Montag, 7. Oktober 2019


Manon Lescaut (1893), Dramma Lirico in vier Akten von Giacomo Puccini  (1858-1924), Premiere an der Oper Frankfurt, 06.10.2019
4. Akt: Joshua Guerrero (Chevalier Renato des Grieux), Asmik Grigorian (Manon)
alle Fotos: Barbara Aumüller

Liebe, Liebe, nichts als Liebe

Absolut großes Kino bot die Oper Frankfurt mit der Neuinszenierung von Giacomo Puccinis (1858-1924) Oper Manon Lescaut (1893), die zuletzt vor 20 Jahren in Frankfurt aufgeführt wurde. Mit der Sopranistin Asmik Grigorian als Manon und dem Tenor Joshua Guerrero (Rollendebütant und Deutschlanddebüt) als Chevalier Renato des Grieux, standen zwei Shootingstars auf der Bühne, die nur mit den Kategorien der Superlative zu beschreiben sind. Ein Paar, das in seiner Unterschiedlichkeit prächtig harmonierte und moderne Beziehungen sehr realistisch auf die Bühne projizierte.

Das Regieteam unter Alex Ollé, Gründer des Theaterkollektivs La Fura del Baus, mit Valentina Carrasco, Regiemitarbeit, Alfons Flores, Bühnenbild, Lluc Castells, Kostüme, Emmanuel Carlier, Video sowie dem bewährten Beleuchtungsmeister des Hauses, Joachim Klein, hat „Die Geschichte des Chevalier Des Grieux und der Manon Lescaut“ (1731) – so der Titel der Romanvorlage von Abbé Prévost (1697-1763) – zu einem „illegalen Einwanderungssdrama“ umfunktioniert, um so den Bezug auf unsere Gegenwart zu legen, was, auf den Stoff bezogen, nicht unbedingt gelingen konnte, durchaus aber diskussionswürdig erscheint.

Denn eigentlich geht es hier um Liebe, Liebe, nichts als Liebe. So stand das Wort LOVE auch in großen Lettern immer im Mittelpunkt eines jeden der vier Akte. Eine wunderschöne Frau, für das Kloster vorgesehen (hier ist sie Flüchtling und soll auf Wunsch ihres Vaters wieder zurück nach Hause kommen), entscheidet sich für das weltliche Leben, das nach ihrem Gusto zwischen Liebe und Reichtum changiert, wobei ihr ihre Schönheit und Raffgier zum Verhängnis wird.

1. Akt: Joshua Guerrero (Des Grieux), Asmik Grigorian (Manon), Ensemble und Statisterie der Oper Frankfurt

Spielball der Begierde


Sie gerät in die Hände des romantischen Antihelden Des Grieux (er liebt sie abgöttisch und verliert dabei  den Boden unter seinen Füßen) sowie in die des in dieser Inszenierung reichen Schleppers und Zuhälters Geronte di Ravoir (Donato di Stefano, Bassbariton). Sie schwankt zwischen dem Begehren der Männer und ihrer Sucht nach materiellem Wohlstand. Mal flieht sie mit ihrem armen Geliebten, Des Grieux, mal lebt sie in Saus und Braus bei dem reichen Geronte, der ihr alles bietet, nur keine echte Liebe.

Manon, die Schöne, möchte Beides, Reichtum und Liebe, wird aber in diesem unauflösbaren Widerspruch aufgerieben. Ist sie weitgehend ein Spielball der Begierde, wozu auch ihr Bruder Lescaut (Jurii Samilov, Bariton), der sie aus eigennützigen Gründen mal hierin und mal dahin verschachert, so ist ihre einzige wirklich autonome, selbstbewusste Tat der Diebstahl am Eigentum Gerontes, der nichts Eiligeres zu tun hat, als sie bei der Polizei anzuzeigen. Sie landet im Knast, wird ausgewiesen (heute: zurückgeführt) und findet in einer Wüste, gedacht als Metapher der geistigen und realen Leere, den Tod.

2. Akt: Mitte angeleuchtet: Asmik Grigorian (Manon) und Donato di Stefano (Geronte de Ravoir), Chor und Statisterie der Oper Frankfurt 

Manon und Des Grieux: ein Konflikt, der reales Leben widerspiegelt


Für Puccini, der die Rolle der Manon durchaus auch als eigenen Konflikt zwischen sich und seiner Frau sah, einer Mischung zwischen Zuneigung, Überdruss, Sehnsucht, Fluchtwünschen und Verlangen – was durchaus Prévosts psychologischer Rationalisierung eines solchen Verhältnisses entsprach – konnte es nur Verzweiflung und Verhängnis geben, weil dies für ihn das reale Leben widerspiegelte. Manons bzw. Grigorians  Arie „Sola perduta, abandonata“  (einsam, verloren, verlassen) gehörte in diesem Sinne zum Eindrucksvollsten der Oper.

Puccini traf mit dieser dramatischen Wendung einen Zeitgeist, der letztendlich seinen Ruhm begründete, denn diese Oper war gleichzeitig auch sein nationaler wie internationaler Durchbruch. Mit dieser Oper trennte er sich auch von seinen Vorbildern Guiseppe Verdi und Richard Wagner und ging konsequent seinen eigenen musikalischen und dramatischen Weg.

Sicher gibt es noch ein Menge Anleihen an Wagners Tristan und Isolde  (2. Akt, Duett zwischen Manon und Des Grieux, „Süßes Leiden, ich sterbe“) sowie an dessen Meistersinger (1. Akt, das Gespräch zwischen Edmondo – gesungen von dem Tenor Michael Porter – und Des Grieux, Ende des 2. Aktes, der an die Nürnberger Festwiese erinnert). Auch das Intermezzo, das den zweiten zum dritten Akt überbrückt, ist durchaus im Duktus des Vorspiels zum dritten Akt der Meistersinger geschrieben. Auch plagiiert er eigene Kompositionen. So verwendet er im ersten und zweiten Akt seine Drei Menuette für Streichorchester op.42. Auch ist das Geronte zugeschriebene Madrigal im zweiten Akt das Agnus Dei aus seiner Jugendmesse Messa di Gloria (1880). Nicht zuletzt stammt das Thema des Schlussduetts in der Wüste aus seinem Streichquartett Crisantemi (1890), eine Trauermusik, die er zum frühzeitigen Tode seines Freundes Herzog Amadeo von Savoyen (1840-1890) geschrieben hat.

2. Akt: Jurii Samoilov (Lescaut), Asmik Grigorian (Manon)

Durchbruch zum eigenen Weg


Dennoch finden wir in dieser Oper bereits einen typischen Puccini vor, wie er sich später in La Bohème (1896), Tosca (1900) bis hin zu Turandot (1926) zur vollkommenen Eigenständig entwickelt. Nicht von ungefähr hat er sieben Librettisten verschlissen (übrig geblieben sind  vier) bevor Manon Lescaut fertiggestellt war. Auch bewegt er sich in dieser Oper weg von den Nummern. Vieles ist rezitativisch und die Arien wandeln sich zu durchkomponierten Erzählungen, zu unendlichen Melodien. Ebenso ist die Struktur der Oper einmalig und beeinflusste bereits den Impressionismus.

In vier unzusammenhängende  Akten bietet er das gesamte Spektrum seiner dramatischen und musikalischen Welt. Das Operettenhafte und Leichte im ersten Akt, das Pasticcio, ein Rekurs auf das Vergangene mit Madrigal, Menuett und Fuge, im zweiten Akt, das Theatralische im dritten und das Lyrische im vierten Akt. Leitmotive halten das Inkommensurable zusammen.

3. Akt: v.l.: Joshua Guerrero (Des Grieux), Asmik Grigorian (Manon), rechts außen: Jurii Samoilov, Statisten und Chor der Oper Frankfurt

Jeder Akt ein Erlebnis


Jeder Akt ist also ein Erlebnis für sich. Und was die Regie (La Fura dels Baus), die musikalische Leitung unter Lorenzo Viotti, das Gesangsteam, der Chor unter Tilman Michael und die Statisterie der Oper Frankfurt dazu anbot, war vom Feinsten: Ein Video mit Flüchtlingen (darunter Manon und ihr Bruder Lescaut), die durch einen aufgeschlitzten Zaun steigen. Ein Briefwechsel zwischen Manon und ihrem Vater. Ein postmodernes  Bühnenbild mit hip gekleideten Akteuren und allem technisch gewohnten Schnickschnack. Eine Busstation mit Restaurantbetrieb, ein Kleinbus der die „Flüchtlinge“ bringt, erste Tuchfühlung zwischen Des Grieux, Manon, Geronte, Lescaut und Edmondo und Flucht der beiden. Alles in tänzerischen Rhythmen, unglaublich vorwärts treibender feuriger Musik, witzig kommentierenden Choreinlagen und spannungsreichen Filmschnitten.

Im zweiten Akt wandelt sich die Szenerie in einen modernen Nachtclub mit leicht bekleideten Pole-Tänzerinnen. Manon alias Asmik Grigorian machte auch hier eine gute Figur und zeigte neben ihren gesanglichen auch ihre tänzerischen Qualitäten. Der dritte Akt besteht aus Gitterkäfigen á la Guantanamo, in denen die verurteilten Frauen sitzen und auf ihre Ausweisung warten. Ein düsteres Bild mit bewaffneten Wärtern, Schäferhund, verzweifelten Frauen und einem hämischen, grellen Chor, der nur gnadenlose Verachtung gegenüber den Gefangenen übrig hat.

Der letzte Akt, eingeleitet durch ein Video, das nur Meereswellen zeigt, besteht aus einer leeren Bühne mit spiegelverkehrtem LOVE-Lettern, die sich während des zwanzig-minütigen Liebesduetts um 180 Grad drehen. Eine abstrakte, existenzielle Situation (sie liegt im Sterben, er kämpft um ihr Leben, sucht nach Wasser, das er nicht finden kann) wird zu einer einzigen Liebeserklärung.

4. Akt: Asmik Grigorian (liegend, Manon), Joshua Guerrero (Des Grieux)

Illegale Einwanderung oder Plädoyer für die Liebe?


Allein, verloren, verlassen, ein Monolog der Verzweiflung mit Flötenuntermalung und Quinten-Ostinato lässt Manon zur Erkenntnis gelangen, dass ihre „verhängnisvolle Schönheit nur Unglück gebracht“ hat. „Ich will nicht sterben“, schluchzt sie, aber leben kann sie auch nicht. Des Grieux ist machtlos, so wie er überhaupt an den Realitäten des Lebens gescheitert ist.

Der letzte Hauch Manons: „Ich liebe dich so sehr und ich sterbe“, begleitet von kaum hörbaren Trommelwirbel und Tamtam mit leise tremolierenden Geigen, wird von Des Grieux mit: „Ich will ihr folgen!“ erwidert. Die LOVE-Lettern leuchten auf. Beide – in der eigentlichen Opernfassung lediglich Manon –  sterben in gleißendes Licht gehüllt. 

Der Tod scheint die einzige Möglichkeit ihres Zusammenlebens zu sein. Ihre Liebe kann nur im Tod real werden. Ein einziges ergreifendes Liebesduett dieser vierte Akt, ein einziges sängerisches Plädoyer für die Liebe, aber durchaus kein Problem der illegalen Einwanderung.
Gewaltig rauschender Beifall für alle (stehende Ovationen und Fußgetrappel für die beiden Superstars) und eine solistische Besetzung, die einfach nicht zu überbieten ist.

Nächste Vorstellungen: 10., 13., 18., 25. und 27. Oktober sowie 02., 09., 15. und 23. November

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