Sonntag, 16. Juni 2019


The Medium (1946), Oper in zwei Akten von Gian Carlo Menotti (1911-12007) und Satyricon (1973), Oper in einem Akt von Bruno Maderna (1920-1973), Premiere und Frankfurter Erstaufführungen, Bockenheimer Warte, 15.06.2019

v.l.: Louise Alder (Monica), Meredith Arwady (Madame Flora/Baba), Marek Löcker (Toby)
Fotos. Barbara Aumüller 



Ein Horror im Stile des Theatre du Grand Guignol


Zwei Opern, die eigentlich gar keine sind, zwei Handlungen, die kaum unterschiedlicher sein könnten, zwei Komponisten, die in Stil und Charakter Welten trennen. Und dennoch ein Opernabend, der alle Erwartungen an eine Oper, an Musik, Handlung und Spannung vollauf erfüllte.


Zwei circa einstündige Musiktheater, The Medium, 1946 in New York uraufgeführt, von Gian Carlo Menotti (1911-2007), und Satyricon, 1973 in Scheveningen erstmals zu erleben, von Bruno Maderna (1920-1973), präsentierten eine Stil- und Themenvielfalt des 20. Jahrhunderts mit Blick auf die Gegenwart, die uns auch heute noch den gesellschaftlichen Spiegel vorhält, was Lebenssinnfragen, Glaubensfragen und vor allem auch Grundfragen von Angst, Verlust, Liebe, Hass und Einsamkeit anbelangt.

The Medium, eine Tragödie, deren Text vom Komponisten selbst stammt, entpuppte sich in dieser Inszenierung als psychosoziales Drama im Stile des Theatre du Grand Guignol, ein von 1897 bis 1962 bestehendes Theater im Pariser Vergnügungsviertel Pigalle, das sich auf Horror spezialisierte und zwischen Entsetzen und Komik, Ohnmacht, Angst und Lachen changierte.

In The Medium ist es ein Trio, das über den Weg von Séancen schicksalsgebeutelte Menschen (das Ehepaar Gobineau mit Barbara Zechmeister, Sopran, und Dietrich Volle, Bassbariton, sowie Mrs. Nolan mit Mezzosopranistin Kelsey Lauritano) schamlos betrügt, durch einen enigmatischen Zwischenfall (eine kalte Hand scheint über die Stirn der Hauptprotagonistin zu streifen) aber völlig aus der Bahn geworfen wird. Baba, alias Madame Flora, ihre Tochter Monica und der stumme Ziehsohn Toby, ein in Budapest aufgelesener stummer und fast verhungerter „little gipsy“, finden ein katastrophisches Ende: der Horror pur.

Einfach nur genial, was die Frankfurter Regie unter Hans Walter Richter, Kaspar Glarner (Bühne), Cornelia Schmidt (Kostüme), Jan Hartmann (Licht) sowie Mareike Wink (Dramaturgie) da auf die Bühne gebracht haben. Eine Theateratmosphäre in einem schummrigen spätviktorianischen Raum, spärlich möbliert, die Personen biedermeierlich gekleidet, sorgte für den optischen Rahmen. Die Zeit könnte das England der 1940er Jahre abbilden. Aber auch heutige Zeiten sind nicht ausgeschlossen.

Meredith Arwady (Madame Flora/Baba)

Starker Text mit effektvoller Filmmusik


Baba, von der amerikanischen Altistin Meredith Arwady mit einer Wagnerdramatik und einer schauspielerischen Agilität von seltener Brillanz verkörpert, bildete den Kern dieser Tragödie. Sie wandelt sich vom geldgierigen, geschäftstüchtigen Hausdrachen zur bigotten, gottesfürchtigen Irren, die diverse Stimmen zu hören scheint und glaubt, allein Gott könne ihre geschundene Seele retten. Arwady zog alle Register ihres charakterlichen Wendevermögens und verstand es, körperlich wie stimmlich den Fokus des Grauens bis zum bitteren Ende zu steigern. Sie erschießt den von ihr geliebten, sich selbst richtenden Toby mit dem Ausruf „Ich habe den Geist getötet!“ und stürzt sich und gleichzeitig ihre Tochter in ein auswegloses Unglück.

Die Sopranistin Louise Alder als Monica verstand es, im aggressiven gewalttätigen Dunstkreis ihrer Mutter mit lyrischem Ton zwischen allen Personen (einschließlich den Séance-Beisitzern) zu vermitteln und in der wunderbaren Walzer-Arie: „Monica, Monica, can´t you see …“ Sehnsüchte zu träumen. Der Dominanz ihrer Mutter muss sie aber weichen. Nicht allein, dass Toby, ihr Liebesverlangen, durch die Hand ihrer Mutter stirbt, kann sie sich doch auch ihren Wunsch nach Freiheit und Welterfahrung nicht erfüllen. Ihr Schicksal bleibt offen, aber ohne reale Chance.

Der stumme Toby wiederum, von Marek Löcker eindrucksvoll gespielt, befindet sich zwischen allen Stühlen. Er wird sowohl von Baba als auch von Monica instrumentalisiert und sieht lediglich im Suizid (er erhängt sich) die finale Lösung.

Musikalisch ein Spiel mit Effekten, in der Wort und Ton quasi symbiotisch zusammenspielen. Nikolai Petersen und seine vierzehn Instrumentalisten aus dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester leisteten hier eine lebendige und äußerst präzise Zuspielung für die SängerInnen, eine Feinabstimmung ohne Fehl und Tadel. Zwar verlöre The Medium auch ohne Musik, oder lediglich mit einfacher Klavierbegleitung nicht seinen Reiz, denn der Text allein schon ist ein literarisches Kleinod. Aber halten wir es mit Menotti selber, der lieber ein „Puccini für Arme“ sein will als „ein Boulez für Reiche“. Mit anderen Worten: Menotti schreibt entgegen der damaligen Avantgarde tonal und kantabel, womit er sich zwar der Zeitkritik aussetzte, aber musikästhetisch seinen Werken zu großer Popularität verhalf. Allein The Medium wurde 1947 auf dem New Yorker Broadway mehr als 200-mal aufgeführt.

v.l.: verdeckt ein Tänzer, Mikołai Trąbka (Eumolpus), Ambur Braid (Scintilla), Peter Marsh (Trimalchio), Theo Lebow (Habinnas), Karen Vuong (Criside), zwei Tänzer am Boden

Ein Selbstporträt des Komponisten


Bruno Maderna gehörte in die Gruppe der Kritiker, denn er war Teil der Avantgarde der Nachkriegszeit, Mitgründer des ersten Elektronischen Studios in Italien, das Studio di Fonologia Musicale (1956), und seit 1949 regelmäßiger Gast, Dozent und Dirigent auf den Internationalen Darmstädter Ferienkursen. Eigentlich Elektroniker, Serialist mit starkem kantablem italienischem Flair, gehört Satyricon zu seinen Ausreißern, und das im positiven Sinne. Sein Freund Luciano Berio nannte es zu recht „ein bisschen wie Dein Portrait“ und Pierre Boulez sah in der Person Madernas einen „kleinen Dickhäuter“ mit „großer Intelligenz, Feinheit, Schärfe, Humor und Fantasie.“ All das charakterisiert Satyricon, ein Spätwerk mit autobiographischen Zügen. Ein Rückblick ohne Zorn, dafür mit viel Ironie, Humor, Witz und einem Schuss Sarkasmus. Aber nie den Zeigefinger hebend, sondern lediglich die Gesellschaft so wie sie ist widerspiegelnd.


Mit Satyricon schafft Maderna ein Grande-Bellezza-Szenario – wer denkt nicht an Paolo Sorrentinos gleichnamigen Film von 2013 –, das die Dekadenz der postmodernen Gesellschaft auf die Schippe nimmt und den desillusionierten, oberflächlichen Background der Hedonisten gnadenlos offenlegt. Dabei bezieht er sich sinnigerweise auf einen kryptisch erhaltenen Text von Titus Petronius (14-66) aus der Zeit der Herrschaft Kaiser Neros (27-68) im Jahre 60 n.u.Z., und beschreibt in 16 Nummern und fünf elektronischen Zuspielungen ein lukullisches Bacchanal mit durchgedrehten Figuren, die auch heute noch existieren könnten.

Ein größenwahnsinniger, von Unbildung gezeichneter Neureicher Trimalchio (Peter Marsh, Bariton), seine Ehefrau Fortunata (Susanne Gritschneder, Mezzosopran), ein Luxusweib mit Verführungsabsichten, Habinnas (Theo Lebow, Tenor), ein Steinmetz, Zyniker und Nihilist, dem angenehmen Leben aber nicht abgeneigt, Scintilla (Ambur Braid, Sopran), ein Groupie und nebenbei Habinnas Ehefrau, Criside (Karen Vuong, Sopran), eine alle Menschen und Tiere, aber sich selbst am meisten liebende Romantikerin und last but not least Eumolpus (Mikołai Trąbka), ein Philosoph ohne Tiefgang, lateinisch fabulierend, ohne Erkenntniswertes von sich zu geben. Ein Schwätzer auf hohem Niveau eben. Dazu drei Tänzer, Sklaven des Trimalchio, für alles zu haben und ihm nolens volens willig.

v.l.: Theo Lebow (Habinnas), Mikołai Trąbka (Eumolpus), Tänzer, Susanne Gritschneder (Fortunata), Karen Vuong (Criside), Tänzer, Beine von Ambur Braid (Scintilla) und Tänzer

Ein immer noch gültiges Dionysisches Bacchanal


Die Regie unter Nelly Danker, Sami Bill (Video), Stephanie Schulze (Dramaturgie), dazu Kaspar Glarner (Bühne), Cornelia Schmidt (Kostüme) sowie Jan Hartmann (Licht), konstruierte aus dem frei verfügbaren Material (Maderna stellt die Zusammensetzung der Nummern frei) ein dramaturgisches Bacchanal, dionysisch auf ein testamentarisches Finale hinauslaufend, das jeglichen Existentialismus, Idealismus und Materialismus auf die Schippe nimmt. 

Trimalchio, der Schlemihl, lässt seine eigene Beerdigung inszenieren und verspricht Freiheit, Reichtum und Unabhängigkeit, wenn er schon zu Lebzeiten so geliebt werde wie nach seinem Tod. Schrille Kostüme in antiker Hollywood-Version, dazu eine pyramidale Freitreppe als Mausoleum, ein weißer Sarg vor einem Paravent, auf dem sich Orgien abspielen und dazu vier symbolische Kunst-Gegenstände, ein Nashornkopf (für Criside, die Tierliebe), eine Weltkugel (für Eumolpus´ philosophische Eskapaden), ein steinerner Fuß (Habinnas als Skulpteur) und eine Eierschale für Scintilla oder auch Fortunata – man weiß es nicht so recht. Nicht zu vergessen ein ewig laufendes Fließband mit endlos vielen Geschenken á la Rudi Carrells in den 1970er Jahren beliebter Unterhaltungsshow Am laufenden Band. Insgesamt viel Tanz und Bewegung mit herrlich verfremdeten Stimmen und gekonnten Effekten.

Maderna rühmte sich, dass in diesem Werk keine einzige Note von ihm sei. Ganz so ist es zwar nicht. Aber womit er recht hat ist, dass, abgesehen von den elektronischen Einspielungen im Stile der musique concrète eines Pierre Schaeffer (Natur-, Tier und Technikgeräusche), die gesamte Welt der Musik von Peter Tschaikowskis b-Moll Klavierkonzert, Willibald Glucks Orpheus in der Unterwelt, Leonard Bernsteins Westside Story (I feel pretty) bis hin zu Giacomo Puccinis Liebesduett mit Mimi und Rodolfo aus La Bohème, dem Triumpfmarsch aus Guiseppe Verdis Aida, Richard Wagners Rheingold und Götterdämmerung und noch Vielem mehr zwischen Kurt Weill, Bert Brecht und Richard Strauss, von ihm zitiert und mit entsprechenden Anspielungen versehen wird. Maderna outet sich hier als Meister der Collage mit nahezu unerschöpflicher Kenntnis der Musikgeschichte, der Gattungen und der geistigen Strömungen.

Ob Satyricon eine Oper, ein Musical (Maderna nennt es auch „Neo-Musical“), ein Musiktheater oder gar ein Pop-Art-Happening auf hohem Niveau ist, die Begriffswahl bleibt jedem selbst überlassen. Jedenfalls forderte die Musik viele Lacher heraus, vor allem dann, wenn Trimalchio wieder einmal dumpf und dreist sein Halbwissen zum Besten gab und seine Anhänger ihm an den Lippen hingen. Unter der Leitung von Simone Di Felice (mit achtzehn Instrumentalisten) wurde dieser einstündige Parforceritt durch die menschlichen Abgründe auch ein Lehrstück für musikalische Glaubwürdigkeit. Das leere Geschwätz der gehobenen Gesellschaft und die Demonstration der Sinnlosigkeit ihres Daseins wurden musikalisch durch das ausschweifende Zitieren großartiger Musik ergänzt, einer Musik, die aber ebenso der inhaltlichen Leere und missbräuchlichen Verramschung anheimzufallen drohte wie die typische Hintergrundmusik im Supermarkt. Es ist Madernas weise Sicht auf die sich anbahnende Postmoderne, die zwar den Stilpluralismus auf ihre Fahne geschrieben hat, dabei aber Gefahr läuft, den Verwertungsgesetzen des Marktes durch Gehaltverlust und Anpassung zu erliegen.

Ein Doppelopernabend der sich absolut lohnte. Nächste Vorstellungen: 17., 20., 22., 24., 27. und 29.06.

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