Rheingau Musik Festival: 22.06. – 31.08.2019
Gewandhausorchester
Leipzig, Leitung Andris Nelsons,
mit Anton Bruckners 8. Sinfonie c-Moll WAB 108 (2. Fassung von 1890), Friedrich-von
Thiersch-Saal, Wiesbaden, 22.08.2019
Andris Nelsons und das Gewandhausorchester Leipzig (Foto: Angar Klostermann) |
Eine Sinfonie, die die Geister erregt und scheidet
Anton Bruckner (1824-1896) gehört sozusagen zur Genstruktur des Gewandhausorchesters, dem ältesten Sinfonieorchester der Welt, gegründet 1743 von 16 Adeligen und Bürgern. Neben der Uraufführung seiner 7. Sinfonie 1884 (übrigens von größtem Erfolg beschieden), unter Arthur Nikisch, lag es allen bedeutenden Dirigenten der letzten 120 Jahre am Herzen, Bruckners Werk in ihr Repertoire aufzunehmen, darunter Otto Klemperer, Wilhelm Furtwängler, Kurt Masur, Herbert Blomstedt, Riccardo Chailly und, wie könnte es anders sein, Andris Nelsons (*1978), der seit der Spielzeit 2017/18 das Gewandhausorchester unter seine Fittiche genommen hat und zurzeit alle seine Neun Sinfonien beim Label Deutsche Grammophon aufnimmt. Ein Besonderheit dabei: Er kombiniert die Bruckner-Sinfonien mit den Orchesterwerken Richard Wagners, der bekanntlich sein großes Vorbild war.
Die „Achte“ Bruckners hat von Anfang an die Geister erregt
und geschieden. Bereits die Erstfassung bzw. Urfassung von 1887 kam gar nicht
zur Aufführung, weil der Dirigent der Münchener Sinfoniker (Bruckner plante die
Uraufführung mit ihnen), Hermann Levi, das Werk rundweg ablehnte. Er bemängelte
die Instrumentation, die Nähe zur „Siebenten“ und die schablonenmäßige Form. Sie
sei ein „verschlossenes Buch“.
Bruckner fiel daraufhin in eine tiefe Depression,
bearbeitete die Sinfonie, kürzte sie um 164 Takte, schrieb Teile des Scherzos neu, änderte dessen Charakter,
ließ sich aber auch durch „gute Ratschläge“ dazu verleiten, das Werk zu
verschlimmbessern. Dennoch wird die zweite Fassung – sie kommt 1892 in Wien von
den Wiener Sinfonikern unter der Leitung Hans Richters zur Uraufführung – ein voller Erfolg. Der berühmte Liederkomponist
Hugo Wolf nannte sie die „Schöpfung eines Giganten“, das beste Werk des
Meisters. Dem Musikwissenschaftler Leopold Nowak (1904-1991) ist es zu
verdanken, dass die heute gespielte 2. Fassung der Urfassung am nächsten kommt
und die „brucknerfremden Elemente“ weitgehend von ihm entfernt sind.
Immer noch dauert diese monumentale Sinfonie gut 85 Minuten.
Sie ist Bruckners längste Sinfonie. In vier Sätzen (Allegro moderato, 17 Minuten, Scherzo.
Allegro Moderato, 15 Minuten, Adagio,
30 Minuten und Finale, ca. 25
Minuten) entwickelt er eine Architektur der Moderne. Eine minimalistische Thematik,
die sich durch das gesamte Werk zieht, unterbrochen von immer wieder neu
ausgedachten Motiven, die sich in unendlicher Variation durch die einzelnen Sätze
fortspinnen.
Zusammengehalten wird die Komposition durch absolute Formstrenge
(Bruckner verwendet die Sonaten- und Rondoform im klassischen Stil) und klar
konturierte strukturelle Abschnitte, die vorwiegend durch heftiges Aufbäumen und
abrupte Abbrüche voneinander getrennt werden.
Die Instrumentierung ist stark an den Registern der Orgel
(Bruckner war hauptsächlich als Organist weltweit bekannt) orientiert. Das
heißt keine Mischung der einzelnen Klangfarben, sondern vielmehr ein
Nebeneinander der Instrumente. Mal Streicher, mal Bläser, mal die eine
Orchestergruppe, dann wieder eine andere. Selbst die Tutti und Solopassagen
wirken immer fein voneinander getrennt, ganz im Gegensatz zu Richard Wagner,
der den Mischklang, die Verbindung der Instrumente, präferierte.
Minimalmusik mit ungeheurer Dynamik und Spannung
Vieles an dem Werk scheint die Minimalmusik der
amerikanischen Avantgarde – Philip Glass, Steve Reich, La Monte Young – der 1970er Jahre vorauszunehmen. Die repetitiven
Strukturen, die Motivzellen, die langen Bögen. Unterschiede liegen allerdings
in der Dynamik. Bei Bruckner herrscht keine Kontinuität und
Spannungsvermeidung, sondern das Gegenteil ist der Fall: Die „Achte“ lebt von
ihrer Weite, ihrer gewaltigen Dimension, ihren ungeheuerlichen Steigerungen und
ihren dramatischen Abstürzen, was vor allem den Schluss des 1. Satzes charakterisiert,
der sich zunächst beschwörend mit Trompetenstößen aufbäumt, um dann leise
auszuklingen wie eine „Totenuhr“. Bruckner dazu: „ … wie wenn einer im Sterben
liegt, und gegenüber hängt die Uhr, die, während sein Leben zu Ende geht, immer
gleichmäßig fortschlägt …“
Natürlich knüpft Bruckner an die Motivstrukturen seiner 7. Sinfonie an, was im fünfteiligen
Rondo des Adagios mit seinen
aufstrebenden Quintolen und absteigenden Sextolen besonders hervorsticht. Die Reminiszenzen an Wagners Siegfried (Siegfried-Motiv), an Tristan
und Isolde, Parsifal und Tannhäuser scheinen ebenfalls seine
Kritiker in Wallung gebracht zu haben. Aber ein Adagio von solchen Ausmaßen und dieser motivischen Vielfalt ist davor nie geschrieben worden. Der Einsatz dreier
Harfen gehört ebenfalls zum Unikat in Bruckners Schaffen. Erst Gustav Mahler wagte es,
in seiner Dritten und Neunten Sinfonie daran anzuknüpfen.
Das Finale ist von
einer Kraft, das selbst die Hörgeräte im nicht ganz voll besetzten Friedrich-von-Thiersch-Saal
an ihre technischen Grenzen gerieten. Permanente Tinnitustöne störten doch
gewaltig die Blechbläser-Akkorde zu Anfang, die als Fanfaren für die Drei
Kaiser (Wilhelm I. von Preußen, Franz Josef und Alexander II., russischer Zar)
gedacht waren – Bruckner, in Oberösterreich geboren, widmete bekanntlich diese
Sinfonie seinem geliebten Kaiser Franz Josef.
Ein Ritt der Soldaten mit Tschingderassabum prägte dieses
Monumentum, erinnerte wieder an die Quintolen und Sextolen der vorhergehenden
Sätze und ließ die Dramaturgie bis an den Rand des Möglichen steigern. Unfassbar
die Durchführungspassage mit dem Stampfen der Pauken in Begleitung der gesamten
Streicher. Dazwischen der polyphone, fugenähnliche sakrale Abschnitt, der mit
einer fast schreienden verminderten Septe á la Beethoven in die Reprise
überleitete. Sie verklammerte noch einmal die Thematik des gesamten Werkes und führte
in der 13-taktigen Coda zu einem versöhnenden C-Dur Abschluss.
Andris Nelsons und das Gewandhausorchester Leipzig (Foto: Angar Klostermann) |
Ein Gewandhausorchester von nahezu 100 InstrumentalistInnen
präsentierte sich in Wiesbaden in voller Pracht und Herrlichkeit – ist man geneigt
zu schwärmen. Wuchtig wie das Werk präsentierte sich auch der Dirigent, Andris Nelsons, der durch weitestgehend minimale Bewegungen
ein Spiegelbild der Architektur der Sinfonie darbot. Mit einer Hand (er stützte
sich mit der linken Hand am Sicherheitsgeländer des Pults ab) verstand er es,
sein Orchester über fast eineinhalb Stunden in Hochspannung zu halten. Denn
diese Sinfonie lebt von ihrer Dynamik und der Brillanz der InstrumentalistInnen. Technisch wenig anspruchsvoll braucht es doch klangliche Perfektion und unglaubliches
Phrasierungsvermögen. All das bettete er in eine, trotz vierfach Fortissimo und
vierfach Pianissimo, angenehme dunkel-warme Klangfarbe. Herausragend dabei die über
60 Streicher im Trio des Scherzos,
ein Bittgebet an den Herrn, das
ihnen traumhaft-zart gelang.
Ein unvergesslicher Abend mit einem „Opus Magnum“ und einem
ganz besonderen Orchester. Zum letzten Mal gastierte es auf dem Rheingau Musik
Festival (RMF) im Jahre 2004. Man wünscht sich keine so lange Pause für die Zukunft.
Michael Hermann, der Intendant und Geschäftsführer des RMF, brachte dies auch
in seiner einleitenden Rede zum Ausdruck und versprach die regelmäßige Einladung dieses solitären Orchesters. Am 28.08. spielt das Gewandhausorchester
die 8.
Sinfonie auf den Salzburger Festspielen. Glücklich der, der es noch einmal
erleben darf.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen