Dienstag, 23. April 2019


Die Meistersinger von Nürnberg (1868), Oper in drei Akten von Richard Wagner (1813-1883), Staatstheater Wiesbaden, 22.04.2019

li.: Thomas de Vries (Beckmesser), Mitte: Die Meistersinger, re.: Marco Jentzsch (Walther von Stolzing), hinten: Ensemble
Fotos: Karl & Monika Forster

Ein Club alter Herren gegen eine revoltierende Jugend


Ist die Oper ein Lustspiel? Ist sie ein Volksstück mit klar konturierten Charakteren vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche? Oder ist sie gar die autobiographische Sicht Wagners auf die Konflikte zwischen künstlerischem Fortschritt und Tradition am Ausgangspunkt der Moderne? Die Meistersinger von Nürnberg, und das ist in Wiesbaden bestens zur Geltung gekommen, ist ein gesungenes Theaterstück, voller Humor, Geist, Witz, Satire, Ironie und dennoch von erstaunlichem Tiefgang und aktueller Bedeutung. Sie ist  „ein echtes Wahrzeichen der deutschen Seele“ (Friedrich Nietzsche).


Bernd Mottl (Regie) spricht von einer anachronistischen Trutzburg, einem Club alter Herren (die Zünfte), die sich mit Verve gegen den Fortschritt stemmen, das Althergebrachte (in Form der Tabulatur) überhöhen und das Neue, Avantgardistische (die „Überschreitung der rechten Spur“) strikte ablehnen. Es ist ein Zustand von Gestern und Morgen, in dem Hans Sachs, der Vorsteher der Schuhmacherzunft, das Heute verkörpert, Sixtus Beckmesser, der Stadtschreiber, das Gestern und Walther von Stolzing, der freie Ritter, das Morgen. Eine Inszenierung mit Nürnberger Wirtshausidylle (Alt Sachsenhausen lässt grüßen), einer Schusterstube zwischen Renaissance- und IKEA-Mobiliar und bayerischem. Dazu Zunfttrachten zwischen Punkerlook, Motorradoutfit zwischen Talaren und Nachthemden zwischen zeitlosem Modemix  (Bühne und Kostüme: Friedrich Eggert). Herrliche Schlägereien (Ende des 1. Aktes), Tumulte (Ende des 2. Aktes) wie auch Volksfeststimmung mit Selfyszenen und Popstarhuldigung, all das gepaart mit glamouröser Unterhaltung (Choreographie: Myriam Lifka, Licht: Klaus Krauspenhaar, Dramaturgie: Regine Palmai), ließen das textlastige, aber sehr geistvolle Gesamtkunstwerk von fast fünfeinhalb Stunden zu einem kurzweiligen, dichten, aber auch nachdenklichen Opernerlebnis werden.

Allen voran Derrick Ballard in seiner Rolle als Hans Sachs. Ein warmer Bassbariton mit großer Ausstrahlung. Er verkörperte das Hier und Jetzt, und das mit tiefem Menschenverständnis, großer Reife, Liebe zur Allgemeinheit (Jugend wie Alter) und bestechender Tatkraft, wobei List und Augenzwinkern nie fehlten. Einfach unübertroffen seine Schlussapotheose mit dem glühenden Bekenntnis an die Kunst und die Achtung vor den Meistern: „Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!“

Thomas de Vries (Sixtus Beckmesser)

Ihm als Antipode entgegengestellt ist Sixtus Beckmesser. Thomas de Vries fand hier nahezu seine Bestimmung als Bassbariton. Mit klarer, fast schneidender Stimme übertönte er seine Widersacher und brillierte vor allem in seinen grotesken Versuchen, dem Meistergesang (der Tabulatur) gerecht zu sein, wie beim gescheiterten Minnelied im 2. Akt, wo Sachs als „Merker“ (Regelkontrollleur) auf die Schuhe klopft, oder gar im abschließenden Wettgesang, einer gräulichen Entstellung vom Walthers Text mit einer absurden Melodie. Und all das Immer begleitet von einer verstimmten, sehr schrägen Beckmesser-Harfe (Kristina Kuhn), die Wagner eigens für diese Rolle entwickeln ließ.

Beckmessers Scheitern bedeutet zugleich auch das Scheitern der Meistersinger: Wie er, ein verzweifelter, orientierungsloser Haufen, der sich von der Jugend meilenweit entfernt und sich vor ihr lächerlich gemacht hat. Die zehn Vertreter ihrer Gilden symbolisierten dabei Blindheit, Gebrechlichkeit, Senilität, Verwirrtheit sowie Halsstarrigkeit. Eine große Charakternummer, die die geistige Elite auf der Bühne des Großen Saals da ablieferte.

Perfekt harmonierten daneben Marco Jentzsch als Walther von Stolzing und Betsy Horne als Eva (Tochter vom Goldschmied Veit Pogner) sowie Christopher Diffey als David (Lehrling von Hans Sachs) und Margarete Joswig als Magdalena (Bedienung im Gasthaus „Alt Nürnberg“).

Marco Jentzsch (Walther von Stolzing)

Marco Jentzsch, nicht nur ein Heldentenor, sondern auch ein groß gewachsener blendend aussehender Rockertyp, verkörperte die Avantgarde, die Regellosigkeit nach dem Motto: Was scheren mich die bestehenden Gesetze (hier: Tabulaturen). In Outfit und Haltung verkörpert er den Außenseiter, dabei aber sympathisch und ganz dem Idol der Jugend entsprechend. Stolzings Metamorphose vollzieht sich allein durch das Verhandlungsgeschick von Hans Sachs (eigentlich will er mit seiner Geliebten Eva fliehen), der ihn zum Gesangswettstreit überreden kann. Jentzschs Interpretation des „Preislieds“, eines der schönsten Lieder aus Wagners Hand, im Duktus des späteren Giacomo Puccini, gehörte zum Höhepunkt seines Auftritts.

Die Menge hat ihr Idol gefunden, alle möchten sich mit ihm identifizieren (Selfies und Selbstliebe feiern fröhliche Urständ). Das Gestern ist passé, das Morgen scheint zur Gegenwart geworden zu sein. Wenngleich das Preislied, wie bereits gesagt, zum schönsten aller Lieder Wagners gehört, so steht es doch außerhalb der jahrhundertealten Regeln und symbolisiert damit die Abkehr vom künstlerischen und sozialpolitischen Konsens.

Betsy Horne als Eva, eine Sopranistin mit warm timbrierter Stimme, ist zwar scheinbar Spielball äußerer Kräfte (Pogner/gesungen vom ausgezeichneten Bass Young Doo Park/setzt sie als Trophäe für den Sieger des Sängerwettstreits aus), lässt aber durch erfrischendes Selbstbewusstsein und klare Liebesbezeugung zu Stolzing nie den Hauch des Selbstzweifels aufkommen. Ein wunderschönes Paar hatte sich da gefunden, das rundum zusammenpasste.

Gleiches gilt auch für Christopher Diffey, einem hellen lyrischen Tenor mit großem Charme, und seiner Verlobten Margarete Joswig, einer Mezzosopranistin mit auffallendem Vibrato und stark gestützter Mittellage. Ein perfektes Paar auch hier. 
Kulminationspunkt der Paare gemeinsam mit Hans Sachs das im 3. Akt am Ende des ersten Bildes stattfindende Quintett: Stolzing hat die dritte Strophe seiner „Morgentraum-Deutung“ (Preislied) gedichtet und kann jetzt zuversichtlich zum Sängerwettstreit schreiten. Sachs "schlägt" (traditionsgemäß von einer Backpfeife begleitet) seinen Lehrling David zum Gesellen und willigt in die Hochzeit mit Magdalena ein. Nachdem all das erreicht ist, singen alle fünf besagtes hinreißendes Quintett, beseligend und wohl einmalig in Wagners musikalischem Schaffen.


links: Oliver Zwarg statt Derrick Ballard (Hans Sachs), Betsy Horne (Eva)

Operette, Musical und Film sind vorausgedacht – eine Genietat Wagners


Überhaupt ist die Musik Wagners zu diesem ernsten Lustspiel von außergewöhnlicher Frische und Klarheit. Bereits das einleitende strahlende C-Dur-Motiv der Meistersinger wie die folgenden drei Themen (Liebesthema, Festwiesenthema und Preislied), die allesamt immer wieder leitmotivisch oder thematisch verarbeitet wiederkehren, lassen Freude, Helle wie auch sinnliche Lyrik als stilistische Besonderheit der Meistersinger hervortreten. Die Harmonien sind weitgehend diatonisch gebaut, im Gegensatz zur Chromatik im „Tristan“ und im „Ring“ (wenngleich auch Einiges aus „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ zu hören ist). Zudem herrschen volkstümliche Melodien vor und die Klangsprache ist eng verknüpft mit den unterschiedlichen Charakteren der handelnden Personen. Die Oper, richtungsweisend für Operette, Musical und Film, ist eine dramaturgische Genietat Wagners.

Patrick Lange (musikalische Leitung) und Albert Horne (Chor und Extrachor) haben hierzu einen hervorragenden Beitrag geleistet. Selbst schwierigste kontrapunktische Passagen und die weitläufigen kühn geschwungenen Bögen gelangen dem Staatsorchester Wiesbaden unter seinem Dirigat mit Leichtigkeit und Wagnerischer Noblesse. Dem stand der Chor in Nichts nach. Gewaltig der prächtige Choral: „Wach auf! Es nahet gen den Tag!“ (ein Hymnus, den der echte Hans Sachs auf Martin Luther dichtete), zart und innig dagegen der Eingangschoral nach dem Vorspiel des Orchesters. Ein Chor mit guten Stimmen und großem schauspielerischen Talent. Auch die Statisterie sollte nicht vergessen werden. Sie sorgte für gelungene Schlägereien und amüsante Tumulte. Dazu der übermütige altdeutsche Tanz und die clowneske Lehrbubeneinlage vor der Ankunft der Meistersinger. Einfach nur gut.

Abschlussszene mit Ensemble, vorne die Meistersinger-Gilde

Wohin treibt die Gesellschaft?


„Verachtet mir die Meister nicht!“, warnt Sachs, nachdem Stolzing nach seinem Sieg die Meisterwürde ablehnt. Hier wird das Lustspiel zur ernsten Frage: Wohin treibt die Gesellschaft?
Die Meister haben abgedankt (sie stehen verwirrt und isoliert alleine vor dem feiernden Volk), das Volk übt sich in Selfies (ich bin der Mittelpunkt allen Geschehens) und huldigt dem neuen Popstar. Stolzing und Eva genießen den Sieg ihrer Liebe, denn um die geht es beiden im eigentlichen Sinne. Gleiches gilt für David und Lena. Sachs dagegen wird zum Transmissionsriemen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ihm bleibt nichts weiter übrig, als seinen Talar der Meistersinger abzustreifen (das heißt die Zunft zu verlassen) und der Jugend (wer sie auch immer repräsentieren mag) das Zepter zu übergeben.

Kommen wir abschließend zurück auf Friedrich Nietzsche (1844-1900), der das oben genannte Zitat mit der Bemerkung fortsetzte: „Diese Art Musik (gemeint die Meistersinger) drückt am besten aus, was ich von den Deutschen halte: sie sind von vorgestern und von übermorgen – Sie haben noch kein Heute.“ Dem kann man nur zustimmen. In diesem Sinne ist dem Staatstheater Wiesbaden eine prächtige, zeitnahe, hochaktuelle Inszenierung gelungen.

Nächste Vorstellungen: 20.05. und 30.06.

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