Francesco Tristano
(Klavier) und das Orchestre
Philharmonique de Strasbourg mit Marko Letonja (musikalische Leitung), Alte
Oper Frankfurt, 19.11.2019 (Eine Veranstaltung von PRO ARTE Frankfurt)
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Orchestre Philharmonique de Strasbourg, Marko Letonja (Dirigent) (Fotos: PRO ARTE/Theresa Awiszus) |
Durchs spanische, griechische und amerikanische Kolorit
Man darf es vorwegnehmen: Ein großartig stimmiges Orchestre Philharmonique de Strasbourg, ein unaufgeregt hoch ambitionierter Dirigent, Marko Letonja, und ein technisch versierter Francesco Tristano mit einer coolen Interpretation von Gershwins Rhapsodie in Blue, leider auf einem blechern klingenden und volumenarmen Yamaha-Flügel.
Der Abend bot eine Reise durch das spanische, griechische
und amerikanische Kolorit des späten 19.
und frühen 20. Jahrhunderts, von Komponisten wie Georges Bizet
(1838-1875), George Gershwin (1998-1937) und Maurice Ravel (1875-1937), die
sich zwar nicht persönlich kannten, aber in ihren Träumen, Liebhabereien,
nationalen Identitäten und Exotismen enge Verwandtschaften zeigten.
So ist die Carmen
Suite Nr. 1 (1875/76) von Bizet (übrigens eine spätere Zusammenstellung aus
Tänzen und Episoden seiner Oper Carmen von
Ernest Guiraud, 1837-1892) mit Flamenco, Aragonaise oder Toréador-Song Bizets Hispanophilie zu verdanken. Spanien, das er
nie besuchte, war sein Traumland. Hier glaubte er seine innersten Wünsche
erfüllt. Seine Carmen, zunächst ein
Flop, gehört heute neben Mozarts Zauberflöte,
zu den meistgespielten Opern auf der Welt.
Ähnliche Motivationen beflügelten George Gershwin, seine Rhapsodie in Blue (1924 auf zwei
Klavieren uraufgeführt) zu schreiben. Er, Sohn russischer Einwanderer, liebte
die musikalische Vielfalt des nordamerikanischen Kontinents mit seinen
europäischen wie auch afro- und hispanoamerikanischen Einflüssen, woraus er
eine „Rhapsodie“, ein frei
gestaltetes musikalisches Gedicht, ein klingendes Portrait seiner Heimat
komponierte, das nicht nur die bei seiner Uraufführung anwesende Prominenz
(darunter Fritz Kreisler, Rachmaninow wie auch Strawinsky) begeisterte,
sondern, ähnlich wie Bizets Carmen,
vor allem in der Bearbeitung für Klavier und Orchester von Ferde Grofé
(1892-1972), einen weltweiten Siegeszug antrat.
Zwischen griechischem Mythos und ekstatischem Tanz
Kommen wir zu Maurice Ravel. Auch er liebte als gebürtiger
Franzose das spanische Kolorit mit seinen Tänzen und Temperamenten. Er verstand
sich zeitlebens als Baske (seine Mutter war Baskin) und schrieb für das Ballett Russe unter Sergei Diaghilew Daphnis et Cloé (1912), dessen sinfonisches
Fragment, die Suite Nr. 2 (1913), weltweit
Furore machte. Die Geschichte handelt eigentlich in Griechenland, ein weiteres Traumland
des Komponisten. Griechenland galt als die Wiege europäischer Kulturgeschichte.
Daphnis et Cloé, so die Sage, werden,
als Kinder unabhängig von einer Ziege und einem Schaf genährt, ein Liebespaar.
Naturverbunden wie die beiden Königskinder sind, verzichten sie auf den Luxus
der Stadt und führen ein Hirtenleben. Für viele Künstler der damaligen Zeit
durchaus ein angestrebtes Lebensziel unter den oft negativen sozialpolitischen Folgen
der industriellen Revolution.
Ravels Spiel mit dem griechischen Mythos gipfelt in seinem Boléro (1928), ein Auftrag der Tänzerin
Ida Rubinstein, in dem er einen spanischen Tanz, in Harmonie und Rhythmus
ständig gleich bleibend komponiert und in 18 Variationen und ständiger
Begleitung einer Rührtrommel im ¾-Takt Ostinato-Rhythmus, einem stetigen
Crescendo vom Pianissimo bis zum Fortissimo, angefangen bei solistischer
Querflöte, Klarinette, Fagott bis hin zum vollständigen Orchester, alle
Register der Klangfarben zieht. Ein ekstatischer Stoff, der noch heute
fasziniert, damals aber experimentell verstanden wurde, denn die Tänzerin Ida
Rubinstein schockierte mit erotisch lasziven Bewegungen. Angeblich soll ein
Zuschauer gerufen haben: „Hilfe, ein Verrückter!“ worauf Ravel erwidert haben soll: „Die hat´s
kapiert!“
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Orchestre Philharmonique de Strasbourg, Marko Letonja (Dirigent), Francesco Tristano (Klavier) |
Ein cooler, maschinenhafter Kontrapunkt zum ausgelassenen Swing
In zwei spannenden Stunden hörte man Bekanntes oft unter
neuen Perspektiven und mit eigenwilligen Interpretationen. Bereits in Bizets Suite Nr. 1 brillierte das gut 80-Personen
starke Orchester durch Frische, rhythmische Exaktheit und auffallend versierte
SolistInnen. Herrlich das Fagott und die Oboe im Marsch der Dragoner (Les
Dragons d´Alcala), oder Harfen und Flöte im Intermezzo. Absolut schwungvoll
mit schönsten Staccati dann der abschließende Tanz der Toreros (Les Toréadors).
Francesco Tristano (*1981), schlaksig in lässig
modernem Outfit: Röhrenhose, Schnürstiefel und enge Jacke mit ins Gesicht
hängender Tolle, machte gleich seinem Image als mutig unkonventioneller Neuerer
alle Ehre. Betont locker bearbeitete er die Tastatur des Yamaha Flügels, der sich
allerdings im satten Orchesterklang kaum behaupten konnte.
Gershwins Rhapsodie in Blue gehört fast der
gleiche pianistische Rang wie Tschaikowskis b-Moll
Klavierkonzert, um Technik,
Virtuosität und Interpretationskraft beweisen zu können. All das gelang
Tristano - auf diesem Flügel jedenfalls - nicht in allen Belangen. Oft hatte er zu
wenig Kontakt mit dem Orchester (mal zu schnell, mal hinterherlaufend); auch
spielte er im Technostil, maschinenhaft, ohne den Blue Notes emotionalen Raum zu geben. Den allerdings schaffte das
selten gut eingestellte Orchester zu diesem Hammerwerk. Jede Tuttistelle der
pure Jazz, jede Synkope der reine Swing. Es war ein Genuss, diesem
Orchesterklang zu folgen. Ein Glück für den Solisten, denn somit wurde sein
Spiel regelrecht zum Kontrapunkt, was auch wieder einen ganz eigenen Reiz entwickelte.
Natürlich folgte eine Zugabe nach so viel Spektakulärem. Tristano
hatte sich dazu ein melodisches Kleinod von Gershwin einfallen lassen, nämlich „s´wonderful“, und machte daraus eine Trio-Session mit Tenorsaxophon und Bassgeige (Mitglieder des
Orchesters). Modern Jazz mit viel Improvisation und coolen Einfällen.
Bekanntlich sind Clubmusik und Jazz neben Johann Sebastian Bach und Luciano
Berio Tristanos unverkennbare Markenzeichen. Viele Stilrichtungen (auch japanische
Musik gehört dazu) aus sehr unterschiedlichen Epochen. Eine Vielseitigkeit, die
hoffentlich nicht an der musikalischen Substanz nagt. Vielleicht wäre auch mal
ein anderer Flügel anzudenken.
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Francesco Tristano (Klavier), Marko Letonja (Dirigent), Orchestre Philharmonique de Strasbourg |
Musik – eine geistige Atmosphäre
zum Reifen der Gefühle
Ravel
bestimmte den zweiten Teil des Konzerts. Und der hatte es in sich. Der Tagesanbruch aus Daphnis et Cloé (Lever du
jour) ließ den frühen Morgen direkt verspüren. Gleißende Sonnenstrahlen,
Vogelgesang, fließende Bäche, all das wurde Realität vor dem geistigen Auge.
Der Gesang der Hirtenflöte in der Pantomime
wirkte wie ein Gedicht von Paul Verlaine und das bacchantische Finale mit
punktierten schnellen Viervierteltakten, begleitet von gewaltigen Trommelwirbeln, wurde bei einem fast hundertköpfigen Orchester zu einem veritablen Saalbeben. Das aber mit
schwebender Leichtigkeit.
Der Pavane pour une infante défunte - auf Deutsch: … für eine tote Prinzessin (1899), ein langsamer Schreittanz aus dem
17. Jahrhundert (spanisch-italienischer Provenienz), in einem sterbend schönen
Duett von Flöte und Oboe vorgetragen, folgte der bereits genannte Boléro.
Eine spannungsgeladene Variation von ungeheurer
Dichte und aufreibender Getragenheit. Ravel wollte es in 72 Schlägen pro Minute
gespielt haben. Ein langsames Tempo, das den Tanz auf etwa 17 Minuten ausdehnt.
Unter der Hand von Marco Letonja
dauerte es zwar „nur“ gut 15 Minuten (Ravel hätte es wohl nicht gefallen), aber
dafür gelang ihm das wichtigste Kriterium des sich 18-mal wiederholenden Themas:
das Halten der fragilen Spannung von Anfang bis zum Schluss. Man war
unmittelbar an den Satz des Malers Wassily Kandinsky (1866-1944) erinnert, der über die
Wiederholung der Klänge einmal gesagt haben soll: „Die Wiederholung der Klänge,
die Aufhebung derselben verdichtet die geistige Atmosphäre, die notwendig zum
Reifen der Gefühle …, so wie zum Reifen verschiedener Früchte die verdichtete
Atmosphäre eines Treibhauses notwendig, eine absolute Bedingung zum Reifen ist.“
Besser kann man es nicht zum Ausdruck bringen.
Marco
Letonja ist seit 2012 Chefdirigent des Orchestre
Philharmonique de Strasbourg wie auch seit 2018/19 Generalmusikdirektor der
Bremer Philharmoniker. Glücklich kann
der sich schätzen, der ihn zum Dirigenten hat.
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