Rodelinda, Regina
de´Langobardi (1725), Dramma per musica in drei Akten von Georg Friedrich
Händel (1685-1759), Erstaufführung in der Oper Frankfurt, 12.05.2019
Abgründiges Psychodrama aus ungewohnter Perspektive
Ein bisher kaum bekanntes Meisterwerk Georg Friedlich Händels (1685-1759) ist in Frankfurt angekommen und hat das Publikum restlos begeistert: Rodelinda, Königin der Langobarden (1725). Ein unglaublich dichtes und psychologisch tiefgründiges Familiendrama nach einem mehrfach bearbeiteten Libretto von Nicola Francesco Haym (1678-1729), komprimiert zu einem berauschenden Intrigenspiel einer langobardischen Herrscherfamilie mit Liebe, Hass und Meuchelmord, wie es auch heute durchaus noch vorkommen könnte.
Claus Guth
(Regie) und sein bewährtes Team um Christian
Schmidt (Bühnenbild und Kostüme), Joachim
Klein (Licht), Ramses Sigi
(Choreographie), Andi A. Müller
(Video) und Axel Weidauer (szenische
Einstudierung) haben mit Rodelinda
ein Psychodrama inszeniert, das alle Register menschlicher Abgründe zieht und
gleichzeitig charakterliche Schwächen und Stärken nahezu aller handelnden
Personen mit großer Prägnanz und logischer Dichte anschaulich auf die Bühne bringt.
v.l.: Lucy Crowe (Rodelinda), Maskenfigur, Fabián Augusto Gómez Bohórquez (Flavio), |
Ganz starke Charakterstimmen
Da ist Rodelinda (Debütrolle der Sopranistin: Lucy Crowe), eine Königin ohne Macht
und bedrängt vom Usurpator Grimoaldo, der sie heiraten möchte. Sie aber liebt
ihren tot geglaubten Ehemann, Bertarido (er aber ist lediglich geflüchtet), und
steht scheinbar zwischen allen Stühlen. Rodelinda zeichnet sich durch eine
vielfältige Persönlichkeitsstruktur aus. Mal verzweifelt, mal hoffnungsvoll,
mal klagend, mal fröhlich. Ihre unbedingte Gattentreue und Liebe zu ihrem
einzigen Sohn Flavio machen sie zu einer starken, letztendlich dominanten
Persönlichkeit. Crowe sang ihre acht
schwierigen Arien unverkrampft mit großer Stimme und ausgefeilten Koloraturen. Sie
kreierte eine Rodelinda, wie sie sich selbst Händel zu seiner Zeit wohl gewünscht
hätte.
Bertarido (Countertenor: Andreas Scholl), wie gesagt auf der Flucht, ist unbedingt bestrebt,
seine Ehefrau wiederzugewinnen. Dafür unternimmt er alles Menschenmögliche. Nicht allein, dass er seinen Bruder Gundeberto (der Grund seiner Flucht) getötet hat, er
tötet auch Garibaldo (ob aus Notwehr, bleibt offen). Dennoch wird er letztlich die
Königskrone erlangen, da sein Charakter von tiefer Liebe zu seiner Frau und
seinem Sohn beseelt ist. Er verkörpert
den Widerspruch zwischen Tat und Absicht. Scholl
glänzte vor allem in seiner Lamento-Arie zu Beginn des dritten Aktes: „Mit
heiserem Murmeln.“ Überhaupt gehörte sein lyrisches Timbre in den beiden
Duetten mit Rodelinda (2. und 3. Akt) zum Eindrucksvollsten dieses Abends.
Grimoaldo (Tenor: Martin
Mitterrutzner) wiederum ist Usurpator der Langobardenkrone, wobei er
über Leichen geht, aber auch mit echten Emotionen und Gefühlen behaftet. Er
schwankt zwischen wahrer Liebe zu Rodelinda und unbedingtem Macht- und Eroberungsstreben.
Er ist zerrissen von Eifersucht, Hass, Liebe und rationalem Machtkalkül,
wobei seine gute Seite schlussendlich siegt und die Krone an Bertarido überträgt.
Mitterrutzner steigerte sich von
Arie zu Arie. Er verstand es ausgezeichnet, seine Stimmungswechsel sängerisch
in Szene zu setzen und glänzte vor allem in seiner „Schlafarie“ Ende des 3. Aktes, die ihn beinahe das Leben
kostet.
Als vierte Person in diesem Familiendrama sticht Garibaldo (Bassbariton: Božidar Smiljanić) heraus. Er gehört zu den unverbesserlichen Zynikern und unreflektierten Schurken. Sein Ziel besteht lediglich darin, als lachender Dritter den Thron zu besteigen, wobei ihm alle Mittel recht sind. Er ist denn auch der Einzige, der in dieser Oper sterben muss, was gleichzeitig auch den Mord durch die Hand Bertaridos rechtfertigt. Smiljanićs lyrischer Bass passte nicht immer zur Rolle des Bösewichts, was er allerdings durch große schauspielerische Leistung absolut auszugleichen vermochte.
Auch die übrigen Personen wie Eduige (Alt: Katharina Magiera), die Schwester
Bertaridos und eigentlich Grimoaldo versprochen, Unulfo (Countertenor: Jakub Józef Orliński), eine Art
Doppelagent, zwischen Grimoaldo und Bertarido stehend, sich aber am Ende für
Bertarido entscheidend, und vor allem Flavio (Schauspieler: Fabián Augusto Gómez Bohórquez), der Sohn
Rodelindas und Bertaridos, der in dieser Operninszenierung zu einer Schlüsselfigur
wird, sind ausgesprochen eigenständige Charaktere.
Magieras erotisch, abgründig gefärbte Altstimme wechselte gekonnt
ins Lyrische, als sie, geläutert vom Intrigenspiel, auf die Seite des Guten
wechselt. Orliński geriet mit seinen
wenigen Auftritten (er sang lediglich zwei Arien, die aber kraftvoll und
artistisch) zum Liebling des Publikums und erntete verdienten Zwischenapplaus. Bohórquez, aus dessen Perspektive das
unheilige Handlungsgeschehen gewertet wurde, war ständig präsent, malte seine
ungelösten Konflikte auf einen Block (mit Kreidestrichen an die Häuserwand projiziert)
oder erlebte leibhaftig die bösen Geister (sechs Maskenfiguren), die ihn quälten
und demütigten. Eine fabelhafte Idee, die der Oper ein tiefenpsychologisches
Image von ungeheurer Eindringlichkeit verschaffte.
v.l.: Martin Mitterrutzner (Grimoaldo), Andreas Scholl (Bertarido) |
Böse Geister, stummes Kinderleid – ein tief erschütterndes Familien Feedback
Bühnenbild und Kostüme mischten die englische Architektur
des 18. Jahrhunderts (ein Haus im Georgianischen Stil – Georg I war bis 1727 König
von England und bestimmte wesentlich den Baustil seiner Zeit) mit der aristokratischen
Garderobe des 20./21 Jahrhunderts (zeitlos klassische Anzüge sowie Damenroben).
Schwarz und weiß bildeten die Grundfarben, mit blutroten Accessoires, was durch geschickt
eingestreute Lichteffekte und Schattenspiele zu unterschiedlichsten Farbnuancen
führte. Die Choreographie des Flavio und der Horrorgestalten, die die
handelnden Personen im Kopf des Kindes verkörperten, war auf den inneren
Monolog des Kindes angelegt und gab somit dem Narrativ der handelnden Personen
ein seelisches und zutiefst erschütterndes Feedback. Die so erzeugte handelnde Oberfläche wurde
durch die Rolle des Flavio ebenso zu einer hintergründigen Kulisse menschlicher
Abgründe wie menschlicher Größe.
Die Musik trug hierzu die entsprechenden Stimmungen bei. Unter
dem sicheren Dirigat des Händel- und Barockspezialisten Andrea Marcon, der die historisch informierte Aufführungspraxis
präferiert, gestaltete das 32-köpfige Orchester (übrigens mit wenigen Ausnahmen
Mitglieder des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters) auf historischen
Instrumenten (darunter Barockflöten, Barockoboe, Barockfagott und Naturhörner) einen
berauschenden Klanghintergrund, perfekte Secco- und Accompagnato-Begleitungen
(Continuo: Alina Ratkowska, Andrea Marcon am Cembalo, Daniele Camiti an der Laute und der
Barockgitarre, Kaamel Salaheldin am
Violoncello), aberwitzig schnelle Koloraturpassagen und herrliche Intermezzi.
Mitte: Jakub Józef Orliński (Unulfo), Maskenfiguren |
Statt Erlösung ein Horrortrip
Eine Besonderheit dieser Inszenierung ist das Lieto fine. Eigentlich sollte das
Publikum zufrieden mit der Welt entlassen werden, ein Prinzip in Händels Opern,
aber auch ein Pflicht zu Zeiten des Barock und der herrschenden Königreiche.
Ganz anders hier.
In einer hinreißenden Coda (Rodelinda, Bertarido und Flavio
werden eine glückliche Familie, Grimoaldo und Eduige ein Liebespaar, die
Königreiche werden einvernehmlich aufgeteilt, Unulfo behält seine angestammte Rolle,
diesmal als Freund und Lakai Bertaridos) singen alle ihren hymnischen
Schlusschor. Aber einer fehlt. Es ist Flavio, den die bösen Geister immer noch
verfolgen. Stumm zeigt er auf sie, mit flehendem Blick auf Eltern und Verwandte. Aber
keiner beachtet ihn. Er bleibt allein mit seinen familiären Traumata. Er, der durch
die Hölle der Geißelnahme und Morddrohung Garibaldos gehen, die Mordforderung
seiner Mutter an Grimoaldo, die Doppelgesichtigkeit seines Vaters sowie die psychischen
Gewalt seines Stiefvaters Grimoaldo erleben musste. Wie sollen sich solche Wunden
schließen?
unten v.l.: Božidar Smiljanić (Garibaldo), Katharina Magiera (Eduige), Fabián Augusto Gómez Bohórquez (Flavio) oben: Lucy Crowe (Rodelinda) |
Hier gibt es kein Deus
ex machina, keine Erlösung. Dieses Dramma
per musica muss offen bleiben und wird durch diese Inszenierung zu einem
Horrortrip, der heute noch in vielen modernen Familie seinen Niederschlag
finden könnte.
Eine Opernpremiere, die auf die ungeteilte Zustimmung des Publikums stieß. Brausender Beifall für alle ohne Ausnahme. Die kommenden sieben Aufführungen (die letzte am 08. Juni) sollte man als Opernfan keineswegs versäumen.
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