Sonntag, 20. Oktober 2019


Der Nussknacker (1892), Ballett von Tim Plegge mit der Musik von Peter Tschaikowsky (1840-1893) und Arrangements von Ralph Abelein, Uraufführung im Staatstheater Wiesbaden, 19.10.2019

Spiel mit den Puppen: Vanessa Shield (Marie), Puppen-Ensemble (Fotos: Regina Brocke)

Eine Welt zwischen Fantasie und Realität

Man wird schon beim Betreten des großen Saals des Staatstheaters Wiesbaden mit Weihnachtsliedern von einer Hammondorgel (Ralph Abelein) empfangen, leicht verfremdet, verjazzt und improvisatorisch umspielt. Beschwingt beginnt auch die Ouvertüre mit dem Hessischen Staatsorchester Wiesbaden (Patrick Lange) und gleich befindet man sich in einem kaum ausgeleuchteten Raum mit überdimensioniertem Schrank und vielen herumspielenden skurrilen Puppen. Mittendrin Marie (Vanessa Shield) in gelbem Kleidchen und rotem Gürtel. Es ist ihre Welt. Die Welt der Fantasie, des Spiels und der kindlichen Realität. Die Wirklichkeit aber tritt gleich zutage.


Es ist Weihnachten. Die Vorbereitungen zum Fest sind voll Im Gange. Familie Silberhaus (Sayaka Kado als Mutter und Taulant Shehu als Vater sowie der Bruder Fritz, getanzt von Jorge Moro Argote) ist aufgeregt und very busy. Sie erwartet Gäste, Oma Martha (Masayoshi Katori), Tante Victoria (Jiyoung Lee) und Onkel Leopold (Nicolaus Frau), die sehr bald eintreffen. Über allen Personen scheint Herr Drosselmeier (Ramon John) zu schweben. Er ist eine Art Magier, der die Situation im Griff hat. Mal nimmt er die Sicht des Mädchens, mal die der Anderen ein. Er setzt Impulse, wirkt aber auch hemmend und verkörpert so irgendwie die vertrackte Welt zwischen Schein und Sein (Er ist es auch, der Marie den Nussknacker schenkt und in die Traumwelt führt). 
Unglaublich dynamisch, und vital geht es her. Zwischendurch eine Jazzeinlage der Hammondorgel aus den Golden Twenties, die Publikum wie Tänzer und Tänzerinnen swingen lässt.

Tim Plegge (Choreographie) und sein Team, allen voran Patrick Lange (musikalische Leitung), Frank Philipp Schlößmann (Bühnenbild), Judith Adam (Kostüme), Tanja Rühl (Licht) und Karin Dietrich (Dramaturgie), haben es geschafft, einem scheinbar abgedroschenen, vielfach verhunzten und wohl meistgespielten Ballett vor Weihnachten wieder eine echte Seele einzuhauchen. Spritzige Musik mit perfekten Soloeinlagen von Harfen und Bläsern, farbenreiche Kostüme von grenzenlosem Einfallsreichtum, wechselnde Bühnenbilder voller Kleiderschränke, die immer wieder Unerwartetes ausspucken oder verschwinden lassen, Lichtspiele, die das Dunkle wie Helle dieser Reise durch die fantastischen Kinderwelten eindrucksvoll widerspiegeln und nicht zuletzt die höchst abwechslungsreiche, sehr flotte und den Charakteren der Tänzer und Tänzerinnen auf den Leib geschnittene Choreographie: All das zusammengenommen machte aus dieser Uraufführung ein bleibendes Erlebnis für Jung und Alt.

Bescherung: v.l.: Masayoshi Katori (Oma Martha/Rattenkönigin), Margaret Howard (Tante Cecile), Taulant Shehu (Vater Silberhaus),Vanessa Shield (Marie, Nicolas Frau (Onkel Leopold), Jorge Moro Argote (Bruder Fritz), Jiyoung Lee (Cousine Victoria)Sayaka Kado (Mutter Silberhaus), Ramon John (Drosselmeier)

Das Psychogramm eines Kindes


Bekanntlich stammt die Geschichte des Nussknackers (vollständig: Nussknacker und Mäusekönig) aus der Feder E.T.A. Hoffmanns (1776-1822). Allerdings benutzte Peter Tschaikowsky für sein Komposition die Version von Alexandre Dumas (1802-1870), und fasste dieses Weihnachtsmärchen in ein Ballett, das am 18. Dezember 1892 im Mariinski-Theater in Sankt Petersburg, wenige Monate vor seinem plötzlichen Tod, uraufgeführt und seitdem zu einem Publikumsrenner wurde.

In zwei Akten geht es ursprünglich um die kleine Mascha, die zum Weihnachtsabend vom Patenonkel Drosselmeier einen Nussknacker zum Geschenk bekommt. In der Nacht träumt sie von einer siegreichen Schlacht des Nussknackers gegen die Mäuse. Dieser verwandelt sich daraufhin in einen Prinzen, der die Träumerin in das Reich des Schokoladenbergs entführt, wo auf dem Schloss der Zuckerfee ein prunkvolles Fest gefeiert wird. Am Schluss erwacht Mascha aus ihrem herrlichen Traum und alles ist so wie immer.

Aus dieser Geschichte konstruiert Tim Plegge ein Psychogramm von dem Mädchen Marie, das zwischen Traum und Wach-Sein, zwischen Albtraum und Realität, zwischen Konflikt und Lösung zu wechseln scheint. Herr Drosselmeier wandelt sich vom Patenonkel zum Magier. Er ist ständiger Begleiter von Marie, knüpft Schicksalsknoten und löst sie wieder. Er fasziniert und erschreckt zugleich. Marie braucht ihn sowohl in ihren Träumen, als auch  gegen ihren eifersüchtigen Bruder Fritz.
Daniel Myers (Nussknacker), Ratten-Ensemble

Der Mäusekönig und seine Truppe sind in dieser Inszenierung ein Rattenhaufen mit der Oma Martha als deren Königin (In dieser Doppelrolle glänzte Masayoshi Katori nicht allein als Tänzer, sondern auch als Charakterdarsteller). Das Heer des Nussknackers sind die zahlreichen Puppen, die Marie gesammelt hat. Eher Klabautermänner und Kobolde. Der zweite Akt, die Fahrt durch die Traumwelten von Schokolade und Süßigkeiten, besteht aus der Fortsetzung der kindlichen Phantasmagorien (mit Pferd, Flugmaschine, Rollschuhen und grünen Indianern) und der psychologischen Verarbeitung der realen Konflikte mit Eltern, Verwandten und Bruder.

Marie steht förmlich zwischen den Stühlen. Alle verleiden ihr die Puppen, den geschenkten Nussknacker und überhaupt alles, was ihr lieb geworden ist. Das Weihnachtsfest, alljährlicher Höhepunkt familiären Krieg-und-Friedens wird zum Gradmesser der kindlichen Psyche. Marie flüchtet sich in ihre Welt der Vorstellungen. Aber auch das ist trügerisch. Denn ihr Traum wird spätestens im Blumenwalzer zum Alb.  E.T.A. Hoffmanns Neigung, den unvollkommenen Menschen und die seelenlose Maschine auf der Suche nach Selbstbestimmung und Kreativität gegenüber zustellen (siehe dessen Der Sandmann und Die Automate), wird für Marie zum Knackpunkt ihrer Entscheidung. In achtzehnfacher Duplizität umtanzen sie ihre Ebenbilder mit Nussknackermasken, um sie in die ewig zuckrige Welt des Traums zu verführen. Hier ist die Grenze ihrer Vorstellung erreicht. Marie entscheidet sich für die mangelhafte Realität und steigt aus ihrer perfekten Traumwelt aus.

Blumenwalzer-Rausch-Ensemble

Überzeugende Mischung aus klassischem und modernem Ballett

Der Schluss ist für alle versöhnlich. Die Eltern und Verwandten haben sich beruhigt, die Weihnachtsgesellschaft tanzt in Begleitung der Hammondorgel Foxtrott und Boogie Woogie und die Geschwister setzen sich, nach einer Pas-de-Deux-Coda mit dem Zauberer Drosselmeier im Hintergrund, friedlich vereint an den Rand des Orchestergrabens und hören andächtig den gewaltigen Schlussklängen zu.

Mit musikalischen Arrangements ließ Ralph Abelein auf seiner Hammondorgel das Flair der Swing-Ära der 20er-Jahre wie das familiäre Leben einer Durchschnittsfamilie lebendig werden, was die Handlung durchaus bereicherte. Hielt sich doch die Musik, trotz einiger dramaturgischer Umstellungen der Tanznummern im 2. Akt, weitgehend an das Original von Tschaikowsky. Und das unter dem Dirigat von GMD Patrick Lange voll mitreißender Energie und treibender Kraft.

Die Choreographie von Tim Plegge, eine überzeugende Mischung aus klassischem und modernem Ballett, realisierten die Tänzer und Tänzerinnen mit großer Leichtigkeit. Gespickt mit komplexen Hebefiguren und effektvollen Pirouetten bewegten sie sich schwebend wie Flugkörper über die Bühne, wobei sich Vanessa Shield (Marie, das kindhaft unschuldige Mädchen), Ramon John (Drosselmeier, der hintergründige Magier), Daniel Myers (Nussknacker, die spielende Maschine), Jorge Moro Argote (Fritz, der Eifersüchtige und Versöhnliche) sowie Masayoshi Katori (herrische Oma Martha und kämpferische Rattenkönigin) herausragend in Szene zu setzen verstanden.

Schneeflocken-Ensemble

Aber auch die anderen Tänzer und Tänzerinnen überzeugten restlos in allen Belangen. Allein die Familienidylle – von den weihnachtlichen Vorbereitungen über die Bescherung bis zur abschließenden Polonaise mit schlafender Oma – war Augenweide und Milieustudie im besten Sinne. Die Gruppentänze der Puppen, der Ratten, der Schneeflocken, des chinesischen Hofstaats und der Blumen setzten der Story noch einmal weitere imponierende Peaks.

Plegge hat mit dieser Uraufführung eine Choreographie inszeniert, die durchaus mit denen von John Neumeier (1971), Jochen Ulrich (2012) und Christian Spuck (2017) konkurrieren können. Ein Muss für den Tanzliebhaber und Kenner. Der Applaus war unbeschreiblich und viele, viele Blumensträuße landeten auf der Bühne.

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