Montag, 29. April 2019


73. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) in Darmstadt, Akademie für Tonkunst, 24.-27.04.2018

ÖFFENTLICHprivat – (Zwischen)räume in der Gegenwartsmusik



Vorträge und Konzert am 26.04.2018


Themenblock III – Im geschützten Raum

Der Vortrag Susma – Schweige nicht! von der türkischen Komponistin Zeynep Gedizlioğlu (*1977) musste leider wegen Krankheit ausfallen. Ebenso ist Trond Reinholdtsens (*1972) Referat: Die Gesellschaft ist schuld – Radikale Isolation und kompositorische Weltabwendung zwischen Universalität durch affirmative Negation und depressive Apathie – allein der Titel lässt tief blicken – nicht zu kommentieren, da er vorgezogen wurde. Ein Zeitproblem also.
Trotzdem einige Anmerkungen zu Reinholdtsen: Er wohnt seit drei Jahren im schwedischen Wald in seinem eigenen Opernhaus (The Norwegian Opra), schreibt Stücke, ohne wirklich zu schreiben. Er ist durch und durch Dadaist und radikaler Kritiker der Kunstszene in Norwegen. Er will „die revolutionäre Umgestaltung der Welt“, hält die „Norweger für naiv und kulturlos“. Strebt die „maximale künstlerische und politische Freiheit“ an und versucht, den „Opernapparat zu unterwandern“. Nach Darmstadt kommt er „stinkend und unrasiert“ und möchte folgende Einsicht vermitteln: „Künstlerische Relevanz heute ist umgekehrt proportional mit der Zeit, die im Internet verbracht wird.“ Die einzige Wahl, die man im heutigen gesellschaftlichen Dilemma habe sei, „JA ZUM NEIN“ zu sagen.
Während Reinholdtsen eher in die Phalanx von Schüttler (Enteignung der Orchester und des Kulturapparats) und Tsangaris (zu ihm später) einzuordnen wäre, gehört David Helbich (*1973) mehr zum affirmativen, gesellschaftsbejahenden Teil der zeitgenössischen Komponisten.
Sein Vortrag unter dem Titel Soziale Choreographie machte bereits deutlich, dass er zwischen Komposition und Choreografie, zwischen Graphik und Notation changiert. Ihn interessieren vor allen Dingen die performativen Einflüsse des Auditoriums auf die musikalischen Vorgänge, die selbstperformativen Modi beim Hören von Musik, Betrachten von Gemälden oder Architekturen und die Wechselbeziehungen zwischen dem Außen und Innen des Rezipienten.
So stellte er dem Publikum gleich intime Fragen, wie zum Beispiel: Ist ihnen kalt, essen sie lieber vor oder nach dem Konzert, müssen sie oft pinkeln, ärgern sie sich, wenn Sitzriesen ihnen die Sicht versperren etc.? Auch übte er mit dem Publikum „selbstperformative Sitzpositionen“ (vier an der Zahl) oder ließ meditieren mit Fragen wie: Stellen sie sich vor … sie sitzen in einer vollen Straßenbahn, ... einer leeren Konzerthalle usw.
Sein Metier ist das Beobachten und Anstoßen von Menschen, Gruppen und Mengen. Er zeigt Videos aus Walking back in time (2016), wo das Publikum auf den Internationalen Darmstädter Ferienkursen vom Luisenplatz aus rückwärts in die Centralstation defiliert – und die Reaktionen dazu. Auch Day walk Ostend (2016) gehört dazu. Eine zehnköpfige Gruppe marschiert dort nebeneinander über den Boulevard von Ostende. Scheinbar rücksichtslos. Wie reagiert die Menschenmenge? Geschützte contra ungeschützte Räume?
Es sind die Bewegungsabläufe, die er graphisch darstellt oder auch choreographisch komponiert. So zeigt er Videos vor dem New Yorker Queens Museum oder vor dem Martin Gropius Bau in Berlin, wo kleinere oder auch größere Gruppen entlang einer graphisch vorgegebenen Partitur geleitet werden. Alles (ver)läuft spontan und freiwillig. Es sind performative Erlebnisse, die er herausfordert, introversive unsichtbare Akte der Selbsterkenntnis. Er selbst nennt seine Choreographien Partituren für den Körper, die Haltung und die Seele (Scores for the Body, the Building and the Soul).
So heißt auch ein Spiel (workshop) mit dem anwesenden Publikum. Die Übungen sind bekannten Künstlern zugeordnet und fordern von den Akteuren den ganzen (geschützten und ungeschützten) Menschen. Nur zwei Beispiele zur Verdeutlichung: Nice to meet you, Dan Graham (ein 1942 geborener New Yorker Bildhauer) soll heißen, vor einen Spiegel zu treten, hineinzuschauen und sich dabei selbst zu ignorieren, also nicht wahrzunehmen. Oder Wow, Hunter S. Thompson (ein 1937 geborener US-amerikanischer Schriftsteller) meint, sich mindestens 30 Sekunden lang über ein Geländer zu beugen, möglichst tief.

Die berechtigte Frage nach Beendigung dieses nicht von allen Teilnehmern angenommen Spiels, wo denn die Musik bleibe, beantwortete Helbich mit dem „Phänomen der Wahrnehmung“. Kunst und Musik im öffentlichen Raum führe individuell zu ganz persönlichen (privaten) Erfahrungen, wie das Mitdenken, das Erkennen und das Erlernen von Bedeutungen: „Ein Joga des Daseins“, „ein Prozess zwischen Verlust und Steuerung der Kontrolle“, ein Akt der grundsätzlich alle Künste betreffe den Raum erweitere aber auch schütze und Öffentlichkeit/Privatheit infrage stelle.


Themenblock IVIm öffentlichen Raum 

wurde von den Komponisten und Hochschullehrern Manos Tsangaris (*1956) und Yuval Shaked (*1955) bestritten.
Der dritte Vortrag von Matthias Handschick (*1971) über schulisches Komponieren zwischen Materialentfaltung und Performativität kann leider nicht kommentiert werden.
Manos Tsangaris übertitelte seinen Beitrag Der Mensch in der Mitte und machte ketzerisch deutlich, dass sich der Mensch im Zeitalter der digitalen Medien lediglich in der Mitte der Mittel befinde, die ihn formten und deren Kreise er lediglich zu beschreiben versuche. Die Kunst sei in diesen Teufelskreis involviert und kämpfe eine Schlacht, die nicht zu gewinnen sei. Er aber habe einen großen Spaß dabei.
In wunderbar poetischer Manier erläuterte er das Cover des diesjährigen Tagungsprogramms (eine Löwenzahnblüte durchbrochen vom Titel der Tagung) und resümierte, die verbreitete App-Sucht beklagend, dass das Smartphone, zur neuen Religion geworden, dazu beigetragen habe, die Trennschärfe von Öffentlichkeit und Privatheit aufgehoben zu haben. Bezugnehmend auf die vergangene Münchner Biennale (2018) seien viele Werke ins Privatistische abgerutscht, reine Selbstbespiegelung. Das Öffentliche drehe sich ins Private, das Private ins Öffentliche. Gleichzeitig aber kauften Finanzhaie und internationale Finanzkonsortien ganze Inseln und Städte auf und manipulierten Demokratien zum Zwecke ihrer Machtsicherung und -entfaltung.
Kunst heute sei weitgehend eine ohne Stachel, affirmativ und entbehre jeglicher Utopie. Politisch habe sich der Diskurs in Gefolgschaft verwandelt, Utopien dagegen in Aggression und Gewalt.
Sein Credo: Der Mensch muss wieder Mittelpunkt der Aktivitäten werden. Kunst und Musik wieder kulturkritisches Moment. Dazu fordert er Askese, im Sinne von Enthaltsamkeit, ästhetische Öffnung (das heißt, jedes Kunstwerk schaffe sich seine eigene Grammatik), innere Logik der künstlerischen Werke und das Zurücknehmen des Autors/Komponisten. Man lese und staune. Geht es ihm doch immer noch in der Kunst um die Grundfragen der Menschheit. Nur wie?
Yuval Shaked  sprach über den öden Frieden seines Heimatlandes Israel und begann mit dem Zitat von Haim Gouri (1923-2018), israelischer Lyriker und Autor: „Es schmerzt mich das Land!“
Ein kritisch historischer Abriss der Geschichte Israels machte die ethnische, politische, kulturelle und soziale Heterogenität dieses Landes plastisch deutlich und ermöglichte einen Einblick in das Dilemma eines Künstlers und Komponisten im heutigen Israel.
Shaked betrachtet seine Tätigkeit „weitgehend als Selbstverteidigungsmaßnahme gegenüber der frustrierenden politischen und entmutigenden gesellschaftlichen Situation“ im heutigen Israel. Er, der sich dem autonomen (selbstbestimmten) Kunstbegriff verpflichtet sieht, gibt seinen Werken lange und teilweise eindeutige Titel, wie „Unabhängigkeitshoffnung in Form einer Persiflage für Klavier mit Sirenenklang“ (1985), „Die Finsternis vertreiben – wir? Und wie? (1993/94) oder „Noch eine Frage für Klavier mit Josef Tals Stimme“ (2007) – Josef Tal (1910-2008) war Komponist, Pädagoge und Autor, erlebte die Gründung Israels und war einer seiner größten Kritiker –  und macht sich im eigenen Land allein schon damit höchst unbeliebt. Er beendet seine Vortrag mit einem Zitat von Yehuda Amichai (1924-2000): „Am Ort, am dem wir Recht haben, werden niemals Blumen wachsen.“
Für Shaked gibt es keinen Widerspruch zwischen öffentlich und privat. Und auf die Frage, welche Orte und Räume er in seinem Heimatland nutzt, antwortet er spontan, seine Räume befänden sich hier in Deutschland. Aber er beklage sich nicht. Öffentlich wie privat seien seine Familie und sein Freundeskreis der Raum, in dem er sich und seine Musik zum Ausdruck bringe: „Ich bin kein politscher Komponist (wobei er auf die Performance von Julia Mihály verweist). Mit dem Hinweis auf sein Stück „Freiheitshoffnung“, eines das in Israel nicht aufgeführt werden darf, meint er, „da wird das Öffentliche so klein und das Private riesig. Die Welt dreht sich auch so immer weiter“. Ein Schlusswort von großer Nachdenklichkeit.
 
ensemble phorminx (Foto: ensemble phorminx)

Zweites Abendkonzert im großen Saal der Akademie für Tonkunst

Der Konzertabend wurde vom ensemble phorminx, eine seit 1993 bestehende Darmstädter Formation bestritten. Das Sextett zeichnet sich vor allem dadurch aus, Werke in enger Zusammenarbeit mit den Komponisten zu erarbeiten und kann mittlerweile auf über 200 in dieser Weise entstandene Produktionen zurückblicken.
Erwähnt sei noch das vorher stattgefundene Konzert der Kinder zwischen acht und sechzehn Jahren, siebenzehn an der Zahl, die ihre Ergebnisse aus dem dreitägigen Workshop präsentierten und das mit Bravour.
Eingeleitet wurde der Hauptabend mit Stefans Prins´ (*1979) Hände ohne Orte (2016/17) für Klarinette, Schlagwerk, Klavier, Violoncello und Soundtrack. Ein Art musique concrète mit Nähmaschinengeklapper, Wassergeräuschen und präpariertem Piano. Ein Mix aus Soundtrack und Naturtönen. Sogar eine Melodie war am Schluss herauszuhören.
Ein Violoncello solo von Mark Andre (*1964) IV 2 (2007), das zweite Stück eines Zyklus, das die Introvertiertheit zum Thema hat, ließ Schwebungen, Klopfen, Glissandi und diverse Streichtechniken zu harmonischen, geräuschhaften, dissonanten und fragmentierten Tongebilden und Clustern werden.
Im Charakter dagegen eher extrovertiert das Trio Wieder also anders (2017) von Zeynep Gedizlioğlu (*1977). Mit Flöte, Violine und Violoncello malten die Instrumentalisten Tongemälde unterschiedlichster Couleur. Gedizlioğlu selbst spricht von Zeichnungen und Skizzen, deren Lesarten sie den Interpreten freistelle, indem sie in der Notation bestimmte Stellen offen lasse und damit zu unterschiedlichen Wahrnehmungen reize.
In Low Poly Rose (2016) von Martin Schüttler (*1974) wird das „Du darfst nicht“ durch das „Du darfst“ konterkariert. So spielt der Pianist statt mit den Fingern mit den Handrücken oder den Fäusten, der Klarinettist missachtet die Löcher, der Cellist ignoriert die Saiten (ein Plektrum lässt lediglich ein Knacken vernehmen) und entfremdet den Bogen (Holz bevorzugt) und der Kleinlautsprecher gibt dem Ganzen den Touch eines Wasserkochers oder eines Weckers, der eklig den Takt schlägt. Schüttler nimmt hier den Lehrbetrieb der Musikhochschulen aufs Korn, der die Präzision der Klanggestaltung, die Disziplin des Instrumentalisten beim Proben, die saubere Intonierung predigt, aber die „Extase“ ablehnt, weil sie unsauber und nicht schön ist, so wie Low Poly Rose auch.
Blanco Y Verde (2018) von Nicolaus A. Huber (*1939) für Flöte und Klarinette lehnt sich an großformatige Bilder Carmen Herreras (*1915) an, die sie in den 1950er Jahren gemalt hat. Auch eine grüne Installation von Marcel Duchamp nennt der Komponist als Vorbild und spielt auf die Intervallproportionen 1/2 (Oktave), 1/4 (Quarte) und 1/8 (Septime) an, die grüne und weiße Klangfarben erzeugen sollen. Für den Hörer kaum nachvollziehbar wirkte das Stück allerdings vital mit Silberpapiereinlagen und Klangteufelchen.
Yuval Shaked (*1955) hatte Ume´asLolamad (2001/02) mitgebracht. Ein Stück für Klavier und Zuspiel einer Kinderstimme, die auf Hebräisch einen schrecklichen Vorfall vom Februar 1994 schildert (ein jüdischer Siedler erschoss einige duzend Palästinenser während des Morgengebets in Hebron). Das Mädchen liest stockend, so als ob sie den Text nicht verstehe. Dazu spielt der Pianist leise fließende Skalen. Das gut 23-minütige textreiche Werk, soll, so Shaked, den Kernsatz aus dem Buch Esther hervorheben, wonach die Juden, die im Namen des Königs ihre Rache ausgeübt haben, rufen: „Lasse es auch morgen tun!“ Shaked dazu: „Dieses jinatem gam machar (lass es auch morgen tun) geht mit nicht aus dem Kopf. Vielleicht ist es nur das kindische Motto aller an unheimlicher Gewalt Beteiligten?“ Hier wird auch die Entscheidung, das Kind diesen grausamen Text sprechen zu lassen, verständlich.
Den Abschluss markierte Mark Andre mit Asche (2004, rev. 2005). Ein Quintett, bestehend aus Bassflöte, Bassklarinette, Viola, Violoncello und Klavier, ließ das langsame Vergehen des Klangs hörbar werden. Zunächst ein Zerfall der Form, der Struktur, dann das Zerbröseln des Klangs bis hin zur Tonfragmentierung. Ein irisierendes Umherirren von Klangspuren, die sich Schritt für Schritt in staubige Asche verwandelten. Spannungsgeladen aber ohne Hoffnung.
Erinnern wir uns an dieser Stelle an Manos Tsangaris, der sein Prinzip Hoffnung in die „inspirierte Vernunft“ transzendiert sehen möchte und an Helmut Lachenmanns Zitat, wonach Kunst den Menschen die Möglichkeit eröffnet, sich zu erkennen, auszudrücken um verantwortlich zu leben und zu handeln. Kunst und Musik braucht sowohl Privatheit als auch Öffentlichkeit, um der ethisch-moralischen wie inspirierten Vernunft Raum geben zu können.

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