Tanzfestival Rhein
Main vom 31.10 bis zum 17.11.2019, Motto: Moving Beyond
Omphalos, von
Damien Jalet mit CEPRODAC, Staatstheater Darmstadt, Festivaleröffnung
31.10.2019
CEPRODAC (Centro de Produccion de Danza contempóranea), Foto: Lugo |
Gewaltige tänzerische und musikalische Zentrifugalkräfte
Ein restlos ausverkauftes Großes Haus des Staatstheaters knisterte förmlich vor Erwartung einer erneuten Produktion des belgisch-französischen Shootingstars des zeitgenössischen Tanzes, Damien Jalet (*1976), der mexikanischen Tanzformation CEPRODAC (Centro de Produccion de Danza contempóranea, Leitung: Marco Antonio Silva) sowie der musikalischen Begleitung des japanischen Komponisten, weltbekannt für seinen Oscar prämierten Soundtrack zum Film Der letzte Kaiser sowie seiner Zusammenarbeit mit David Bowie und vielen anderen Pop und Rock Größen, Ryuichi Sakamoto (*1952), nebst seinen Ideengebern Marihiko Hara (*1983) und Tim Hecker (*1974).
Man kann es getrost vorwegnehmen: Gewaltige tänzerische und
musikalische Zentrifugalkräfte boten sich dem Publikum auf einer gewaltigen
Satellitenschüssel: Eine kurze, in 60 Minuten erzählte Geschichte der
Menschheit.
"Tanker und Piratenboot" in friedlicher Eintracht
Zuvor allerdings erfolgte die notwendige Begrüßung der Gäste
und Organisatoren durch die künstlerischen Leiter des mittlerweile zum vierten
Mal stattfindenden Festivals, Matthias
Pees (Mousonturm), Karsten Wiegand
(Staatstheater Darmstadt), und in Abwesenheit, Uwe Eric Laufenberg (Staatstheater Wiesbaden). Man lobte die
prächtige Zusammenarbeit zwischen „Tanker und Piratenboot“ (gemeint die
etablierten Staatsballetts und die freie Szene des Künstlerhauses Mousonturm),
den jährlichen Höhepunkt der Tanzsaison mit dem stetig wachsenden Tanzfestival Rhein Main mit
Tanzensembles aus aller Welt, verteilt in Darmstadt, Frankfurt, Wiesbaden und
erstmalig auch Offenbach, sowie die finanzielle Unterstützung von Aventis Foundation,
BHF-Bank, Crespo Foundation, Dr. Marschner Stiftung und Polytechnische Gesellschaft,
ohne die das Festival nicht hätte stattfinden können. Der seit der Gründung des
Kulturfonds Rhein Main (wichtigster Förderer dieses Festivals) amtierende
Geschäftsführer, Dr. Helmut Müller, wurde
in allen Ehren in den Ruhestand verabschiedet (man schenkte ihm ein Buch über
die Forsythe Methode) und die neue Geschäftsführerin
Karin Wolff vorgestellt.
Ein kurzer Programmüberblick der Festival-Kuratoren, Anna Wagner und Bruno Heynderickx, öffnete das Tor zum Kosmos, zu Omphalos in der Bedeutung von Nabel der Welt.
Adler/Götter: Mitglieder von CEPRODAC, Foto: Lugo |
Die Genesis auf der Satellitenschüssel
Dunkel ist es, kosmische Klänge erfüllen den Raum, eine
gigantische Satellitenschüssel wird sichtbar aus deren Zentrum ein Laserstrahl
ins Unendliche scheint. Ein Sternennebel unter dem Bühnendach vermittelt zusätzlich kosmische Weite.
In diese biblische
Genesis-Stimmung: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, die Erde war wüst und
leer“, treten vier farbige, zottige Gestalten
in den Farben Blau, Rot, Silber und Gold (mythologisch steht Treue und
Spiritualität für Blau, Leidenschaft und Energie für Rot, Weiblichkeit und
mentale Energie für Silber sowie Reichtum und Macht für Gold) auf die Satellitenoberfläche. Sie tanzen in
metrischer und rhythmischer Symmetrie zu elektronischen Klangskulpturen, die
Größe, Weite und gewaltige Mächte zu Gemälden werden lassen. Ihre Adlermasken
geben Hinweise auf die mexikanische wie europäische Mythologie (der Adler als Inbegriff
der Stärke, des Muts und vor allem des ewigen Lebens). Sie zeigen sich als
Schöpfer des irdischen Lebens wie der Menschen.
„Lasst uns Menschen machen!“
sprachen die Götter und schufen ihr Ebenbild aus dem Lehm der Erde. Aus dem
Zentrum, dem schwarzen Loch der Satellitenschüssel ziehen sie braune Gestalten,
die mit ihren Köpfen wie mit einer Nabelschnur verbunden bleiben.
Sechszehn Tänzer kauerten, krochen und robbten über die Schüssel,
alle vom Kopf her mit dem schwarzen Loch verbunden. Ein erbebender Soundtrack leitete
die Menschwerdung ein. Die Nabelverbindungen wurden gelöst (an Rosetten volkstümlicher
Maibaumtänze erinnernd) und der Urmensch erschien.
Alle tanzten oberkörperfrei, nur mit roten, schwarzen und
blauen Tapes beklebt, den langen, dornenreichen Weg hinauf bis zum aufrechten Gang des Homo Sapiens. In der Verbindung von Kostümen (Jean Paul Lespagnard), Bühnenbild (Jorge Ballina), Licht (Victor
Zapatero) und der aufreibenden Soundbegleitung
von Peitschenschlägen, pumpenden Pauken und arrhythmischen Atemgeräuschen (Sakamoto, Hara, Hecker), bot dieser gut
15- minütige Abschnitt ein Gesamtkunstwerk von großer Erzählkraft und
psychologischer Tiefenwirkung.
Das Armageddon der menschlichen Hybris
Ein Schnitt in Sound und Tanz, die Satellitenschüssel dreht
sich, der Homo Sapiens hat sich auf der Welt durchgesetzt. Sein Sprachvermögen,
seine kognitiven Fähigkeiten haben ihn zum Herrscher des Kosmos werden lassen.
Nur die Götter sind ihm noch im Wege. Sie tanzen, jetzt weltenbunt und zivil gekleidet,
mit hoch erhobenen Häuptern.
Sprachgewirr allüberall. Der Kampf mit den Göttern
entwickelt sich zur tänzerischen Ekstase. Der Homo Sapiens greift in das
komplizierte göttliche Geflecht und scheitert. Die Götter sind es, die den Weltenlauf
beherrschen. Sie sind es, die die Satellitenschüssel (Synonym für den Kosmos)
drehen, sie sind das Schicksal, sie bestimmen das Werden und Vergehen des
Lebens. Zeitlos langsame Akrobatik der Göttertänzer am Gestänge der
Satellitenschüssel und hilflose Kampfszenen der Menschentänzer bestimmen die
Szenerie und hinterlassen düstere Ahnungen.
Helikopter Rotationen und heftige Vibrationen leiten das
Armageddon ein. Der Mensch dezimiert sich bis der letzte in das schwarze Loch der
Schüssel, in die Ursuppe seines Werdens fällt. Die Götter versammeln sich dort,
wo sie ihre Ebenbilder schufen. Das Experiment ist misslungen, der Mensch hat
sich abgeschafft, indem er Göttergleich werden wollte. Der Kosmos aber lebt. Und
ob die Götter eine neue Genesis wagen, steht in den Sternen.
Ein Adler/Gott in Silber = Weiblichkeit und mentale Energie (Foto: Lugo) |
Ein Gesamtkunstwerk von gewaltiger kosmischer Magnetkraft
„Was ich am Tanz so liebe, meint Jalet zu seinen
Choreographien, ist, dass er so kurzlebig und unmöglich zu begreifen ist.“ Mit Omphalos jedenfalls hat er und sein Team
ein Gesamtkunstwerk von gewaltiger kosmischer Magnetkraft
geschaffen: Eine kurze Geschichte der Menschheit
(Yuval Harari), eine fesselnde Gemäldegalerie. Weder kurzlebig, noch unmöglich
zu begreifen sollte man meinen, dennoch aber äußerst vielseitig zu
interpretieren und musikalisch wie tänzerisch in seiner Vielfalt kaum gänzlich zu
erfassen. Eine großartige Festivaleröffnung mit einem begeisterten Publikum.
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