontiert, dass die Frage: Wer hat die Macht, die fiktiven Bilder und Videos oder die realen Akteure auf der Bühne, im Raume steht ohne eine Antwort zu liefern. Das Publikum ist aktiv und inaktiv zugleich, es ist handelnd und wird gehandelt.

Prins, der immer am Puls der Zeit agiert und komponiert, löst auf seine Weise die Problematik von Öffentlichkeit, Privatheit und Räumlichkeit. Bei ihm ist die Macht der Selfies ein konzeptuelles Moment seiner Komposition. Die Frage stellt sich allerdings, inwieweit die musikalische Qualität darunter leidet. Nicht von ungefähr wurde die Frage gestellt, wo bei ihm denn die Musik bleibe.

Martin Schüttler beginnt mit einer Umfrage, um recht bald festzustellen, dass das Publikum im Saal soziokulturell aus einer Schicht, aus einem identischen Milieu stammt und damit auch das Hören von und die Auseinandersetzung mit Musik aus ihrem Erfahrungs- und Bildungshorizont geschieht, ja geschehen muss. Heute sei von der klassischen Oper bis zum Hip-Hop musikalisch alles vertreten und alles mit gleicher Berechtigung, ohne Trennung von E- und U-Musik, ohne Trennung von Qualität und Quantität.

Sein ureigenstes ästhetisches und künstlerisches Anliegen sei es von daher, eine „Metaposition“ einzunehmen, was für ihn bedeute, diese Heterogenität in seine Kompositionen zu integrieren. Er nennt seinen Vortrag Soziale Echos und unterteilt ihn in Orte, Medienspezifika und Intermedialität, Biographie und Gemeinschaft.

Er spielt mit den Örtlichkeiten, zeigt Fotos und kurze Videos aus seinem Zyklus Schöner Leben (2008/09), wo in Hinterhöfen und verlassenen Räumen Neonröhren, Fernseher, Sessel oder Lampen Teile der Musik sind. Das gilt auch für Six Rooms (2018), eine Installation von sechs Räumen in einem Raum der alten Polizeiwache in Stuttgart. Eine heterogene Örtlichkeit mit entsprechender Musik, die allerdings durch den Straßenverkehr, Ventilatorengeräusche und Lichtreflexe irgendwie doch zusammengehalten wird. 
Schüttlers Wunsch ist es, eine Musik zu kreieren, die die Vielfalt und Zerspittertheit der Klänge in sich aufnimmt und Weltraum wie Zwischenräume füllt.

Medientheoretisch und ästhetisch hält er sich an Juliane Rebentischs Buch Theorien der Gegenwartskunst (2013), in dem sie die Grenzen zwischen den Künsten als überwunden und die Abgrenzung von Kunst und Nichtkunst für obsolet erklärt. Für Schüttler zählen Räume wie Galerien, Ateliers, Museen oder ähnliches ebenso zur Kunst wie das „Vögeln auf dem Bett“ (wozu er ein Video vorführte). Kunst sei alles andere als geschlossen, fasse auch nicht mehr die Gesamtheit sondern repräsentiere lediglich die Zersplitterung und Ausdifferenzierung bzw. Partikularisierung der „Weltgesellschaft“.

Wozu natürlich auch das Biographische zähle, sein dritter Vortragspunkt. Dazu stellt er My mother was a piano Teacher (2017) vor, das er in Donaueschingen aufführen ließ. Die Hybridisierung der Musiker als Selbstrepräsentation und Instrumentalisten löse Innen wie Außen auf, mache Privates öffentlich, und ließ die Öffentlichkeit erkennen, dass Privates reine Fiktion sei.
Noch weiter geht er in seinem aktuellen Workshop der Liebe (2019), wo in einem Stuhlkreis von 30 Personen alles protokolliert und in Echtzeit von den Vokalsolisten Stuttgart gesungen, textlich zwar zerrissen und zusammenhanglos, der Öffentlichkeit „preisgegeben“ wird.

Schüttler geht sehr kritisch mit sich und dem „Material“ um. Sein Metaposition macht es ihm dabei nicht gerade einfach, wie sein Verständnis von Musik, das ihr eigenes Material zum kritischen Gegenstand hat, es auch seinen Hörern nicht gerade leicht macht. In einer späteren Diskussion räumt er denn auch ein, dass er von den Reaktionen auf seine Musik „oft erschüttert“ sei. Auch beklagt er das „allgemein geringe ästhetische Verständnis“ und die „Unfähigkeit, Signale zu verstehen“. Muss man ihm da nicht die Frage zurückgeben, ob sein Apodiktum einer allumfassenden, grenzenlosen, offenen Musik/Kunst nicht auch seine Grenzen hat?

Im Kontrast zu Schüttler stand Julia Mihály (*1984), eine Composer Performerin, die ihren Vortrag mit Inszenierte Authentizität übertitelte und gleich per Video „Keep care“ ihren Körper als Projektionsfläche offenbarte. Sie ist darin mit einem weißen schulterfreien Tuch bekleidet, voller aufgeklebter Augen. Ihre Augen dagegen schwarz gefärbt, gleichsam augenlos. Ein metaphorisches Spiel von Sehen und Nichtsehen. Sie frisst in immer hektischeren Bewegungen die Augen von ihrem Umhang, so als ob sie ihre Blindheit vor den Realitäten überwinden möchte. Ein Spiel mit der Authentizität? Ein privates Anliegen, das sie öffentlich macht?

Darüber hinaus zeigt sie ähnliche Videos wie Grand Hotel Establishment (2018), worin sie –  über die bekannte Tomaten-Rede Helke Sanders im Jahre 1968 – den Emanzipationskampf der Frauen kollagiert, mit ihrer eigenen Position konfrontiert und sich selbst so in das Video integriert, dass sie oft nicht von den historischen Personen zu unterscheiden ist.

Mit 18 West-Songs – Songs für den Untergang (2019), ein Kollage über die Startbahn-West Auseinandersetzung zwischen den 1970er und 1980er Jahren (woraus sie Teile für den Konzertabend vorbereitete), stellt sie sich in einer Performance, oder besser in einer inszenierten Authentizität, auch hier in den Mittelpunkt des historisch-kollagierten Geschehens. Eingespielte Gesänge, wie „Wenn die Bäume fallen, stehen die Menschen auf“, Parolen, Geschrei und Kampfgetümmel werden von ihr begleitet mit Textpassagen aus dieser Zeit und nachgespielten Szenen zwischen der Polizei und ihr (sie bearbeitet Helm und Schild des Polizisten). Theatralisch eine kreischende E-Gitarre hinter sich her schleppend und Parolen aus dieser Zeit zitierend, zeigt sie performativ ihre unbedingte Solidarität mit dem Widerstand und ihre Empathie zu den Demonstranten. Das Bühnenbild besteht aus einem Sammelsurium von Materialien, die das Geschehen dieser Zeit sinnlich erfahrbar machen sollen: Stilisierte Bäume, Hütten, Stühle und ein wanderndes Video der Trennmauer zwischen Wald und Startbahn, die Ausgangspunkt und Ende der über zwanzig Jahre dauernden Auseinandersetzung war.  

Mihály inszeniert sich selbst, wobei ihre Absicht, authentisch sein zu wollen, nicht immer klar zu erkennen ist. Historisch-politische Ereignisse zu ihren eigenen zu machen wirkt nach außen hin eher wie die Suche nach Identität, auf den Betrachter oder Zuhörer aber nicht unbedingt überzeugend und nachvollziehbar. Bei ihren Performances scheint Privatheit zur Identitätssuche und Öffentlichkeit zum Mittel inszenierter Authentizität zu werden. Beides zusammen aber ist schwer vermittelbar und steht in der Gefahr, platt zu wirken, was sich am Konzertabend auch bestätigte. 

Wenn ihre Performance zur Geschichtsstunde (leider sehr eklektisch) und die eingeblendete Rockmusik zur Tanzsession werden, dann kann das nicht in der Absicht dieser Komposition liegen. Oder vielleicht doch?


Ensemble hand werk (Foto: Ensemble hand werk)

Erstes Abendkonzert vor und in der Akademie für Tonkunst


Der Konzertabend wurde, abgesehen von der genannten Performance Julia Mihálys, von dem 2011 gegründeten Kammermusikensemble hand werk bestritten, das Recycling und Nachhaltigkeit auf die Musikwelt zu übertragen zu ihrem Schwerpunkt gewählt hat. So benutzen sie Alltagsgegenstände (Tische, Silberpapier, Bälle etc.), aber auch elektronische Medien wie herkömmliche Instrumente und widmen sich hauptsächlich dem kammermusikalischen Repertoire.

Mit De Beweging (2017) für sechs Performer von Cathy van Eck (*1979) trugen sie auf der Wiese rund um die Endhaltestelle der Straßenbahn Schilder aus Alufolie, die, über kleine Kantaktsprecher angeregt, Klänge auf die Flächen übertrugen. Schab und Knackgeräusche, Rascheln und Knistern verbunden mit Straßen- Fluglärm und Vogelsang, boten eine anregende Mischung und zugleich Entspannung vom konzentrierten Diskurs.

Dann wanderte man ins Foyer des Hauses, wo die Soloviolinistin Anna Neubert mit Jetzt (2016) von Zeynep Gedizlioğlu (*1977) das einströmende Publikum empfing. Eine kurzweilige Etüde zum Nachdenken, Verbinden, Loslassen, Anhalten und Weitergehen, wie es die Komponistin selbst kommentiert.

Im Rauschen (2012) von Simon Steen Andersen (*1976), für Piccolo, Querflöte und Bassklarinette, ein dreiteiliges Stück nach Gedichten von Josef von Eichendorff, Friedrich Rückert und den Davidsbündler, alle in der Vertonung Robert Schumanns, reduzierte, ja dekonstruierte der Komponist diese großen Gesangs- und Klavierwerke auf ein zehnminütiges Hauchen, Rauschen und Knacken. Man konnte zwischen Dadaismus und musikalischer Auslöschung wählen. Eine kritische Replik auf die Romantik, ohne ihr wirklich auf die Pelle zu rücken.

18West – Songs für den Untergang (2019), woraus die Komponistin selbst Auszüge performte, sollte Agitation und Protest des Kampfes gegen die Startbahn West in Frankfurt reflektieren. Ob aber Revolution, wie Mihály erläuterte, über ästhetische Wege und konzeptuelle Kunst geübt werden kann, muss doch sehr infrage gestellt werden. Ästhetisierte Politik ist leider vor Missbrauch kaum geschützt, was die Geschichte sattsam belegt. Dennoch ein engagierter, über 20 Minuten andauernder Sänger- und Instrumentalstreit auf den Stockwerken der Akademie.

Wesentlich überzeugender dagegen Andersens Study for String Instruments # 3 (2011), das Niklas Seidl am Violoncello mit Video beeindruckend demonstrierte. Musikalisch wenig ereignisreich verwandelte sich der Solist zusehends in mehrere Personen, die miteinander und gegeneinander agierten. Eine Fata Morgana für die Augen und ein schizophrener Akt für die Sinne. Irritierend und spannend.

Den Abschluss bildete Manos Tsangaris´ (*1956) Tafel 1 – Wiesers Werdetraum (1989), ein Stück für zwei Spieler an einem Tisch, den sie gleichzeitig als Instrument und als Bühne benutzen. Mit vielen Lichteffekten über eine Fadenorgel, die Lichttänze fabrizierte, performten die beiden Musiker ein kurzweiliges Minimusiktheater mit musique concrète Einlagen der humorvollen und ironischen Art. Hier konnte hand werk Recycling und Nachhaltigkeit bestens verwirklichen und das ästhetische Empfinden des Auditoriums durch Unvorhersehbares, spontan Kreatives und Unerhörtes schärfen.

Ein langer Tag ließ bis dahin keine Erschöpfung erkennen und sollte mit alter Frische am kommenden Tag fortgesetzt werden.

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