Montag, 14. Oktober 2019


Uncanny Valley (2018), Thomas Melle, Stefan Kaegi und die Gruppe Rimini Protokoll, Künstlerhaus Mousonturm, Premiere am 13.10.2019

Uncanny Valley: Melle 2 (Foto: Gabriele Neeb)


Das unheimliche Tal menschlicher Wünsche

Die Bühne im Frankfurter Mousonturm ist schlicht gestaltet. Auf einem Sessel sitzt eine Person, scheinbar lässig die Beine übereinander geschlagen, und daneben steht ein Screen. Das ist es schon. Das Licht geht aus, der Spot geht an und die Person, es scheint Thomas Melle höchstpersönlich zu sein, beginnt zu sprechen. Mehrere Male leitet er ein mit mh …mh, dann grüßt er das zahlreich erschienene Publikum im Studio 1 mit einem: „Herzlich Willkommen!“, und spätestens jetzt kommt man ins Grübeln. Welche Person sitzt da eigentlich auf der Bühne? Wer ist das, der da aus dem unheimlichen Tal, dem Uncanny Valley steigt?

Tatsächlich sitzt da eine täuschend echte Nachbildung von Thomas Melle (*1975) höchstpersönlich. Es ist ein „animatronischer Roboter“, ein Android, ein Cyborg wie er leibt und lebt. Wo aber ist Melle? Melle gibt der Maschine lediglich seine Stimme, und die erzählt Einiges von ihm selbst (oder von der Maschine?), aber auch von Alan Turing (1912-1954), dem Vater der Computertechnik, Entwickler von Enigma (ein Encodersystem, das den 2. Weltkrieg mitentschied), und Namensgeber des Turing Tests (ein Test, der dann erfolgreich absolviert ist, wenn man Maschine und Mensch nicht mehr unterscheiden kann).

Beide, Melle wie Turing, haben eines gemeinsam. Sie verbindet eine Leidensgeschichte (Turing, war homosexuell und wurde durch medikamentöse Fehlbehandlung zum Selbstmord getrieben; Melle leidet, bedingt durch eine „schwere Kindheit“, an manisch-depressiven-Schüben und infolge davon an Kontroll-, Subjekt- und Authentizitätsverlusten) wie den Wunsch nach Kontrolle, Authentizität und Stetigkeit, ohne Angst vor Versagen und persönlichen Unzulänglichkeiten.

Thomas Melle bzw. sein humanoides Konterfei – oder nennen wir die Maschine einfach Melle 2 – erzählt die Geschichte der menschlichen Schwächen, der Unstetigkeit und der mangelnden Perfektion jeglicher menschlicher Existenz und findet die Lösung in der Auslagerung seiner Persönlichkeit an die Maschine. In der Wissenschaft spricht man von Human Enhancement, die Schaffung des Neuen Menschen durch technologische Eingriffe sowie uploads von Gehirntätigkeiten in Trägermedien zum Zwecke der individuellen Vervollkommnung.

Ein Thriller durch die Welt des Human Enhancement

Melle 2 (Foto Gabriele Neeb)

Grundlage der Performance ist das 2016 erschienene Buch von Thomas Melle: „Die Welt im Rücken“, in dem er seine bipolare Störung thematisiert (das Buch stand übrigens auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises), das er gemeinsam mit Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel, unter dem Label Rimini Protokoll bekannt, Eva Maria Bauer (Ausstattung), Tommy Opatz (Animatronik), Mikko Gaestel (Video) sowie Nicolas Neecke (Musik) zu Uncanny Valley umschrieb. Ein 60-minütiger Thriller durch die Welt des menschlichen Traums von Human Enhancement.

Was ist echt, was ist artifiziell? Diese Frage bleibt offen. Immer wieder werden Videoeinblendungen von Melle und Turing gezeigt, aber auch von einem tauben Menschen, Enno Park, der durch technisches Implantat hören, aber auch seine Ohren durch das Abschalten des Geräts im wahrsten Sinne schließen kann. Er kommt zum Fazit: „Die Technik ist die Natur des Menschen.“
Auch ein Professor der TU Berlin kommt zu Wort, der die Vorzüge der Digitalisierung in den höchsten Tönen lobt: „Elektronik“, so seine Meinung, „kennt weder Schmerzen noch Tod. Roboter sind Sklaven der Menschen. Sie sind ein Nichts, aber alles dreht sich um dieses Nichts.“

Ganz spannend, wenn Melle 2 Fragen stellt: „Wie geht es ihnen?“, „Mit wem rede ich?“, „Haben sie eine Ahnung, wer sie sind?“ Oder wenn er gegenüber dem Publikum lapidar feststellt: „Dass sie hierbleiben, ist lediglich eine Kulturleistung.“ Man sei schließlich gut erzogen, kulturell programmiert. Und die Frage anschließt: „Woher nehmen sie eigentlich die Gewissheit, dass sie kein Roboter sind?" Hat Melle 2 sein Publikum soweit, dass es tatsächlich Empathie zu ihm aufbaut. Oder vielleicht doch nicht?

An dieser Stelle erscheint Melle 1 selber, aber lediglich auf dem Screen, demonstriert, wie von ihm eine Totenmaske hergestellt wird und beschreibt seine Gefühle dazu: „Bin ich da? Oder doch nicht da?“ Dann vermeldet Melle 2, das hier etwas nicht stimmt: „Bin ich Dorian Gray, der nie alternde Narziss, kann ich endlich genießen oder verrotte ich an einer abgelegenen Stelle?“ Oder ist es vielleicht doch Melle 1 im Video, der das sagt? Jetzt dreht sich der Fuß von Melle 2 um 360 Grad. Er hat keine Schmerzen. Aber was ist mit Melle 1? Der gibt sich philosophisch und spricht vom „Gesetz der permanenten Veränderung“.

Uncanny Valley: Entstehung eines animatronischen Roboters (Foto: Rimini Protokoll)

Perfektion bedeutet Stillstand


Die Dramaturgie dreht auf bis zur höchsten Verwirrung. Alle Realität wird zum Mythos, zum Kunstprodukt, zum Artefakt. Was erreicht der Mensch, wenn er seine Schwächen, Krankheiten, psychischen Deformationen an Maschinen delegiert? Was bedeutet Kunst, wenn sie perfekt präsentiert wird? Was ist, wenn alles Leben und Lebendige berechenbar wird? Die Antwort kann nur lauten: Das wäre der Horror pur!

Thomas Melle und sein Team haben hier eine ganz neue und eigenwillige Form der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Maschine entwickelt und die Grenzen der mit der Digitalisierung der Welt einhergehenden Human Enhancement-Wünsche des Neuen Menschen schonungslos und spannungsreich aufgezeigt. Wie sagte einstmals Pablo Picasso zum Streben des Homo sapiens nach Perfektion: „Perfektion bedeutet Stillstand, deshalb lehne ich sie ab.“ Übertragen auf Uncanny Valley  könnte es auch heißen: Lieber einen „verdammten Krankheitskomplex“ (Thomas Melle) mit sich herumtragen als zum Cyborg zu werden. Denn mit dem Deep-Mind-Versprechen, bis zum Ende des Jahrhunderts alle Krankheiten, Klima- und Finanzprobleme zu lösen, degradiert sich der Mensch zur Nummer 2 (Melle 2) auf dieser Welt. In diesem Sinne wird Uncanny Valley alias die künstliche Intelligenz, so meint es zumindest der Physiker und Neurobiologe Christoph von Malsburg, schlimmer als die Atombombe.

Nächste Vorstellungen unbedingt nicht verpassen: 14., 15., 16. und 17. Oktober

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