Uncanny Valley
(2018), Thomas Melle, Stefan Kaegi und die Gruppe Rimini Protokoll, Künstlerhaus Mousonturm,
Premiere am 13.10.2019
Uncanny Valley: Melle 2 (Foto: Gabriele Neeb) |
Das unheimliche Tal
menschlicher Wünsche
Die Bühne im Frankfurter Mousonturm ist schlicht gestaltet. Auf einem Sessel sitzt eine Person, scheinbar lässig die Beine übereinander geschlagen, und daneben steht ein Screen. Das ist es schon. Das Licht geht aus, der Spot geht an und die Person, es scheint Thomas Melle höchstpersönlich zu sein, beginnt zu sprechen. Mehrere Male leitet er ein mit mh …mh, dann grüßt er das zahlreich erschienene Publikum im Studio 1 mit einem: „Herzlich Willkommen!“, und spätestens jetzt kommt man ins Grübeln. Welche Person sitzt da eigentlich auf der Bühne? Wer ist das, der da aus dem unheimlichen Tal, dem Uncanny Valley steigt?
Tatsächlich sitzt da eine täuschend echte Nachbildung von Thomas Melle (*1975) höchstpersönlich. Es ist
ein „animatronischer Roboter“, ein Android, ein Cyborg wie er leibt und lebt. Wo
aber ist Melle? Melle gibt der Maschine lediglich seine Stimme, und die erzählt
Einiges von ihm selbst (oder von der Maschine?), aber auch von Alan Turing
(1912-1954), dem Vater der Computertechnik, Entwickler von Enigma (ein Encodersystem, das den 2. Weltkrieg mitentschied), und Namensgeber
des Turing Tests (ein Test, der dann
erfolgreich absolviert ist, wenn man Maschine und Mensch nicht mehr
unterscheiden kann).
Beide, Melle wie Turing, haben eines gemeinsam. Sie verbindet
eine Leidensgeschichte (Turing, war homosexuell und wurde durch medikamentöse
Fehlbehandlung zum Selbstmord getrieben; Melle leidet, bedingt durch eine „schwere
Kindheit“, an manisch-depressiven-Schüben und infolge davon an Kontroll-,
Subjekt- und Authentizitätsverlusten) wie den Wunsch nach Kontrolle, Authentizität
und Stetigkeit, ohne Angst vor Versagen und persönlichen Unzulänglichkeiten.
Thomas Melle bzw. sein humanoides Konterfei – oder nennen
wir die Maschine einfach Melle 2 – erzählt
die Geschichte der menschlichen Schwächen, der Unstetigkeit und der mangelnden
Perfektion jeglicher menschlicher Existenz und findet die Lösung in der
Auslagerung seiner Persönlichkeit an die Maschine. In der Wissenschaft spricht
man von Human Enhancement, die
Schaffung des Neuen Menschen durch technologische Eingriffe sowie uploads von Gehirntätigkeiten in Trägermedien zum
Zwecke der individuellen Vervollkommnung.
Ein Thriller durch die Welt des Human Enhancement
Melle 2 (Foto Gabriele Neeb) |
Grundlage der Performance ist das 2016 erschienene Buch von
Thomas Melle: „Die Welt im Rücken“,
in dem er seine bipolare Störung thematisiert (das Buch stand übrigens auf der
Shortlist des Deutschen Buchpreises), das er gemeinsam mit Stefan Kaegi, Helgard Haug
und Daniel Wetzel, unter dem Label Rimini Protokoll bekannt, Eva Maria Bauer (Ausstattung), Tommy
Opatz (Animatronik), Mikko Gaestel
(Video) sowie Nicolas Neecke (Musik)
zu Uncanny Valley umschrieb. Ein 60-minütiger
Thriller durch die Welt des menschlichen Traums von Human Enhancement.
Was ist echt, was ist artifiziell? Diese Frage bleibt offen.
Immer wieder werden Videoeinblendungen von Melle und Turing gezeigt, aber auch
von einem tauben Menschen, Enno Park, der durch technisches Implantat hören,
aber auch seine Ohren durch das Abschalten des Geräts im wahrsten Sinne
schließen kann. Er kommt zum Fazit: „Die Technik ist die Natur des Menschen.“
Auch ein Professor der TU Berlin kommt zu Wort, der die
Vorzüge der Digitalisierung in den höchsten Tönen lobt: „Elektronik“, so seine Meinung,
„kennt weder Schmerzen noch Tod. Roboter sind Sklaven der Menschen. Sie sind
ein Nichts, aber alles dreht sich um dieses Nichts.“
Ganz spannend, wenn Melle
2 Fragen stellt: „Wie geht es ihnen?“, „Mit wem rede ich?“, „Haben sie eine
Ahnung, wer sie sind?“ Oder wenn er gegenüber dem Publikum lapidar feststellt: „Dass
sie hierbleiben, ist lediglich eine Kulturleistung.“ Man sei schließlich gut
erzogen, kulturell programmiert. Und die Frage anschließt: „Woher nehmen sie eigentlich
die Gewissheit, dass sie kein Roboter sind?" Hat Melle 2 sein Publikum soweit, dass es tatsächlich Empathie zu ihm aufbaut. Oder vielleicht doch nicht?
An dieser Stelle erscheint Melle 1 selber, aber lediglich auf dem Screen, demonstriert, wie von
ihm eine Totenmaske hergestellt wird und beschreibt seine Gefühle dazu: „Bin ich
da? Oder doch nicht da?“ Dann
vermeldet Melle 2, das hier etwas
nicht stimmt: „Bin ich Dorian Gray,
der nie alternde Narziss, kann ich endlich genießen oder verrotte ich an einer
abgelegenen Stelle?“ Oder ist es vielleicht doch Melle 1 im Video, der das sagt? Jetzt
dreht sich der Fuß von Melle 2 um 360
Grad. Er hat keine Schmerzen. Aber was ist mit Melle 1? Der gibt sich philosophisch und spricht vom „Gesetz der
permanenten Veränderung“.
Uncanny Valley: Entstehung eines animatronischen Roboters (Foto: Rimini Protokoll) |
Perfektion bedeutet Stillstand
Die Dramaturgie dreht auf bis zur höchsten Verwirrung. Alle
Realität wird zum Mythos, zum Kunstprodukt, zum Artefakt. Was erreicht der
Mensch, wenn er seine Schwächen, Krankheiten, psychischen Deformationen an
Maschinen delegiert? Was bedeutet Kunst, wenn sie perfekt präsentiert wird? Was
ist, wenn alles Leben und Lebendige berechenbar wird? Die Antwort kann nur
lauten: Das wäre der Horror pur!
Thomas Melle und sein Team haben hier eine ganz neue und
eigenwillige Form der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Maschine
entwickelt und die Grenzen der mit der Digitalisierung der Welt einhergehenden Human Enhancement-Wünsche des Neuen
Menschen schonungslos und spannungsreich aufgezeigt. Wie sagte einstmals Pablo Picasso
zum Streben des Homo sapiens nach
Perfektion: „Perfektion bedeutet Stillstand, deshalb lehne ich sie ab.“
Übertragen auf Uncanny Valley könnte es auch heißen: Lieber einen „verdammten
Krankheitskomplex“ (Thomas Melle) mit sich herumtragen als zum Cyborg zu werden.
Denn mit dem Deep-Mind-Versprechen,
bis zum Ende des Jahrhunderts alle Krankheiten, Klima- und Finanzprobleme zu
lösen, degradiert sich der Mensch zur Nummer 2 (Melle 2) auf dieser Welt. In diesem Sinne wird Uncanny Valley alias die künstliche Intelligenz, so meint es
zumindest der Physiker und Neurobiologe Christoph von Malsburg, schlimmer als
die Atombombe.
Nächste Vorstellungen unbedingt nicht verpassen: 14., 15.,
16. und 17. Oktober
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