Sonntag, 27. Oktober 2019


Fidelio (1814), Oper von Ludwig van Beethoven (1770-1827) und musikalische Bearbeitung des Finales von Annette Schlünz (*1964), Premiere im Staatstheater Darmstadt, 26.10.2019

2. Akt: Wieland Satter (Florestan), Katrin Gerstenberger (Leonore), Statisten
Fotos: Nils Heck

Eine Zeitreise im Parforceritt

Ein anstrengender Parforceritt durch die Geschichte dieser „Rettungsoper“, Folgeerscheinung der Französischen Revolution unter dem Leitspruch von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, mit Gastmahl für etwa 60 Personen aus dem Publikum statt Kerkerszene und Finale des Finales mit kompositorischen Verfremdungen von Annette Schlünz. Eine Einladung zum Nachdenken statt  Freiheitsjubel. Eine Inszenierung unter dem Motto: „Bewegt es Dich?“

Ludwig van Beethoven (1770-1827) brauchte allein zwölf Jahre, bis die Oper mit unterschiedlichsten Libretti (nach einer wahren Begebenheit von dem Dramatiker Jean Nikolas Boully, 1763-1842, erzählt), drei Fassungen, vier Ouvertüren und unzähligen Skizzen und Veränderungen endgültig stand. Warum nicht noch eine weitere Fassung, fragte sich das Regieteam unter Paul Georg Dittrich in Darmstadt und präsentierte eine Premiere von außerordentlicher Vielfalt der Bühnenbilder (Lena Schmid), der Kostüme (Anna Rudolph) und Videoeinblendungen (Kai Wido Meyer), mit ständigen dramaturgischen Wechseln (Carolin Müller-Dohle), gewaltiger musikalischer Kraft (Daniel Cohen) und katalysatorischen Beigaben der Komponistin Annette Schlünz.

Vielfach gebraucht und missbraucht geht es in dieser Oper – ein Zwischending von Singspiel, Verismus und Sinfonie – um ein Liebes- und Freiheitsdrama in einem. Die Ehefrau Florestans, Leonore, sucht ihren Gatten, der, zu Unrecht eingekerkert, nur noch auf seinen Tod wartet. In der Verkleidung eines Mannes, sie nennt sich Fidelio, schafft es Leonore mithilfe des Kerkermeisters Rocco in das Verlies zu gelangen. Pizarro, Gouverneur des Staatsgefängnisses, dem Florestan sein Schicksal zu verdanken hat, trachtet nach dessen gewaltsamen Tod, den er allerdings von Rocco und Leonore verrichtet haben möchte. Beide weigern sich, die Tat zu begehen und erst das Erscheinen des Ministers, Don Fernando, lässt die Ungeheuerlichkeiten ans Tageslicht treten. Florestan wird gerettet, Leonore und ihr Gatte fallen sich in die Arme und alle feiern den Triumph der Freiheit. Soweit so knapp.
1. Akt, 3. Bild: Katrin Gerstenberger (Leonore/Fidelio), Dong-Won Seo (Rocco)


Eine Rettungs- und Befreiungsoper als Feigenblatt der Propaganda


Da die Oper von Beethoven als Rettungs- und Befreiungsoper konzipiert ist, nutzte man sie in ihrer Aufführungsgeschichte immer wieder als Feigenblatt politischer Propaganda. In diesem Sinne wählte das Regieteam Darmstadt – eine erweiterte Übernahme der Bremer Aufführung von 2018 unter der Federführung Dittrichs – acht historische Aufführungen: Davon die erste vom 23. Mai 1814 im Theater am Kärtnertor in Wien (Beethovens dritte Überarbeitung übrigens), als Napoleon geschlagen und die alten Mächte den Wiener Kongress vorbereiteten, um das alte Feudalregime zu restaurieren. Hier feierte die Oper ihren ersten Erfolg als Plädoyer gegen die Tyrannenmacht.

Es folgten der 05. Mai 1860, im Théâtre Lyrique Paris: In Frankreich regierte das reaktionäre Kaiserreich unter Napoleon III.; 1928 Leningrad, der Proletkult der russischen Revolution war in vollem Gange und Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin galt als Vorbild für diese Operninszenierung; der 20. April 1938, Fidelio wird zur Geburtstagsfeier Hitlers im Staatstheater Aachen aufgeführt, Freiheit der arischen Rasse lautete die Regieanweisung; 1945 in Berlin, Nie wieder Krieg statt Jubelfeier; 1968 in Kassel, die Studentenrevolte forderte die Befreiung vom kapitalistischen System; 1989 in der Semper Oper Dresden, die Mauer ist gefallen, „Wir sind das Volk“ lautet der Slogan;  1997 in Bremen, Bezugnahme auf die Schließung der Bremer Vulkan AG und Fördermittelskandal der EU, Freiheit statt Arbeitslosigkeit und Bürokratie. Und schließlich Fidelio in der Version Darmstadt, am 26.10.2019.
1. Akt, 4. Bild: Katrin Gerstenberger (Leonore/Fidelio), Wieland Satter (Pizarro)
Opernchor des Staatstheaters Darmstadt

Viele überbordende Ideen des Think-Tanks-Darmstadt


Historisch orientierte Bühnenbilder, eingebettet in einen Rahmen auf der Bühne, wechselten mit entsprechenden Kostümen. Man musste sich schon historisch auskennen, um ihre Symbolik zu verstehen, denn Handlung und Gesang orientierten sich an der klassischen Vorgabe – im Ersten Akt eine Aneinanderreihung aus Soloarien, Duetten, Terzetten und Quartetten die durch Sprechszenen verbunden werden –, während die historisierende Bühnengestaltung, verbunden mit einer Unmenge von Videoeinblendungen und nicht immer verständlichen Zwischendialogen aus dem Off, es äußerst schwierig machte, beide Ebenen zu verknüpfen, wenngleich die Inszenierung dies durchaus versuchte. 
Die Figur der Leonore (Katrin Gerstenberger, Sopran), zwischen Germania und Femme Fatale mit tätowierten Städtenamen auf ihrer freien linken Schulter, diente in diesem Sinne als Bindeglied dieser turbulenten Zeitreise. Dennoch darf die Frage gestattet sein, ob der Ideenreichtum des Regieteams nicht ein wenig überbordete und man mit einem Weniger an Ausstattung durchaus einen Mehrwert hätte erreichen können.

Hochbrisant dann der Zweite Akt. Statt der erwarteten Kerkerszene ein üppig gedeckter Tisch mit ca. 60 Gästen aus dem Publikum. Mitten auf dem Tisch liegend und darbend Florestan (Heiko Börner, Tenor). Eine bewegliche Kamera lässt die Doppelbödigkeit des Geschehens wirken. Man sieht in die Gesichter und gleichzeitig die Totale der Szenerie.

Florestans Arie: „Oh grauenvolle Stille“, die im Wunsch gipfelt, Leonore wiederzusehen und beide „zur Freiheit in das himmlische Reich“ zu führen, gehörte zum ergreifendsten dieser Szene. Auch der herabgelassene Flügel mit zerborstenem Deckel, worauf Florestan Leonore (sie singt: „In den Lebens Frühlingstagen ist das Glück mir nun geflohen“) begleitet, gehörte mit abstrakten Videoeinblendungen zu den Highlights des Ideen-Think-Tanks-Darmstadt.
2. Akt: Heiko Börner (Florestan), Gäste aus dem Publikum (Foto: Nils Heck)

„Bewegt es dich?“ - Freiheit heute!


Dramaturgisch ebenso wirkungsvoll die Brot und Wein Szene, die ans letzte Abendmahl Christi erinnerte und die Ballonköpfe der Protagonisten aus Pappmaché, die, der Tischgesellschaft übergestülpt, symbolisch den Handlungsrahmen auf das Publikum erweiterte. Spiegelbildlich sollte hier der Freiheitsbegriff als problematische Metapher vorgeführt werden. Was ist Freiheit, wer definiert Freiheit was bedeutet Freiheit heute?

Damit nicht genug. Die Trompetenfanfare der Ankunft des Gouverneurs erklingt. Alles erstarrt. Leonore und Florestan sind gerettet, umarmen sich und singen jubelnd das Duett: „Oh namenlose Freude, Du wieder in meinen Armen!“ Der Tisch wird geleert, beide setzen sich an den Orchestergraben und lauschen der Leonoren-Ouvertüre, dritte Version, (seit Gustav Mahler zur Gewohnheit geworden), während ein Schriftzug: „Bewegt es Euch?“ (später von den Publikumsgästen mit LED-Birnen beleuchtet) von der Decke herabgelassen wird. Ein fünfzehn-minütiger sinfonischer Leckerbissen des Staatsorchesters Darmstadt voller Verve und vulkanischer Sprengkraft.

Das finale Finale gehörte zur absoluten Neuheit dieser Operninszenierung. Annette Schlünz (*1964) trug zur Schlussbotschaft der Gefangenen und Protagonisten eine sehr moderne, nahezu kakophone Komposition bei. Das heißt im Wechsel zwischen Hymne und Jubelgesang erklangen herb dissonante Zwischenmusiken von Trompete, Schlagzeug, Klarinette, Oboe und Akkordeon aus dem Zuschauerraum. Ebenso im Publikum verteilt sangen der Opernchor und Extrachor (Sören Eckhoff): „Preist mit hoher Freud!“, ganz im Stile der Schillerschen Ode an die Freude aus Beethovens Neunter, die allerdings erst 10 Jahre später das Lichte der Musikwelt erblickte. Kein ausuferndes Jubilate und gerechte Strafe des Bösen sondern ein besinnliches Ende zum Nachdenken.

2. Akt: Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 mit Staatsorchester Darmstadt und Gästen aus dem Publikum 

Freiheit zwischen Konsumismus und smarter Diktatur


Große Irritation, aber auch Respekt davor, einen kritischen Blick auf den heutigen Freiheitsbegriff zu wagen. Beethovens erregendes Drama, das mit schierer Löwenkraft die Freiheit im Verbund mit der Menschlichkeit einfordert, muss immer und immer wieder neu gefasst werden, ganz im Sinne Goethes: "Nur der verdient sich Freiheit und das Leben, der täglich sie erkämpfen muss.“

Eine Inszenierung mit vielen guten Ideen, einer Menge überfrachtender Symbolik, mit großartigen Chören und bestens eingestimmtem Orchester. Der GMD Daniel Cohen hat hier bemerkenswerte Arbeit geleistet. Von den Sängern muss man vor allem Heiko Börner als Florestan mit seinem kraftvollen lyrischen Tenor herausheben, aber auch Jana Baumeister als Marzelline. Ihr strahlender Sopran, selbst in den höchsten Höhen mit Leichtigkeit gesungen, zählte zum Besten dieser Premiere. Wieland Satters Bassbariton passte ebenso hervorragend zur seiner Rolle als Bösewicht Pizarro wie Dong-Won Seo, der den moralisch angehauchten Kerkermeister Rocco verkörperte. Seo sang stark im Baritonbereich konnte aber als Bassstimme weniger überzeugen. Das traf auch auf Katrin Gerstenberger zu. Ihr dramatischer Sopran litt vor allem in den Höhen und ließ auch ihre bekannte Vielseitigkeit in den mittleren Lagen vermissen. Dennoch konnte sie als gestalterisches Bindeglied und Freiheitsheroine absolut punkten.


Viele Buhrufe und mäßiger Applaus für die Premiere und dennoch ist diese Inszenierung gerade wegen ihres außergewöhnlichen Ideenreichtums und ihrer kritischen Ausrichtung auf den herrschenden Konsumismus und der damit drohenden „smarten Diktatur“ (Harald Welzer) einen Besuch wert. Man muss diese Opernproduktion unbedingt erleben und sollte sie mehrmals besuchen.

Nächste Vorstellungen: 10. und 22. Nov., 14., 21., und 27. Dez.

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