Der Nussknacker (1892),
Ballett von Tim Plegge mit der Musik
von Peter Tschaikowsky (1840-1893) und Arrangements von Ralph Abelein, Uraufführung im Staatstheater Wiesbaden, 19.10.2019
Spiel mit den Puppen: Vanessa Shield (Marie), Puppen-Ensemble (Fotos: Regina Brocke) |
Eine Welt zwischen Fantasie und Realität
Man wird schon beim Betreten des großen Saals des Staatstheaters Wiesbaden mit Weihnachtsliedern von einer Hammondorgel (Ralph Abelein) empfangen, leicht verfremdet, verjazzt und improvisatorisch umspielt. Beschwingt beginnt auch die Ouvertüre mit dem Hessischen Staatsorchester Wiesbaden (Patrick Lange) und gleich befindet man sich in einem kaum ausgeleuchteten Raum mit überdimensioniertem Schrank und vielen herumspielenden skurrilen Puppen. Mittendrin Marie (Vanessa Shield) in gelbem Kleidchen und rotem Gürtel. Es ist ihre Welt. Die Welt der Fantasie, des Spiels und der kindlichen Realität. Die Wirklichkeit aber tritt gleich zutage.
Es ist Weihnachten. Die Vorbereitungen zum Fest sind voll Im
Gange. Familie Silberhaus (Sayaka Kado
als Mutter und Taulant Shehu als
Vater sowie der Bruder Fritz, getanzt von Jorge
Moro Argote) ist aufgeregt und very busy. Sie erwartet Gäste, Oma Martha (Masayoshi Katori), Tante Victoria (Jiyoung Lee) und Onkel Leopold (Nicolaus Frau), die sehr bald
eintreffen. Über allen Personen scheint Herr Drosselmeier (Ramon John) zu schweben. Er ist eine Art Magier, der die Situation
im Griff hat. Mal nimmt er die Sicht des Mädchens, mal die der Anderen ein. Er
setzt Impulse, wirkt aber auch hemmend und verkörpert so irgendwie die
vertrackte Welt zwischen Schein und Sein (Er ist es auch, der Marie den Nussknacker
schenkt und in die Traumwelt führt).
Unglaublich dynamisch, und vital geht es
her. Zwischendurch eine Jazzeinlage der Hammondorgel aus den Golden Twenties,
die Publikum wie Tänzer und Tänzerinnen swingen lässt.
Tim Plegge (Choreographie)
und sein Team, allen voran Patrick Lange
(musikalische Leitung), Frank Philipp Schlößmann (Bühnenbild), Judith Adam (Kostüme), Tanja Rühl (Licht) und Karin Dietrich (Dramaturgie), haben es
geschafft, einem scheinbar abgedroschenen, vielfach verhunzten und wohl
meistgespielten Ballett vor Weihnachten wieder eine echte Seele einzuhauchen.
Spritzige Musik mit perfekten Soloeinlagen von Harfen und Bläsern, farbenreiche
Kostüme von grenzenlosem Einfallsreichtum, wechselnde Bühnenbilder voller Kleiderschränke,
die immer wieder Unerwartetes ausspucken oder verschwinden lassen, Lichtspiele,
die das Dunkle wie Helle dieser Reise durch die fantastischen Kinderwelten
eindrucksvoll widerspiegeln und nicht zuletzt die höchst abwechslungsreiche,
sehr flotte und den Charakteren der Tänzer und Tänzerinnen auf den Leib geschnittene Choreographie:
All das zusammengenommen machte aus dieser Uraufführung ein bleibendes Erlebnis für
Jung und Alt.
Das Psychogramm eines Kindes
Bekanntlich stammt die Geschichte des Nussknackers
(vollständig: Nussknacker und Mäusekönig)
aus der Feder E.T.A. Hoffmanns (1776-1822). Allerdings benutzte Peter Tschaikowsky
für sein Komposition die Version von Alexandre Dumas (1802-1870), und fasste dieses
Weihnachtsmärchen in ein Ballett, das am 18. Dezember 1892 im Mariinski-Theater in Sankt Petersburg, wenige Monate vor seinem plötzlichen Tod, uraufgeführt
und seitdem zu einem Publikumsrenner wurde.
In zwei Akten geht es ursprünglich um die kleine Mascha, die zum Weihnachtsabend
vom Patenonkel Drosselmeier einen Nussknacker zum Geschenk bekommt. In der
Nacht träumt sie von einer siegreichen Schlacht des Nussknackers gegen die Mäuse.
Dieser verwandelt sich daraufhin in einen Prinzen, der die Träumerin in das Reich des Schokoladenbergs entführt, wo
auf dem Schloss der Zuckerfee ein prunkvolles Fest gefeiert wird. Am Schluss
erwacht Mascha aus ihrem herrlichen Traum und alles ist so wie immer.
Aus dieser Geschichte konstruiert Tim Plegge ein Psychogramm
von dem Mädchen Marie, das zwischen Traum und Wach-Sein, zwischen Albtraum und
Realität, zwischen Konflikt und Lösung zu wechseln scheint. Herr Drosselmeier wandelt
sich vom Patenonkel zum Magier. Er ist ständiger Begleiter von Marie, knüpft
Schicksalsknoten und löst sie wieder. Er fasziniert und erschreckt zugleich.
Marie braucht ihn sowohl in ihren Träumen, als auch gegen ihren eifersüchtigen Bruder Fritz.
Daniel Myers (Nussknacker), Ratten-Ensemble |
Der Mäusekönig und seine Truppe sind in dieser Inszenierung ein
Rattenhaufen mit der Oma Martha als deren Königin (In dieser Doppelrolle glänzte
Masayoshi Katori nicht allein als Tänzer,
sondern auch als Charakterdarsteller). Das Heer des Nussknackers sind die
zahlreichen Puppen, die Marie gesammelt hat. Eher Klabautermänner und Kobolde. Der
zweite Akt, die Fahrt durch die Traumwelten von Schokolade und Süßigkeiten,
besteht aus der Fortsetzung der kindlichen Phantasmagorien (mit Pferd, Flugmaschine, Rollschuhen und grünen Indianern) und der
psychologischen Verarbeitung der realen Konflikte mit Eltern, Verwandten und Bruder.
Marie steht förmlich zwischen den Stühlen. Alle verleiden ihr die Puppen, den geschenkten Nussknacker und überhaupt alles, was ihr lieb geworden ist. Das Weihnachtsfest, alljährlicher Höhepunkt familiären Krieg-und-Friedens wird zum Gradmesser der kindlichen Psyche. Marie flüchtet sich in ihre Welt der Vorstellungen. Aber auch das ist trügerisch. Denn ihr Traum wird spätestens im Blumenwalzer zum Alb. E.T.A. Hoffmanns Neigung, den unvollkommenen Menschen und die seelenlose Maschine auf der Suche nach Selbstbestimmung und Kreativität gegenüber zustellen (siehe dessen Der Sandmann und Die Automate), wird für Marie zum Knackpunkt ihrer Entscheidung. In achtzehnfacher Duplizität umtanzen sie ihre Ebenbilder mit Nussknackermasken, um sie in die ewig zuckrige Welt des Traums zu verführen. Hier ist die Grenze ihrer Vorstellung erreicht. Marie entscheidet sich für die mangelhafte Realität und steigt aus ihrer perfekten Traumwelt aus.
Marie steht förmlich zwischen den Stühlen. Alle verleiden ihr die Puppen, den geschenkten Nussknacker und überhaupt alles, was ihr lieb geworden ist. Das Weihnachtsfest, alljährlicher Höhepunkt familiären Krieg-und-Friedens wird zum Gradmesser der kindlichen Psyche. Marie flüchtet sich in ihre Welt der Vorstellungen. Aber auch das ist trügerisch. Denn ihr Traum wird spätestens im Blumenwalzer zum Alb. E.T.A. Hoffmanns Neigung, den unvollkommenen Menschen und die seelenlose Maschine auf der Suche nach Selbstbestimmung und Kreativität gegenüber zustellen (siehe dessen Der Sandmann und Die Automate), wird für Marie zum Knackpunkt ihrer Entscheidung. In achtzehnfacher Duplizität umtanzen sie ihre Ebenbilder mit Nussknackermasken, um sie in die ewig zuckrige Welt des Traums zu verführen. Hier ist die Grenze ihrer Vorstellung erreicht. Marie entscheidet sich für die mangelhafte Realität und steigt aus ihrer perfekten Traumwelt aus.
Blumenwalzer-Rausch-Ensemble |
Überzeugende Mischung aus klassischem und modernem Ballett
Der Schluss ist für alle versöhnlich. Die Eltern und
Verwandten haben sich beruhigt, die Weihnachtsgesellschaft tanzt in Begleitung der
Hammondorgel Foxtrott und Boogie Woogie und die Geschwister setzen sich, nach
einer Pas-de-Deux-Coda mit dem Zauberer Drosselmeier im Hintergrund, friedlich vereint an den Rand des Orchestergrabens und hören andächtig den gewaltigen
Schlussklängen zu.
Mit musikalischen Arrangements ließ Ralph Abelein auf seiner Hammondorgel das Flair der Swing-Ära der
20er-Jahre wie das familiäre Leben einer Durchschnittsfamilie lebendig werden, was
die Handlung durchaus bereicherte. Hielt sich doch die Musik, trotz einiger dramaturgischer Umstellungen der Tanznummern im 2. Akt, weitgehend
an das Original von Tschaikowsky. Und das unter dem Dirigat von GMD Patrick Lange
voll mitreißender Energie und treibender Kraft.
Die Choreographie von Tim
Plegge, eine überzeugende Mischung aus klassischem und modernem
Ballett, realisierten die Tänzer und Tänzerinnen mit großer Leichtigkeit. Gespickt
mit komplexen Hebefiguren und effektvollen Pirouetten bewegten sie sich schwebend
wie Flugkörper über die Bühne, wobei sich Vanessa
Shield (Marie, das kindhaft unschuldige Mädchen), Ramon John (Drosselmeier, der hintergründige Magier), Daniel Myers (Nussknacker, die spielende
Maschine), Jorge Moro Argote (Fritz,
der Eifersüchtige und Versöhnliche) sowie Masayoshi
Katori (herrische Oma Martha und kämpferische Rattenkönigin) herausragend
in Szene zu setzen verstanden.
Schneeflocken-Ensemble |
Aber auch die anderen Tänzer und Tänzerinnen überzeugten
restlos in allen Belangen. Allein die Familienidylle – von den weihnachtlichen
Vorbereitungen über die Bescherung bis zur abschließenden Polonaise mit
schlafender Oma – war Augenweide und Milieustudie im besten Sinne. Die Gruppentänze der Puppen, der Ratten, der Schneeflocken,
des chinesischen Hofstaats und der Blumen setzten der Story noch einmal weitere imponierende Peaks.
Plegge hat mit dieser Uraufführung eine Choreographie inszeniert, die durchaus mit denen von John
Neumeier (1971), Jochen Ulrich (2012) und Christian Spuck (2017) konkurrieren
können. Ein Muss für den Tanzliebhaber und Kenner. Der Applaus war unbeschreiblich
und viele, viele Blumensträuße landeten auf der Bühne.
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