Die Liebe zu drei Orangen
(1921), Oper mit einem Prolog und vier Akten von Sergej Prokofjew (1891-1953),
Staatstheater Mainz, 26.05.2019 (Mainzer Erstaufführung am 18.05.2019)
v.l.: Johannes Mayer (Truffaldino), Hans-Otto Weiß (König), Philippe Do (Prinz), Chor und Extrachor des Staatstheaters Mainz (Fotos: Andreas J. Etter) |
Eine kranke
Gesellschaft soll wieder das Lachen lernen
Gleich beim Eintreten in den großen Saal des Staatstheaters Mainz wird man von einer Gruppe Clowns empfangen, die, eigentümlich stumm und abwesend, Schilder mit absurden Aufschriften wie „You Too“, „Keine Angst vor Clowns“, oder „No Joke“ herumtragen. Soll man sich amüsieren? Irgendwie gelingt das nicht. Die Szenerie hat etwas Beklemmendes. Dann ein wildes Durcheinander, begleitet von einer lustigen Einleitungsmusik aus dem Orchestergraben.
Aus allen Winkeln des Saales kommen sie, die Clowns, versammeln
sich auf der Bühne und streiten darüber, was sie sehen möchten: Die Tragischen
wünschen sich eine Tragödie, die Humorvollen eine Komödie, die Lyrischen eine
Liebesgeschichte, die Derben eine Posse. Ob alle Befriedigung erfahren, zeigt sich bald, denn der König kommt und
teilt äußerst betrübt mit, dass sein Sohn und Nachfolger, der Prinz, an einer
unheilbaren Krankheit, genannt die „hypochondritiotische Verschleimung“, leide.
Heute würde man von schwerer Depression sprechen.
Was tun? Ein Gassenhauer, eine Tragödie, eine Burleske oder
gar eine Liebesromanze? Man wird sehen. Denn die einzige Heilung des Kranken
liegt darin, ihn zum Lachen zu bringen. Dazu aber bedarf es diverser Therapien,
die von vielen, sehr unterschiedlichen Therapeuten, Ärzten und Heilern durchgeführt
werden.
Wir befinden uns in einem imaginären Krankenhaus mit einer
Vielzahl von Treppen, die ins Nichts führen, dazu eine Art Zirkusarena. Oder ein antiquierter
Medizin-Hörsaal? Mittig ein Krankenbett mit dem Patienten höchstpersönlich
(Ausstattung und Kostüme: Moritz Junge).
Der Chor verwandelt sich in quirlig betriebsame Pfleger, Schwestern und Ärzte.
Dazu treten, wie in einem Märchen üblich, die Guten und die Bösen auf den Plan,
diejenigen, die an der Heilung des Prinzen interessiert sind, und jene, die ihn
lieber tot als lebendig wünschen („Kugel oder Rattengift“).
v.l.: Johannes Mayer (Truffaldino), Philippe Do (Prinz), Hans-Otto Weiß (König), Michael Dahmen (Pantalone), Brett Carter (Leander) |
Comedia dell´arte am Krankenbett
Joan Anton Rechi
(Regie) und sein Team haben sich entschieden, aus dem Märchen – ursprünglich
die Bearbeitung einer orientalischen Erzählung von Carlo Gozzi (1720-1806), von
Sergej Prokofjew (1891-1953) in diese Oper (1921) adaptiert (deutsche Textfassung: Werner Hintze) – eine Krankengeschichte
zu machen, die Spiegelbild der heutigen Gesellschaft sein soll: Das Leiden an
Depressionen, an melancholischen Erscheinungen, die sich somatisch in Herzbeschwerden,
Darmstörungen, Schlaflosigkeit und Hypochondrie auswirken und sich bis zu halluzinatorischer
Einengung des Bewusstseins ausweiten können. Rechi spricht von einer „Gesellschaft,
in der alle nur mit sich selbst beschäftigt sind“ und wo „Rettung in die Krankheit“
die einzige Lösung zu sein scheint.
Die von Prokofjew eher als Persiflage an den herkömmlichen
Opernbetrieb gedachte Handlung bekommt jetzt einen Touch von Ernsthaftigkeit,
in der alle handelnden Personen irgendwie zu Ärzten werden, wobei Frivolität
und Erotik nicht zu kurz kommen, denn Liebe geht bekanntlich nicht nur durch
den Magen.
Die Bösen: Leander, der Premierminister (Bariton: Brett Carter). Er möchte den Thron
besteigen und wünscht sich, dass der Prinz durch supertragische Geschichten,
die er ihm vorliest, verstirbt. Prinzessin Clarice (Jennifer Panara, Mezzosopran) will ihren Neffen einfach nur gewaltsam
um die Ecke bringen. Ihre Ehe mit Leander ist abgemacht. Allerdings benimmt sie
sich eher wie eine Kurtisane. Auf ihrer Seite haben sie Fata Morgana (Linda Sommerhage, Sopran), eine
Zauberin mit Sexappeal und voller Rachegelüste, denn sie erfreut sich
mittlerweile daran, die Krankheit zur Regel werden zu lassen. Und Smeraldina (Martha Jordan, Mezzosopran), die als
falsche Geliebte des Prinzen in aufreizendem Lack und Leder ihr Unwesen treibt.
Die Guten: Truffaldino (Johannes Mayer, Tenor), ein Hanswurst am Königshof, der alles zum
Glück des Prinzen unternimmt. Der Zauberer Celio (Peter Felix Bauer, Bassbariton), Beschützer des Königs und des
Prinzen, immer im Clinch mit Fata Morgana und zuletzt Sieger dieses Duells.
Hinzu kommen Pantalone (Michael Dahmen, Bariton), der Berater und Vertraute des Königs. Die
Köchin Creonta (Rainer Zaun,
Bassbariton), die ihr eigenes Süppchen kocht und in ihrem Schloss drei
Prinzessinnen in Orangen gefangen hält. Natürlich die drei Orangen Linetta (Catherine Garrido, Alt), Nicoletta (Maria Dehler, Mezzosopran) und Ninetta
(Alexandra Samouilidou, Sopran). Dazu
gesellen sich noch der kleine Teufel Farfarello (Martin Busen, Bassbariton) und der Zeremonienmeister (Daniel Tilch, Tenor).
Allen voran stehen natürlich der König (Hans-Otto Weiß, Bassbariton), der Beherrscher einer Phantasiewelt
und treusorgender Vater, sowie der Prinz selbst (Philippe Do, Tenor), der, zwischen Larmoyanz und unbedingter Liebe schwankend,
eine Entwicklung vom eingebildeten Kranken, der nicht erwachsen werden will,
zum ernsthaften, verantwortungsvollen Nachfolger seines Vaters durchmacht.
Chor und Extrachor des Staatstheaters Mainz |
Slapstick und Mainzer Fasching
Alle Akteure gaben ausnahmslos ihr Bestes, wobei der Chor,
mal in Comedia dell´arte Manier, mal
als Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern, sängerisch wie
schauspielerisch herausragte. Viel Slapstick und Mainzer Fasching, geistreiche Aperçus
und witzige Derbheit schafften unterhaltsame zwei Stunden, wobei die Anhänger
der Tragödie (hypochondritiotische
Verschleimung, 1. Akt), der Komödie (das Maskenfest mit Hüpfbällen und
Luftballons, die „Lacharie" des Prinzen nach dem Handgemenge zwischen Fata Morgana
und Celio, 2. Akt), der Posse (die Geilheit der fürchterlichen Köchin Creonta,
die sich, von einem Glitzertanga verführt,
die drei Orangen klauen lässt; die Rettung der Ninetta durch eine Spritze, 3. Akt)
und der Lyrik (das Liebesduett des Prinzen und Ninetta, 4. Akt) voll auf ihre
Kosten kamen.
Dazu eine Partitur voller Inspiration und Können. Hermann Bäumer (musikalische Leitung)
verstand es, sein großes Orchester (sechsfach besetzt) mit zwei Harfen, zwei Pauken
und viel Blech, tonmalerisch und farbenreich zu präsentieren. Musik, Gesang und
Handlung wurden unter seiner Hand zu einer Einheit. Viel russische Seele, aber auch
Einflüsse der russischen Avantgarde, des französischen Impressionismus, des
italienischen Belcanto und der deutschen Neoklassik waren herauszuhören und
dennoch in ganz individueller Stilistik verarbeitet. Wer kennt ihn nicht, den
Marsch, der immer bei den Festivitäten erklingt und Freude ankündigt. So auch im
Lieto fine, oder besser: Happy End, wo sich alle lieb haben,
nachdem die drei Bösen (Leander, Clarice, Smeraldina) mithilfe von Fata Morgana
geflohen sind und der Rest … Und wenn sie nicht gestorben sind …
Philippe Do (Prinz), Alexandra Samouilidou (Ninetta) |
Ernsthafte Gesellschaftskritik im Widerstreit des Absurden
Die Musik Prokofjews lebt, was das Philharmonische Staatsorchester Mainz
mit großer Empathie in die Tat umzusetzen verstand. Allerdings konnte die Idee
der Gesellschaftskrankheit Melancholie
nicht durchweg überzeugend umgesetzt werden. Zumal Prokofjews Märchenoper eher eine
Satire auf die Absurditäten des Theater- und Musikgeschäftes sein möchte. Mit
dem ernsthaften gesellschaftlichen Krankheitsbild (Depression, Hypochondrie) wurde dieser Inszenierung jedoch zuweilen das bezwingende Tempo genommen, der verschwenderische
Einfallsreichtum notgedrungen geglättet, was vor allem in den
entscheidenden Szenen (Rachearie von
Fata Morgana, 2. Akt, Verwandlungsszene
Ninettas in eine Ratte, 3. Akt, oder auch Fluchtszene
der Bösen, 4. Akt) auf Kosten des Spannungsbogens ging.
Trotzdem, ein kurzweiliger Nachmittag. Vielleicht sollte man
sich daran erinnern, dass die Oper zunächst, als modernistisch abgetan, wenig Erfolg hatte. Erst 25 Jahre nach
der Chicagoer Uraufführung eroberte sie die Konzerthäuser der Welt, in einer
Zeit des fortschreitenden Ruhms des Komponisten. Die Mainzer Erstaufführung
geht ebenfalls einen besonderen Weg. Rechi möchte dem „krankhaften Monoideismus“ der
postmodernen Gesellschaft einen Spiegel vorhalten und meint, dass die Oper uns
dazu viel zu sagen habe. Die Suche nach den drei Orangen, um sein Glück zu
finden, meint er, sei ebenso absurd, wie der Glaube daran, "dass viele likes auf
Instagram uns glücklich machen könnten". Wie recht er hat. Doch ob dies das Opernsujet
hergibt?
Der Beifall war freundlich. Besonders das Orchester mit Hermann
Bäumer, der Prinz, Philippe Do, sowie der König, Hans-Otto Weiß, erhielten
Sonderapplaus.
Nächste Vorstellungen: 4., 09., 14., 20., 26. und 29.06.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen