Freitag, 27. September 2019


Ensemble Modern (Leitung: Pablo Rus Broseta) mit Holger Falk (Bariton) und Hermann Kretschmar (Klavier), Mozart Saal der Alten Oper Frankfurt, 26.09.2019

Im Rahmen des Musikfestes „Eroica – Musik als Bekenntnis“, 15.09.-28.09.2019

Le soldat inconny (Georges Aperghis): Am Flügel: Hermann Kretschmar, Sänger: Holger Falk, Dirigent: Pablo Rus Broseta, Ensemble Modern             (Foto: Ensemble Modern/Wonge Bergmann)


 Die Moderne im Fluss

Neue Musik war immer schon Ausdruck der flüchtigen, fließenden Moderne, in der alte Systeme aufgelöst, Altbewährtes infrage gestellt und historisch gewachsene Werte immer wieder neu verhandelt werden müssen. Die drei im Rahmen des Musikfestes Eroica auf dem Programm stehenden Werke sollten dies auf eindrückliche Weise bestätigen: Liquid Symmetries für 15 Instrumente (2013) vom spanischen Komponisten Francisco Coll (*1985), locus … doublure … solus für Klavier und Ensemble (2001) von der österreichischen Komponistin Olga Neuwirth (*1968) und Le soldat inconnu für Bariton und Ensemble (2013) vom französischen Komponisten Georges Aperghis (*1945).


Francisco Coll

Francisco Coll beruft sich in seinem kompositorischen Schaffen auf den polnischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Baumann (1925-2017), der persönlich die Shoah erlebte und vor diesem Hintergrund die Moderne in die leichte und die schwere (Postmoderne) einteilt, und dabei ihren Hang zum Totalitarismus und Fundamentalismus herausstreicht. Ihre liquiden Lebensverhältnisse führten zur permanenten Bildung und Auflösung von Normen, zur Bildung kleiner Gemeinschaften, die sich mit universalistischem Anspruch auf die Menschenrechte beriefen. Die Folge seien Anerkennungskriege, Identitätskämpfe, Ausgrenzung und Fundamentalismus. 
Auch Olga Neuwirth unterstützte im Vorgespräch (Moderation: Jim Igor Kallenberg) Baumanns Ansatz und meinte, dass heute bereits die Katastrophe präsent sei: „Der Mensch lernt nichts!“, so ihr Fazit.

Zurück zu Coll und Liquid Symmetries. In der Form des barocken Concerto grosso erwies sich dieses viersätzige, knapp 13 Minuten dauernde Werk als eine kraftvolle, aufregende Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Verflüssigung. Schlagkräftig, laut wie auf den Straßen der Metropole, rhythmisch treibend und immer wieder unterbrochen durch Solo-Fragmente von Oboe, Horn, Posaune und Trompete, dann wieder Tiergeschrei wie aus einem Zoo-Gefängnis, schloss das dichte, höchst spannende Stück mit einem gewaltigen Tutti-Unisono der 15 Instrumentalisten und einer doch noch versöhnlichen Coda einer Flöte mit Violinduett und Glockenklang. Liquidität ja, aber auch Sinn für Hoffnung und Zuversicht. Man möchte es dem noch jungen Komponisten gönnen.

Liquidität, Schattenhaftigkeit und Ungreifbarkeit


Olga Neuwirth

Olga Neuwirths Klavierkonzert, denn das ist im eigentlichen Sinne locus … doublure … solus, entspringt ebenfalls der Idee einer fließenden Moderne. Sie allerdings beruft sich hierbei auf den fast gleichnamigen Roman Locus solus (1914) des französischen Schriftstellers Raymond Roussel (1877-1833), in dessen Werk der Sprachreichtum, das ständige Vorwärtswuchern dominiert, was sie zu dieser Komposition inspiriert habe. Statt Sprachreichtum Klangreichtum. In sieben unterschiedlichen Sätzen, deren Reihenfolge, ausgenommen der Ecksätze, beliebig ist, schafft Neuwirth für 20 Instrumentalisten und einem Klaviersolisten (Hermann Kretschmar) einen „unerbittlichen Kampf zwischen dem Verbinden und Zerstückeln, zwischen Fortsetzung und Stillstand, Kontinuität und Bruch, Bewusstsein und Vergessen, Altem und Neuem“ (Neuwirth).

Eigentlich mag sie das Klavier nicht, gibt sie im Vorgespräch zu, weil dieser "Kasten" so unbeweglich und statisch sei. Dennoch hat sie sich für dieses Unternehmen entschieden und dafür den „Kasten“ mit E-Bows (ein Elektrobogen, der die Saiten endlos zum Schwingen bringt) präpariert und zusätzlich einen Sampler installiert, der Klavier und Celesta vierteltönig „verstimmt“ zum Hören bringt. Doublure hat für sie die Bedeutung von Liquidität, Schattenhaftigkeit und Ungreifbarkeit.

Tatsächlich schien kein Ton zum anderen zu passen, clusterähnlich wirkten die Klavierpassagen und dennoch hörte man Tänze (1.Satz), Märsche, martialische Tonfolgen mit Militärtrommelbegleitung (5. Satz) und unglaublich virtuose Pianopartien, von flirrenden Glissandi der Streicher und Mundharmonika begleitet (3. Satz). Ein March funèbre mit Tempowechsel voller Ironie und Witz (6. Satz) sowie eine Klavierkadenz mit langem Trommelwirbel und aufreizendem Tutti im dreifachen Forte (7. Satz) beendete mit einem höllisch lauten Tamtam-Schlag die Attaca auf die Moderne und die Postmoderne. Großes musikalisches Theater mit einem sichtlich begeisterten Ensemble Modern und einem Pianisten, Hermann Kretschmar, der wieder einmal seine perfekte Tastentechnik und exorbitante Musikalität bewies.

Wechselspiel zwischen Schrecken und Burleske


Georges Aperghis

Georges Aperghis´ Le soldat inconnu (Der unbekannte Soldat) für Bariton und Ensemble (hier elf an der Zahl) hat ebenfalls eine literarische Grundlage. Einerseits bezieht es sich auf Franz Kafkas Babel (1917), woraus Aperghis zitiert, andrerseits auf Igor Strawinskys Die Geschichte des Soldaten (1916), an deren Form und Idee der Komponist sich weitgehend orientiert.

Elf InstrumentalistInnen des Ensemble Modern kommunizieren mit dem Soldaten (Holger Falk, Bariton), der die Zerstörung des Turms zu Babel beweint, beschreit und belacht. Er scheint überrascht davon, noch am leben zu sein und beginnt mit einem Sprachsalat, fragmentierte Worte, Silben und Phoneme in mehreren Sprachen. Dann verfällt er in einen Trauergesang, man hört: „I lost my body“, begleitet von zwei Bassklarinetten und Kontrabass, und dann ein lautes Rufen: „Vivo!“.

Holger Falk lieferte ein beeindruckendes Portrait eines von den Kriegserfahrungen gezeichneten Soldaten. Sein Gesang, seine Theatralik, sein schauspielerischer Einsatz ließ die Verzweiflung des Traumatisierten lebendig werden. Instrumente und Gesang lieferten ein psychologisches Wechselspiel zwischen Schrecken und Burleske. Das wilde "Ha, Ha, Ha!" und das laut gerufene "Survival!“ ließ die Adern erstarren. Keine Befreiung, keine Hoffnung, nur blanker Überlebenstrieb.

Babel, ein Sinnbild Europas?

Ist es die Geschichte Europas, die hier erzählt wird? Aperghis, der diese Frage in einem Interview mit Francine Lajournade-Bosc nach der Uraufführung dieses Werks 2014 gestellt bekam, antwortete dazu: Wir wissen wenig über Europa auch darüber, wohin dieses Europa gehen wird. „Hier ist es nur ein Soldat, der verrückt geworden ist und sich an den Bau von Babel erinnert.“  Tatsächlich erscheint diese unglaublich emotionale ausdrucksstarke Komposition zunächst eine zeitlose Allegorie auf die Absurdität aller Kriege zu sein, die lediglich Trümmer und Traumata hinterlässt. Gleichzeitig erzählt sie auch viel von Europa, von einem Babylon á la Kafka, das zunächst mit Notwendigkeit erbaut wurde, dann immer mehr Eifersucht weckte, zu Kriegen und Kämpfen führte und Generationen später die Gründe des Baus in Vergessenheit gerieten ließ. Man kämpfte immer noch um das Bessere, Höhere, Fortschrittlichere, wusste aber nicht mehr warum. „Es sind ganze Generationen junger Menschen, die singend in den Krieg gezogen sind und heute die Friedhöfe des Planeten bevölkern“ (Aperghis).

Ein beeindruckender Abend mit geistreichen Komponisten, einem wunderbaren Ensemble Modern unter der unauffälligen aber einfühlenden Leitung Pablo Rus Brosetas, und sehr bewegenden Werken. Das Publikum dankte es mit langem Beifall.

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