73. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung
(INMM) in Darmstadt, Akademie für Tonkunst, 24.-27.04.2018
ÖFFENTLICHprivat – (Zwischen)räume in der Gegenwartsmusik
Vorträge und Konzert am 25.04.2018
In diesem Jahr greift das Institut eine Thematik auf, die seit Menschengedenken die Kunstschaffenden und Kunstrezipienten beschäftigt: In welchen Räumen findet Kunst überhaupt statt? Wo ist das Private, wo das Öffentliche? Gibt es ein Wechselspiel zwischen beiden? Auf die Produktion von Musik bezogen stellt sich die Frage in einer globalisierten, grenzenlosen Kunstwelt: Gibt es heute überhaupt noch die klare Trennung zwischen Komponist, Interpret und Publikum/Auditorium? Können Räume (Konzerthallen, Opernhäuser, Musiktheater etc.) heute noch Orte der Musikrezeption sein, oder setzen sich mehr und mehr die Zwischenräume (Plätze, Industriehallen, Parkhäuser etc.) durch?
Jörn Peter Hiekel, der Vorsitzende des INMM, leitete sein
Eingangsreferat mit Zitaten zweier über die Grenzen Europas bekannten
Komponisten ein. Helmut Lachenmann (*1935)
meinte bereits 1979 in seinem Aufsatz Struktur und Musikantik: „Kunst erinnert den Menschen an seine
Möglichkeit und Bestimmung, im Spannungsfeld von Innerlichkeit und
Öffentlichkeit sich zu erkennen, sich auszudrücken – und verantwortlich zu
leben und zu handeln.“ Und Enno Poppe
(*1969) ergänzte in einem Vorwort zu einer Konzertreihe
des Ensemble Mosaik 2017/18: „Die Idee der autonomen Musik ist ein
Widerstand gegen die Vorstellung, dass alle Musik immer verfügbar sein sollte,
und nichts kosten darf, ein Tagesbegleitmedium ist. Musik hat eigene Gesetze
und Inhalte.“
Beide erkennen unabhängig voneinander, dass Kunst und Musik
immer ein Wechselspiel von Öffentlichkeit und Privatheit darstellt und die
Räume ihres Konsums auch Supermärkte, Bahnhöfe, Restaurants sein können.
Wenngleich dabei die Autonomie (Selbstbestimmtheit) der Kunst immer auch die
Verantwortlichkeit gegenüber dem Leben bedeutet, die Souveränität des Einzelnen
(Innerlichkeit) in der Gemeinschaft (Öffentlichkeit) und die aufgeklärte
Öffentlichkeit gegenüber dem kunstschaffenden Subjekt nur in einem gegenseitig
respektierenden Austausch funktionieren kann.
Hiekel spricht anknüpfend daran von Konzert-, Schutz- und
Immersionsräumen. Nennt Arnold Schönbergs 1918 gegründeten Verein für musikalische Privataufführungen, als Schutzraum gegen
gewalttätige Übergriffe und Luigi Nonos
„radikale Innerlichkeit“ in Il canto
sospeso (1956), wo er mit einer nicht öffentlichkeitswirksamen
Textreflexion und Musiksprache (seriell) eine quasi „musica privata“ erzeugte. Darüber
hinaus verweist er auf den anwesenden israelischen Komponisten, Yuval Shaked (*1955), der seine Musik
als „Selbstverteidigungsmaßnahme“ begreift und, in der Hoffnung auf
Öffentlichkeit, die ihm oftmals in seiner Heimat verwehrt wird, in der privaten
Aufführungspraxis seinen Schutzraum sieht.
Oder auch Ruedi
Häusermanns Tonhallenprojekt während der Münchner Biennale 2018: Ein
winziges Häuschen vor dem Nationaltheater, worin ein Streichquartett mit
geringstem Platz vor drei oder vier Zuschauern die Selbstbehauptung vor der
überbordenden und erdrückenden Kulturindustrie probte. An dieser Stelle
erinnerte er auch an den Komponisten Manos
Tsangaris (*1956), der diverse Stücke für nur einen oder wenige Zuschauer
schrieb, um die Intimität der Situation, den inneren Monolog und Dialog
unmittelbar erlebbar zu machen (Sein Ein-Personen-Kopf-Duschen-Schreiber
für einen Performer und einen Zuhörer/1995, Dauer ca. drei Minuten, war
auch Bestandteil des Konzertprogramms und musste wegen der hohen Nachfrage
verlost werden).
Die Schaffung neuer Räume macht auch vor der Badewanne nicht
halt (Bathtub memory Projekt von
2018, Münchner Biennale). Der Komponist Elephterios
Veniadis lässt hier das Musikerlebnis in einer Einpersonen-Badewannenperformance
stattfinden, um Immersionserfahrungen durch das unmittelbare körperliche
Erleben wirksam werden zu lassen.
Gibt es überhaupt das Private in der Musik? Was ist
überhaupt das Private in der Musik? Hiekel verweist auf die autobiographischen
Werke, die Privates vom Komponisten widerspiegeln – wie z. B. Hans Sachs in
„Die Meistersinger“ als Charakterbild Wagners, oder Fritz in „Der Ferne Klang“,
als Lebensbilanz Franz Schrekers. Von der Musikwissenschaft weitgehend
geleugnet, sei man heute aber sicher, dass Identitäten und Zweifel der Komponisten
in die Musik einfließen, was insbesondere auch für die Interpreten gelten müsse.
Kaj Duncan Davids
Up Close and Personal (2018), ein
Projekt ebenfalls auf der Biennale realisiert, beschreibt zum Beispiel das
Leben des Countertenors Daniel Gloger (*1976), bei dem sich wegen seines
nomadischen Lebensstils die Grenzen zwischen Öffentlichkeit (Bühnenauftritte,
Proben etc.) und Privatheit (Entspannung, Ich-Sein) radikal verwischen. Bei
diesem Projekt mietet Gloger ein Appartement an, das vierundzwanzig Stunden für
Besucher offen ist. In einer Art Big-Brother-Manier
lässt er Einblicke in sein intimes Leben zu, um dieser Grenzverschiebung
Ausdruck zu verleihen.
Hierzu kann man auch Martin
Schüttlers (*1974) im Jahre 2017 entstandenes Stück My mother was a piano teacher, uraufgeführt auf den Donaueschinger
Musiktagen, zählen, in dem er Autobiographisches/Intimes der Gruppe IKTUS (sechs Instrumentalisten erzählen
jeweils ihre Lebensgeschichte) in Musik umsetzt und über Schutzräume (die
Instrumentalisten sitzen einzeln in schalldichten Containern) einem
Publikum/Auditorium zu Ohren kommen lässt. Ein social- psychological-composing der bizarren Art, das aber die
aktuelle Problematik von Privatheit und Öffentlichkeit und zugleich
Räumlichkeit und Zwischenräumlichkeit höchst anschaulich (und möglicherweise
auch auditiv) zugänglich macht.
Hiekel, der in das weitgefasste Spektrum der Thematik mit
großer Sachkenntnis einführte, gab dann an den Theaterwissenschaftler Jörg Bochow (*1963) weiter.
Bochow übertitelte seinen Vortrag: „Das Private öffentlich
machen – Authentizität und Fiktion im aktuellen Theater“. Dabei hob er die herrschende
Tendenz hervor, das Authentische zum Maßstab des Wahren, das Autobiographische
zum Wahrhaftigen aufwerten zu wollen. So habe bereits der Theaterintendant
Frank Castorf (*1951) seine Schauspieler aufgefordert, autobiographische Projekte
zu erstellen, in denen der Wechsel zwischen Rolle und Privatem, zwischen
Fiktion und Authentizität verwischt werden sollten. Als Beispiel führte Bochow dessen
Theaterstück Baumeister Solness
(2014) nach Henrik Ibsen an, in dem das Bühnenbild aus Castorfs Büro besteht
und ein ständiger Mix zwischen Privatem (Telefonate) und Künstlerischem (Ibsens
Text) erfolgt. Ein biographisches Theater vor dem Hintergrund fiktionaler
Handlung.
Rimini Protokoll,
eine seit 2002 bestehende Dreiergruppe, dessen Markenzeichen es ist, sich selbst
zu spielen oder andere sich selbst spielen zu lassen, versteht sich
Gegenentwurf zum herkömmlichen Theatergeschäft und lässt in ihren Stücken
Privates, Fiktives und Authentisches öffentlich werden, wobei die Räume überall
sein können: vor dem Gericht, auf dem Wochenmarkt, im Supermarkt etc. Ähnlich agiert
auch She She Pop, ein siebenköpfiges Performance-Kollektiv,
das sich selbst inszeniert. In ihrem aktuellsten Werk „Testament“ (2018) wird im Stile von
Shakespeares Königs Lear die Frage
nach dem Wer-erbt-was mit den realen
Vätern der Gruppe auf öffentlicher Bühne ausgehandelt. Und das mit großem
Erfolg, so Bochow. Das Kollektiv erhielt in diesem Jahr dafür den Berliner
Theaterpreis.
Fazit: Die Selbstrepräsentation feiert auf den Theaterbühnen
fröhliche Urständ, wobei die Gefahr des egoistischen biedermeierlichen
Abgleitens in den Subjektivismus im vollbesetzten kleinen Saal der Darmstädter
Musikakademie durchaus erkannt wurde, aber durch die Publikumserfolge, so
Bochow, doch weitgehend noch konterkariert werde. Wohin treibt eine
Gesellschaft, deren Theaterkultur das Authentische zum heimeligen
Wohlfühlprogramm und das Fiktionale zur vermeintlichen Realität werden lässt?
Ist es Spiegelbild einer post-postmodernen neoliberalen Gesellschaft?
Peter Röbke
(*1954), Wiener Universitätsprofessor und Gesangspädagoge, hat als
Auszubildender ständig den Spagat zwischen Öffentlichkeit und Privatheit,
zwischen Authentizität und Fiktion zu leisten.
Aus seinem praktischen Nähkästchen parlierend lobte er die
digitalen Entwicklungen (Lern-Apps, Playbacks, YouTube etc.), die ihm als
Musiklehrer die unterschiedlichsten Lernwelten nahe gebracht hätten. Jedes Üben
brauche ein Alter Ego, einen Verglich zwischen Ist und Soll, zwischen Vorbilder
und eigener Vorstellung. Selbst das Face-to-face
Lernen sei in gewisser Weise eine Öffentlichkeitsarbeit. Immer sei der Lehrer
auch Partner oder Publikum, immer werde aus dem Doppel auch eine Community.
Das Lernen mit Apps und digitalen Angeboten sei nie privat,
denn jeder menschliche wie auch digitale Kontakt sei in nuce Teil der
Öffentlichkeit. Als Beispiel einer Mischform zwischen Privatheit und
Öffentlichkeit nennt er die Trachtenkapelle St. Leonhard am Walde – ein Ort von knapp 220 Einwohnern in der Nähe von
St. Pölten – in der 45 Einheimische musizieren und sich Privates und
Öffentliches in den Probestunden vermischten. Allein 13 unterschiedliche
Lerninseln seien ihm bei seinem Probenbesuch aufgefallen. Angefangen bei Face-to-Face bis hin zu zum
musikalischen Tutti sei einfach alles nur Erdenkliche vertreten gewesen. Eine
Formation, die für das Wechselspiel von Öffentlichkeit und Privatheit, aber
auch von Authentizität im Sinne von Echtheit, Sicherheit, Zuverlässigkeit und
Wahrheit ein wunderbares Zeugnis ablege.
In der langen Diskussion wurde die Frage erörtert, was die
Internet Lehrangebote mit uns machen. Wird der Face-to-Face Lehrer keine Zukunft haben? Bieten die elektronischen
Medien, die digitalen Communities bessere bzw. neue Möglichkeiten der
musikalischen Qualifizierung? Dazu Röbke: Immer schon sei die Rolle der
Instrumentalpädagogen verschwommen gewesen. Stichwort: es gibt gute und
schlechte Lehrer in jedem Metier. Allerdings, und das sei bis heute in allen Lernprogrammen ungelöst, nämlich die Sinnlichkeit, die Empathie, das
unmittelbar menschliche Miteinander (Beispiel: Trachtenkapelle). Er betrachte die Digitalisierung als mediale und
materiale Bereicherung. Sie habe viele offene Fragen der Lehrenden und
Auszubildenden gelöst und bereichere das Face-to-Face-Lernen
mehr, als dass es ihm schade.
Der Themenblock II
gehörte drei Komponisten der jungen Generation: Stefan Prins (*1979), Martin
Schüttler (*1974) und Julia Mihály
(*1984).
Stefan Prins,
häufiger Gast in Darmstadt (auch auf den Ferienkursen) nimmt in seine Musik,
und das ist sein Markenzeichen, immer wieder die neuesten digitalen Medien und
Erscheinungsformen auf. Aktuell interessieren ihn die Selfy-Kultur, das
Instagram und der Hang, seinen Followern ein nahezu lückenloses Bild seines Alltags
abzuliefern. Diesbezüglich nennt er „Junai Ahmed“, einen männlichen Vertreter der
Jetztzeit, 23 Jahre alt, der täglich ca. 200 Selfies in den Äther schickt und
mit 50.000 Followern einen ganz eigenen Weltrekord aufstellt. Prins dazu: Die
Selfies seien eine kulturelle Institution geworden. Seinen Beitrag übertitelte
er denn auch: Watch me watch you watch
me. Audience in the age of selfies.
An den musikalischen Beispielen seiner Werke Piano Hero #1 (2011/12), Piano Hero #4 (2016/17), Generation Kill (2012), Mirror Box (2014/15) sowie Third Space (2018) erklärte er sein
musikalisches Interesse an der Auflösung von Privatheit und Öffentlichkeit. In
seinem Piano Hero Zyklus über die
unterschiedlichsten Kameraperspektiven (bis neun an der Zahl), die er in Mirror Box auf das Publikum überträgt (es
nimmt mit ihren Tablets das musikalische Geschehen auf, postet, filmt und
fotografiert) und somit Teil der Performance wird. In Third Space schließlich agieren zehn Instrumentalisten, ein
Dirigent und sieben Tänzer miteinander. Das Publikum wird durch vollkommen
unterschiedlichen Video-, Ton- und Tanzeinspielungen mit unterschiedlichen
Perspektiven und Wahrnehmungen derart verwirrend konfrontiert, dass die Frage:
Wer hat die Macht, die fiktiven Bilder und Videos oder die realen Akteure auf
der Bühne, im Raume steht ohne eine Antwort zu liefern. Das Publikum ist aktiv
und inaktiv zugleich, es ist handelnd und wird gehandelt.
Prins, der immer am Puls der Zeit agiert und komponiert,
löst auf seine Weise die Problematik von Öffentlichkeit, Privatheit und
Räumlichkeit. Bei ihm ist die Macht der Selfies ein konzeptuelles Moment seiner
Komposition. Die Frage stellt sich allerdings, inwieweit die musikalische
Qualität darunter leidet. Nicht von ungefähr wurde die Frage gestellt, wo bei
ihm denn die Musik bleibe.
Martin Schüttler beginnt mit einer Umfrage, um recht bald festzustellen,
dass das Publikum im Saal soziokulturell aus einer Schicht, aus einem
identischen Milieu stammt und damit auch das Hören von und die
Auseinandersetzung mit Musik aus ihrem Erfahrungs- und Bildungshorizont
geschieht, ja geschehen muss. Heute sei von der klassischen Oper bis zum
Hip-Hop musikalisch alles vertreten und alles mit gleicher Berechtigung, ohne
Trennung von E- und U-Musik, ohne Trennung von Qualität und Quantität.
Sein ureigenstes ästhetisches und künstlerisches Anliegen
sei es von daher, eine „Metaposition“ einzunehmen, was für ihn bedeute, diese
Heterogenität in seine Kompositionen zu integrieren. Er nennt seinen Vortrag Soziale Echos und unterteilt ihn in Orte, Medienspezifika und Intermedialität,
Biographie und Gemeinschaft.
Er spielt mit den Örtlichkeiten, zeigt Fotos und kurze
Videos aus seinem Zyklus Schöner Leben (2008/09),
wo in Hinterhöfen und verlassenen Räumen Neonröhren, Fernseher, Sessel oder
Lampen Teile der Musik sind. Das gilt auch für Six Rooms (2018), eine Installation von sechs Räumen in einem Raum der alten Polizeiwache in Stuttgart. Eine heterogene Örtlichkeit mit
entsprechender Musik, die allerdings durch den Straßenverkehr,
Ventilatorengeräusche und Lichtreflexe irgendwie doch zusammengehalten
wird.
Schüttlers Wunsch ist es, eine
Musik zu kreieren, die die Vielfalt und Zerspittertheit der Klänge in sich
aufnimmt und Weltraum wie Zwischenräume füllt.
Medientheoretisch und ästhetisch hält er sich an Juliane
Rebentischs Buch Theorien der Gegenwartskunst
(2013), in dem sie die Grenzen zwischen den Künsten als überwunden und die
Abgrenzung von Kunst und Nichtkunst für obsolet erklärt. Für Schüttler zählen
Räume wie Galerien, Ateliers, Museen oder ähnliches ebenso zur Kunst wie das
„Vögeln auf dem Bett“ (wozu er ein Video vorführte). Kunst sei alles andere als
geschlossen, fasse auch nicht mehr die Gesamtheit sondern repräsentiere
lediglich die Zersplitterung und Ausdifferenzierung bzw. Partikularisierung der
„Weltgesellschaft“.
Wozu natürlich auch das Biographische zähle, sein dritter Vortragspunkt.
Dazu stellt er My mother was a piano
Teacher (2017) vor, das er in Donaueschingen aufführen ließ. Die
Hybridisierung der Musiker als Selbstrepräsentation und Instrumentalisten löse
Innen wie Außen auf, mache Privates öffentlich, und ließ die Öffentlichkeit
erkennen, dass Privates reine Fiktion sei.
Noch weiter geht er in seinem aktuellen Workshop der Liebe (2019), wo in einem Stuhlkreis von 30 Personen
alles protokolliert und in Echtzeit von den Vokalsolisten Stuttgart gesungen,
textlich zwar zerrissen und zusammenhanglos, der Öffentlichkeit „preisgegeben“
wird.
Schüttler geht sehr kritisch mit sich und dem „Material“ um.
Sein Metaposition macht es ihm dabei nicht gerade einfach, wie sein Verständnis
von Musik, das ihr eigenes Material zum kritischen Gegenstand hat, es auch
seinen Hörern nicht gerade leicht macht. In einer späteren Diskussion räumt er
denn auch ein, dass er von den Reaktionen auf seine Musik „oft erschüttert“
sei. Auch beklagt er das „allgemein geringe ästhetische Verständnis“ und die
„Unfähigkeit, Signale zu verstehen“. Muss man ihm da nicht die Frage
zurückgeben, ob sein Apodiktum einer allumfassenden, grenzenlosen, offenen
Musik/Kunst nicht auch seine Grenzen hat?
Im Kontrast zu Schüttler stand Julia Mihály (*1984), eine Composer Performerin, die ihren
Vortrag mit Inszenierte Authentizität
übertitelte und gleich per Video „Keep care“ ihren Körper als Projektionsfläche
offenbarte. Sie ist darin mit einem weißen schulterfreien Tuch bekleidet,
voller aufgeklebter Augen. Ihre Augen dagegen schwarz gefärbt, gleichsam
augenlos. Ein metaphorisches Spiel von Sehen und Nichtsehen. Sie frisst in
immer hektischeren Bewegungen die Augen von ihrem Umhang, so als ob sie ihre
Blindheit vor den Realitäten überwinden möchte. Ein Spiel mit der Authentizität?
Ein privates Anliegen, das sie öffentlich macht?
Darüber hinaus zeigt sie ähnliche Videos wie Grand Hotel Establishment (2018), worin
sie – über die bekannte Tomaten-Rede
Helke Sanders im Jahre 1968 – den Emanzipationskampf der Frauen kollagiert, mit
ihrer eigenen Position konfrontiert und sich selbst so in das Video
integriert, dass sie oft nicht von den historischen Personen zu unterscheiden
ist.
Mit 18 West-Songs –
Songs für den Untergang (2019), ein Kollage über die Startbahn-West
Auseinandersetzung zwischen den 1970er und 1980er Jahren (woraus sie Teile für
den Konzertabend vorbereitete), stellt sie sich in einer Performance, oder
besser in einer inszenierten Authentizität, auch hier in den Mittelpunkt des historisch-kollagierten Geschehens. Eingespielte Gesänge, wie „Wenn die Bäume fallen,
stehen die Menschen auf“, Parolen, Geschrei und Kampfgetümmel werden von ihr
begleitet mit Textpassagen aus dieser Zeit und nachgespielten Szenen zwischen
der Polizei und ihr (sie bearbeitet Helm und Schild des Polizisten). Theatralisch
eine kreischende E-Gitarre hinter sich her schleppend und Parolen aus dieser
Zeit zitierend, zeigt sie performativ ihre unbedingte Solidarität mit dem
Widerstand und ihre Empathie zu den Demonstranten. Das Bühnenbild besteht aus
einem Sammelsurium von Materialien, die das Geschehen dieser Zeit sinnlich
erfahrbar machen sollen: Stilisierte Bäume, Hütten, Stühle und ein wanderndes Video
der Trennmauer zwischen Wald und Startbahn, die Ausgangspunkt und Ende der über
zwanzig Jahre dauernden Auseinandersetzung war.
Mihály inszeniert sich selbst, wobei ihre Absicht,
authentisch sein zu wollen, nicht immer klar zu erkennen ist. Historisch-politische Ereignisse zu ihren eigenen zu machen wirkt nach außen hin eher wie die
Suche nach Identität, auf den Betrachter oder Zuhörer aber nicht unbedingt überzeugend und nachvollziehbar. Bei ihren Performances scheint Privatheit zur
Identitätssuche und Öffentlichkeit zum Mittel inszenierter Authentizität zu
werden. Beides zusammen aber ist schwer vermittelbar und steht in der Gefahr,
platt zu wirken, was sich am Konzertabend auch bestätigte.
Wenn ihre Performance
zur Geschichtsstunde (leider sehr eklektisch) und die eingeblendete Rockmusik
zur Tanzsession werden, dann kann das nicht in der Absicht dieser Komposition
liegen. Oder vielleicht doch?
Ensemble hand werk (Foto: Ensemble hand werk) |
Erstes Abendkonzert vor und in der Akademie für Tonkunst
Der Konzertabend wurde, abgesehen von der genannten
Performance Julia Mihálys, von dem 2011 gegründeten Kammermusikensemble hand
werk bestritten, das
Recycling und Nachhaltigkeit auf die Musikwelt zu übertragen zu ihrem
Schwerpunkt gewählt hat. So benutzen sie Alltagsgegenstände (Tische,
Silberpapier, Bälle etc.), aber auch elektronische Medien wie herkömmliche
Instrumente und widmen sich hauptsächlich dem kammermusikalischen Repertoire.
Mit De Beweging
(2017) für sechs Performer von Cathy van Eck (*1979) trugen sie auf der Wiese
rund um die Endhaltestelle der Straßenbahn Schilder aus Alufolie, die, über
kleine Kantaktsprecher angeregt, Klänge auf die Flächen übertrugen. Schab und
Knackgeräusche, Rascheln und Knistern verbunden mit Straßen- Fluglärm und Vogelsang,
boten eine anregende Mischung und zugleich Entspannung vom konzentrierten
Diskurs.
Dann wanderte man ins Foyer des Hauses, wo die
Soloviolinistin Anna Neubert mit Jetzt
(2016) von Zeynep Gedizlioğlu (*1977) das einströmende Publikum empfing. Eine
kurzweilige Etüde zum Nachdenken, Verbinden, Loslassen, Anhalten und
Weitergehen, wie es die Komponistin selbst kommentiert.
Im Rauschen (2012) von Simon Steen Andersen (*1976), für Piccolo,
Querflöte und Bassklarinette, ein dreiteiliges Stück nach Gedichten von Josef von
Eichendorff, Friedrich Rückert und den Davidsbündler, alle in der Vertonung
Robert Schumanns, reduzierte, ja dekonstruierte der Komponist diese großen
Gesangs- und Klavierwerke auf ein zehnminütiges Hauchen, Rauschen und Knacken. Man konnte zwischen Dadaismus und musikalischer Auslöschung wählen. Eine
kritische Replik auf die Romantik, ohne ihr wirklich auf die Pelle zu rücken.
18West – Songs für
den Untergang (2019), woraus die Komponistin selbst Auszüge performte,
sollte Agitation und Protest des Kampfes gegen die Startbahn West in Frankfurt
reflektieren. Ob aber Revolution, wie Mihály erläuterte, über ästhetische Wege
und konzeptuelle Kunst geübt werden kann, muss doch sehr infrage gestellt
werden. Ästhetisierte Politik ist leider vor Missbrauch kaum geschützt, was die
Geschichte sattsam belegt. Dennoch ein engagierter, über 20 Minuten andauernder
Sänger- und Instrumentalstreit auf den Stockwerken der Akademie.
Wesentlich überzeugender dagegen Andersens Study for String Instruments # 3 (2011),
das Niklas Seidl am Violoncello mit Video beeindruckend demonstrierte.
Musikalisch wenig ereignisreich verwandelte sich der Solist zusehends in
mehrere Personen, die miteinander und gegeneinander agierten. Eine Fata Morgana
für die Augen und ein schizophrener Akt für die Sinne. Irritierend und spannend.
Den Abschluss bildete Manos Tsangaris´ (*1956) Tafel 1 – Wiesers Werdetraum (1989),
ein Stück für zwei Spieler an einem Tisch, den sie gleichzeitig als Instrument
und als Bühne benutzen. Mit vielen Lichteffekten über eine Fadenorgel, die
Lichttänze fabrizierte, performten die beiden Musiker ein kurzweiliges
Minimusiktheater mit musique concrète Einlagen der humorvollen und ironischen
Art. Hier konnte hand werk Recycling
und Nachhaltigkeit bestens verwirklichen und das ästhetische Empfinden des
Auditoriums durch Unvorhersehbares, spontan Kreatives und Unerhörtes schärfen.
Ein langer Tag ließ bis dahin keine Erschöpfung erkennen und
sollte mit alter Frische am kommenden Tag fortgesetzt werden.
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