Montag, 1. April 2019


Der ferne Klang (1912), Oper von Franz Schreker (1878-1934), Premiere an der Oper Frankfurt, 31.03.2019


v.l.: Martin Georgi (alter Fritz), Jennifer Holloway (Grete), Jan Koziara (Fritz), Steffie Sehling (alte Grete)
Fotos: Barbara Aumüller

Die Suche nach der Vollkommenheit als ewiges Ziel


Ein tiefenpsychologisches Drama wurde da an der Oper Frankfurt inszeniert, das zwischen Naturalismus, Romantizismus und Realismus changierend, Liebe und Kunstideal in eins setzte und ihr grandioses Scheitern in der ewigen Wiederkehr des Immergleichen zuweilen schrill beleuchtete.


Der ferne Klang, 1912 in der Frankfurter Oper mit großem Erfolg uraufgeführt, handelt von der gescheiterten Liebe zwischen Grete Graumann und Fritz, die beide fatalen irrealen Utopien nachhängen. Darin sind sie Kinder ihrer Zeit, einer Epoche der Weltkriege, Revolutionen und gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche. Die Musik wechselt zur Moderne, die alten harmonischen Regeln gelten nicht mehr, die Suche nach dem Neuen, Unerhörten ist in vollem Gange. Auf der anderen Seite regen sich die Freiheitsgefühle. Emanzipative Strömungen durchziehen die westlichen Gesellschaften. Alte soziale Rollen werden infrage gestellt.

Die Suche nach der echten Liebe ist zugleich die nach der Freiheit, der individuellen Verwirklichung, dem unbedingten Glück. Was mit den beiden Hauptfiguren geschieht nimmt der Betrachter allerdings als regressives Verhalten wahr. Beide glänzen durch Verdrängung und schaffen sich eine Welt der Vorstellung, die an der Realität scheitern muss. Grete endet als Straßendirne und Fritz stirbt in ihren Armen, ohne sie jemals glücklich gemacht zu haben. Der ferne Klang wird hier zur Metapher des schnell verrinnenden menschlichen Lebens, in dem Glück nur kurz aufscheint, um gleich wieder zu verschwinden: „Wie kurz, ach wie kurz war der Tag“, spricht Fritz kurz vor seinem Dahinscheiden. Kein Liebestod, wie noch zu Wagners Zeiten eine beliebte Apotheose, sondern ein Aneinander-vorbei-leben zweier Menschen, deren Sehnsucht nach Vollkommenheit unerfüllt bleiben muss. „Zurück bleibt eine melancholische Reflexion über zwei gescheiterte Leben ohne Ausweg“ (Karin Bohnert).

In Frankfurt wurde diese Oper zu einer Erinnerungs- und Gedächtnistragödie mit markanter psychologischer Schwerpunktsetzung. Damiano Michieletto (Regie) machte mit seinem ausgezeichneten Team (Paolo Fantini, Bühnenbild, Klaus Bruns, Kostüme, Alessandro Carletti, Licht, Roland Horvath und Carmen Zimmermann, Video) aus dem vom Komponisten selbst verfertigten Libretto ein Psycho-Melodram, wie es im Kino nicht besser sein könnte. Mehrere Schichten transparenter Gazevorhänge führten den Betrachter in unterschiedliche historische Räume. Verschwommen und vernebelt bis ins Seniorenheim. Grete und Fritz bewegten sich zwischen ihren Doppelgängern, zwei alten Greisen, die mit ihnen litten und sich mit ihnen freuten. Je älter sie wurden, denn ihre Geschichte geht mindestens über 15 Jahre, umso mehr verschmolzen sie mit ihnen. Die ansonsten schlichte Bühne, lediglich durch Accessoires aus den fünfziger Jahren bereichert, wurde durch exzellente Lichtanimationen wie künstliche Nachahmung der Klang- oder Wasserwellen und außerordentlich schöne Lichteffekte erfüllt.

Üppig dagegen das illustre Spiel in der Casa di Maschere, einem Edelbordell auf einer Insel bei Venedig (2. Akt). Lasziv, bunt und billig mit viel Glitzer und Glamour. Schemenhaft und geheimnisvoll dagegen der dritte Aufzug. Erinnerung und Erkenntnis in Szene gesetzt durch Dreidimensionalität, tanzende Greise, die sich finden, Krankenbetten sowie im Vordergrund ein dahinsiechender Fritz mit seinem Freund Rudolf, der als Seelenarzt fungiert. Die im eigentlichen Sinne trostlose Handlung wechselt auf der Bühne zwischen unterschiedlichen Milieus (Wirtshaus, Seniorenheim, Bühne auf der Bühne, Halbwelt und Gosse), grotesken Szenerien (auf dem Kopf herabhängende Sessel) und jugendstilhaften Elementen (immer wieder eine schwebende Harfe, Partituren und zum Schluss ein ganzes Orchester, bunt gemischt von der Decke herabhängend). Die Gegenwart ist immer eingebunden und sichtbar gemacht in der Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft - ein ständiges Hinweisen auf die ganz persönliche Geschichte der beiden Protagonisten.

Jennifer Holloway (Grete), Jan Koziara (Fritz)

Musik wie der Soundtrack eines Psycho-Melodrams


Dazu absolut passend die Musik. Franz Schreker (1878-1934) schien sich selbst mit dieser Oper zu identifizieren. Es ist ein Bekenntniswerk, das vor allem in der Musik seinen Niederschlag findet. Sie ist wie die teils abwegigen Seelen der Protagonisten –  und davon gibt es neben Grete und Fritz noch 18 weitere – so fragmentiert, wirr, gefühlig, zerfasert, wie deren Gefühlswelten. Dennoch ist sie leitmotivisch organisiert, strukturell klar konturiert und lässt Klangrede und Sprachmusik zur Wirkung kommen. Ein Kaleidoskop verschiedenster Stile – impressionistischer (Claude Debussy), expressionistischer (Bernd Alois Zimmermann), klassischer (W. A. Mozart) und atonaler, geräuschhafter (Edgar Varèse) Couleur, mit Chansons, Csárdás, Balladen, Walzern und Moritaten –, das nichts auslässt und dennoch der Handlung einen perfekten Bezugsrahmen verschafft.

Sebastian Weigle (musikalische Leitung) und Tilman Michael (Chor) verstanden es ausgezeichnet, diese musikalische Heterogenität in das dramatische Geschehen einzubetten. Wenn die Musikwissenschaftlerin Ulrike Kienzle von psychologischem Perspektivismus spricht, worunter sie die Nachzeichnung der psychischen Prozesse der handelnden Personen durch die Mittel der Tonsetzung versteht, dann kann man im übertragenen Sinne von der Klangrede des Orchesters und des Chores sprechen, die ein erweitertes assoziatives Verständnis der inneren Beweggründe und Befindlichkeiten von Grete (alias Greta, alias Tini) und Fritz ermöglichten. Eine nicht hoch genug zu schätzende Leistung, die mit Bravour gemeistert wurde.

Die SängerInnen, wie gesagt zwanzig an der Zahl, konnten durchweg ihren Rollen gerecht werden und gaben der etwa dreistündigen Handlung die notwendige szenische Unterlage, wenngleich doch der Vater von Grete (Magnus Baldvinsson, Bass), der Wirt des Gasthauses „Zum Schwan“ (Anthony Robin Schneider, Bass), die Mutter Gretes (Barbara Zechmeister, Sopran), die Zuhälterin (Nadine Secunde, Mezzosopran) oder auch der Graf (Gordon Bintner, Bariton) sowie der Chevalier (Theo Lebow, Tenor) und Rudolf, der Freund von Fritz (Sebastian Geyer, Bariton), durch Gesang und schauspielerische Leistung herausragten.

Hervorzuheben sind natürlich der Tenor Ian Koziara als Fritz, der sein Debüt in der Oper Frankfurt feierte und die Mezzosopranistin Jennifer Holloway als Grete Graumann, die ebenfalls in Frankfurt debütierte.

Koziara, ein wahrhafter Heldentenor, beherrschte alle gesanglichen Register seiner Gefühle, immer im festen Glauben an den fernen Klang, den er bei seinem vermeintlichen Hören hell und gefühlvoll intonierte. Mit herrlich gestützter Stimme und virilem Akzent führte er überzeugend durch seine wenig reflektierte und verblendete Sucherrolle, die in der zu späten Erkenntnis gipfelt, das nur Liebe, Kunst und Natur in Einheit zum fernen Klang führen können.

Holloway, eher eine Mezzosopranistin, trumpfte vor allem im zweiten Akt als Edelhure Greta auf. Hier konnte sie ihr schauspielerisches Talent voll zur Entfaltung bringen. Aber auch als gestrandete Tini vor dem Theaterbeisl (3. Akt), oder als Geschundene in der Selbstmordarie, von ihrem Vater im Poker verspielt und von der Mutter ungeschützt in eine unbestimmte Welt entlassen (1. Akt), machte sie eine gute Figur und sang diese gefühlsreichen Partien hinreißend mit etwas angedunkelter Resonanz und Vibrato reichem Timbre.

Jan Koziara und Jennifer Holloway in der
Schlussszene
Ein wunderbares und einziges Duett der beiden Hauptdarsteller im Finale des dritten Aktes, lyrisch und melodiös, das aber im nächsten Moment zum Trugschluss führte, entgleiste und in einem bedrohlichen es-Moll endete, hinterließ darüber hinaus einen bleibenden Eindruck dieses Solistenduos.

Die Oper Der ferne Klang, die durchaus auch Grete genannt sein könnte, denn sie handelt von ihrem Schicksal, ihrer Sehnsucht nach erfüllter Liebe, ihrer ureigenen Schicksalstragödie, wurde durch die starke Präsenz Holloways zu einem Spiegelbild gesellschaftlicher und sozialpsychologischer Umbruchszeit, in der der ferne Klang Synonym für das vollkommene Kunstwerk (Fritz stirbt daran) und die Liebe zum Symbol der Freiheit gerieten. Zwar bleiben beide auf der Strecke (Grete als chancenlose Dirne), aber allein die Haltung Holloways, einer Pieta gleich, wie sie den sterbenden Fritz in Armen hielt, ließ den Glauben daran, dass sie sich eigenständig aus dem Sumpf ziehen möge, wach halten, der es-Moll Schlussakkord des Orchesters im dreifachen Forte, nach einer langen, spannungsvollen Stille, gar von einem Neuanfang wie auch immer träumen.

Der Beifall war beiden Hauptdarstellern dieser Oper gewiss. Kein Mäkeln des Premierenpublikums, was sonst nicht selten der Fall ist, sondern frenetischer Applaus für alle: SängerInnen, StatistInnen, Orchester und Regieteam. Eine Premiere, die wohl noch die nächsten Opernsaisons Bestand haben wird.

Die nächsten Vorstellungen: 06., 13., 19., 26., 28.04 sowie 04. und 11.05.

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