Die Meistersinger von
Nürnberg (1868), Oper in drei Akten von Richard Wagner (1813-1883), Staatstheater
Wiesbaden, 22.04.2019
li.: Thomas de Vries (Beckmesser), Mitte: Die Meistersinger, re.: Marco Jentzsch (Walther von Stolzing), hinten: Ensemble Fotos: Karl & Monika Forster |
Ein Club alter Herren gegen eine revoltierende Jugend
Ist die Oper ein Lustspiel? Ist sie ein Volksstück mit klar konturierten Charakteren vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche? Oder ist sie gar die autobiographische Sicht Wagners auf die Konflikte zwischen künstlerischem Fortschritt und Tradition am Ausgangspunkt der Moderne? Die Meistersinger von Nürnberg, und das ist in Wiesbaden bestens zur Geltung gekommen, ist ein gesungenes Theaterstück, voller Humor, Geist, Witz, Satire, Ironie und dennoch von erstaunlichem Tiefgang und aktueller Bedeutung. Sie ist „ein echtes Wahrzeichen der deutschen Seele“ (Friedrich Nietzsche).
Bernd Mottl
(Regie) spricht von einer anachronistischen Trutzburg, einem Club alter Herren
(die Zünfte), die sich mit Verve gegen den Fortschritt stemmen, das
Althergebrachte (in Form der Tabulatur) überhöhen und das Neue, Avantgardistische
(die „Überschreitung der rechten Spur“) strikte ablehnen. Es ist ein Zustand
von Gestern und Morgen, in dem Hans Sachs, der Vorsteher der Schuhmacherzunft,
das Heute verkörpert, Sixtus Beckmesser, der Stadtschreiber, das Gestern und Walther von Stolzing, der freie Ritter, das Morgen. Eine Inszenierung mit Nürnberger Wirtshausidylle (Alt Sachsenhausen
lässt grüßen), einer Schusterstube zwischen Renaissance- und IKEA-Mobiliar und
bayerischem. Dazu Zunfttrachten zwischen Punkerlook, Motorradoutfit zwischen Talaren und Nachthemden zwischen zeitlosem Modemix (Bühne und Kostüme: Friedrich Eggert). Herrliche Schlägereien (Ende des 1. Aktes), Tumulte
(Ende des 2. Aktes) wie auch Volksfeststimmung mit Selfyszenen und Popstarhuldigung,
all das gepaart mit glamouröser Unterhaltung (Choreographie: Myriam Lifka, Licht: Klaus Krauspenhaar, Dramaturgie: Regine Palmai), ließen das textlastige,
aber sehr geistvolle Gesamtkunstwerk von fast fünfeinhalb Stunden zu einem
kurzweiligen, dichten, aber auch nachdenklichen Opernerlebnis werden.
Allen voran Derrick
Ballard in seiner Rolle als Hans Sachs. Ein warmer Bassbariton mit großer Ausstrahlung.
Er verkörperte das Hier und Jetzt, und das mit tiefem Menschenverständnis,
großer Reife, Liebe zur Allgemeinheit (Jugend wie Alter) und bestechender
Tatkraft, wobei List und Augenzwinkern nie fehlten. Einfach unübertroffen seine
Schlussapotheose mit dem glühenden Bekenntnis an die Kunst und die Achtung vor
den Meistern: „Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!“
Thomas de Vries (Sixtus Beckmesser) |
Ihm als Antipode entgegengestellt ist Sixtus Beckmesser. Thomas de Vries fand hier nahezu seine
Bestimmung als Bassbariton. Mit klarer, fast schneidender Stimme übertönte er
seine Widersacher und brillierte vor allem in seinen grotesken Versuchen, dem
Meistergesang (der Tabulatur) gerecht zu sein, wie beim gescheiterten Minnelied
im 2. Akt, wo Sachs als „Merker“ (Regelkontrollleur) auf die Schuhe klopft,
oder gar im abschließenden Wettgesang, einer gräulichen Entstellung vom
Walthers Text mit einer absurden Melodie. Und all das Immer begleitet von einer
verstimmten, sehr schrägen Beckmesser-Harfe (Kristina Kuhn), die Wagner eigens für diese Rolle entwickeln ließ.
Beckmessers Scheitern bedeutet zugleich auch das Scheitern
der Meistersinger: Wie er, ein verzweifelter, orientierungsloser Haufen, der
sich von der Jugend meilenweit entfernt und sich vor ihr lächerlich gemacht hat.
Die zehn Vertreter ihrer Gilden symbolisierten dabei Blindheit,
Gebrechlichkeit, Senilität, Verwirrtheit sowie Halsstarrigkeit. Eine große Charakternummer,
die die geistige Elite auf der Bühne des Großen Saals da ablieferte.
Perfekt harmonierten daneben Marco Jentzsch als Walther von Stolzing und Betsy Horne als Eva (Tochter vom Goldschmied Veit Pogner) sowie Christopher
Diffey als David (Lehrling von Hans Sachs) und Margarete Joswig als Magdalena (Bedienung im Gasthaus „Alt Nürnberg“).
Marco Jentzsch (Walther von Stolzing) |
Marco Jentzsch,
nicht nur ein Heldentenor, sondern auch ein groß gewachsener blendend
aussehender Rockertyp, verkörperte die Avantgarde, die Regellosigkeit nach dem
Motto: Was scheren mich die bestehenden Gesetze (hier: Tabulaturen). In Outfit
und Haltung verkörpert er den Außenseiter, dabei aber sympathisch und ganz dem
Idol der Jugend entsprechend. Stolzings Metamorphose vollzieht sich allein
durch das Verhandlungsgeschick von Hans Sachs (eigentlich will er mit seiner
Geliebten Eva fliehen), der ihn zum Gesangswettstreit überreden kann. Jentzschs
Interpretation des „Preislieds“, eines der schönsten Lieder aus Wagners Hand,
im Duktus des späteren Giacomo Puccini, gehörte zum Höhepunkt seines Auftritts.
Die Menge hat ihr Idol gefunden, alle möchten sich mit ihm
identifizieren (Selfies und Selbstliebe feiern fröhliche Urständ). Das Gestern
ist passé, das Morgen scheint zur Gegenwart geworden zu sein. Wenngleich das
Preislied, wie bereits gesagt, zum schönsten aller Lieder Wagners gehört, so steht
es doch außerhalb der jahrhundertealten Regeln und symbolisiert damit die
Abkehr vom künstlerischen und sozialpolitischen Konsens.
Betsy Horne als
Eva, eine Sopranistin mit warm timbrierter Stimme, ist zwar scheinbar Spielball
äußerer Kräfte (Pogner/gesungen vom ausgezeichneten Bass Young Doo Park/setzt sie als Trophäe für den Sieger des Sängerwettstreits
aus), lässt aber durch erfrischendes Selbstbewusstsein und klare Liebesbezeugung
zu Stolzing nie den Hauch des Selbstzweifels aufkommen. Ein wunderschönes Paar
hatte sich da gefunden, das rundum zusammenpasste.
Gleiches gilt auch für Christopher
Diffey, einem hellen lyrischen Tenor mit großem Charme, und seiner Verlobten Margarete Joswig, einer Mezzosopranistin
mit auffallendem Vibrato und stark gestützter Mittellage. Ein perfektes Paar
auch hier.
Kulminationspunkt der Paare gemeinsam mit Hans Sachs das im 3. Akt am Ende des ersten Bildes stattfindende Quintett: Stolzing hat die
dritte Strophe seiner „Morgentraum-Deutung“ (Preislied) gedichtet und kann jetzt zuversichtlich zum Sängerwettstreit schreiten. Sachs "schlägt" (traditionsgemäß von einer Backpfeife
begleitet) seinen Lehrling David zum Gesellen und willigt in die Hochzeit mit
Magdalena ein. Nachdem all das erreicht ist, singen alle fünf besagtes
hinreißendes Quintett, beseligend und wohl einmalig in Wagners musikalischem
Schaffen.
links: Oliver Zwarg statt Derrick Ballard (Hans Sachs), Betsy Horne (Eva) |
Operette, Musical und Film sind vorausgedacht – eine Genietat Wagners
Überhaupt ist die Musik Wagners zu diesem ernsten Lustspiel
von außergewöhnlicher Frische und Klarheit. Bereits das einleitende strahlende C-Dur-Motiv
der Meistersinger wie die folgenden drei Themen (Liebesthema, Festwiesenthema
und Preislied), die allesamt immer wieder leitmotivisch oder thematisch
verarbeitet wiederkehren, lassen Freude, Helle wie auch sinnliche Lyrik als
stilistische Besonderheit der Meistersinger
hervortreten. Die Harmonien sind weitgehend diatonisch gebaut, im Gegensatz zur Chromatik im „Tristan“ und im „Ring“ (wenngleich auch Einiges aus „Tannhäuser“
und „Lohengrin“ zu hören ist). Zudem herrschen volkstümliche Melodien
vor und die Klangsprache ist eng verknüpft mit den unterschiedlichen Charakteren
der handelnden Personen. Die Oper, richtungsweisend für Operette, Musical und
Film, ist eine dramaturgische Genietat Wagners.
Patrick Lange (musikalische
Leitung) und Albert Horne (Chor und
Extrachor) haben hierzu einen hervorragenden Beitrag geleistet. Selbst schwierigste
kontrapunktische Passagen und die weitläufigen kühn geschwungenen Bögen
gelangen dem Staatsorchester Wiesbaden unter seinem Dirigat mit Leichtigkeit
und Wagnerischer Noblesse. Dem stand der Chor in Nichts nach. Gewaltig der
prächtige Choral: „Wach auf! Es nahet gen den Tag!“ (ein Hymnus, den der echte Hans Sachs auf Martin Luther dichtete), zart und innig dagegen der Eingangschoral nach
dem Vorspiel des Orchesters. Ein Chor mit guten Stimmen und großem
schauspielerischen Talent. Auch die Statisterie sollte nicht vergessen werden.
Sie sorgte für gelungene Schlägereien und amüsante Tumulte. Dazu der übermütige
altdeutsche Tanz und die clowneske Lehrbubeneinlage vor der Ankunft der
Meistersinger. Einfach nur gut.
Abschlussszene mit Ensemble, vorne die Meistersinger-Gilde |
Wohin treibt die Gesellschaft?
„Verachtet mir die Meister nicht!“, warnt Sachs, nachdem
Stolzing nach seinem Sieg die Meisterwürde ablehnt. Hier wird das Lustspiel zur
ernsten Frage: Wohin treibt die Gesellschaft?
Die Meister haben abgedankt (sie stehen verwirrt und isoliert
alleine vor dem feiernden Volk), das Volk übt sich in Selfies (ich bin der
Mittelpunkt allen Geschehens) und huldigt dem neuen Popstar. Stolzing und Eva genießen
den Sieg ihrer Liebe, denn um die geht es beiden im eigentlichen Sinne.
Gleiches gilt für David und Lena. Sachs dagegen wird zum Transmissionsriemen
zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ihm bleibt nichts weiter übrig, als seinen
Talar der Meistersinger abzustreifen (das heißt die Zunft zu verlassen) und der
Jugend (wer sie auch immer repräsentieren mag) das Zepter zu übergeben.
Kommen wir abschließend zurück auf Friedrich Nietzsche
(1844-1900), der das oben genannte Zitat mit der Bemerkung fortsetzte: „Diese
Art Musik (gemeint die Meistersinger)
drückt am besten aus, was ich von den Deutschen halte: sie sind von vorgestern
und von übermorgen – Sie haben noch kein Heute.“ Dem kann man nur zustimmen. In
diesem Sinne ist dem Staatstheater Wiesbaden eine prächtige, zeitnahe,
hochaktuelle Inszenierung gelungen.
Nächste Vorstellungen: 20.05. und 30.06.
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