Mittwoch, 20. November 2019


Francesco Tristano (Klavier) und das Orchestre Philharmonique de Strasbourg mit Marko Letonja (musikalische Leitung), Alte Oper Frankfurt, 19.11.2019 (Eine Veranstaltung von PRO ARTE Frankfurt)

Orchestre Philharmonique de Strasbourg, Marko Letonja (Dirigent)   
(Fotos: PRO ARTE/Theresa Awiszus)

Durchs spanische, griechische und amerikanische Kolorit

Man darf es vorwegnehmen: Ein großartig stimmiges Orchestre Philharmonique de Strasbourg, ein unaufgeregt hoch ambitionierter Dirigent, Marko Letonja, und ein technisch versierter Francesco Tristano mit einer coolen Interpretation von Gershwins Rhapsodie in Blue, leider auf einem blechern klingenden und volumenarmen Yamaha-Flügel.

Der Abend bot eine Reise durch das spanische, griechische und amerikanische Kolorit des späten 19.  und frühen 20. Jahrhunderts, von Komponisten wie Georges Bizet (1838-1875), George Gershwin (1998-1937) und Maurice Ravel (1875-1937), die sich zwar nicht persönlich kannten, aber in ihren Träumen, Liebhabereien, nationalen Identitäten und Exotismen enge Verwandtschaften zeigten.  

So ist die Carmen Suite Nr. 1 (1875/76) von Bizet (übrigens eine spätere Zusammenstellung aus Tänzen und Episoden seiner Oper Carmen von Ernest Guiraud, 1837-1892) mit Flamenco, Aragonaise oder Toréador-Song Bizets Hispanophilie zu verdanken. Spanien, das er nie besuchte, war sein Traumland. Hier glaubte er seine innersten Wünsche erfüllt. Seine Carmen, zunächst ein Flop, gehört heute neben Mozarts Zauberflöte, zu den meistgespielten Opern auf der Welt.

Ähnliche Motivationen beflügelten George Gershwin, seine Rhapsodie in Blue (1924 auf zwei Klavieren uraufgeführt) zu schreiben. Er, Sohn russischer Einwanderer, liebte die musikalische Vielfalt des nordamerikanischen Kontinents mit seinen europäischen wie auch afro- und hispanoamerikanischen Einflüssen, woraus er eine „Rhapsodie“, ein frei gestaltetes musikalisches Gedicht, ein klingendes Portrait seiner Heimat komponierte, das nicht nur die bei seiner Uraufführung anwesende Prominenz (darunter Fritz Kreisler, Rachmaninow wie auch Strawinsky) begeisterte, sondern, ähnlich wie Bizets Carmen, vor allem in der Bearbeitung für Klavier und Orchester von Ferde Grofé (1892-1972), einen weltweiten Siegeszug antrat.

Zwischen griechischem Mythos und ekstatischem Tanz


Kommen wir zu Maurice Ravel. Auch er liebte als gebürtiger Franzose das spanische Kolorit mit seinen Tänzen und Temperamenten. Er verstand sich zeitlebens als Baske (seine Mutter war Baskin) und schrieb für das Ballett Russe unter Sergei Diaghilew Daphnis et Cloé (1912), dessen sinfonisches Fragment, die Suite Nr. 2 (1913), weltweit Furore machte. Die Geschichte handelt eigentlich in Griechenland, ein weiteres Traumland des Komponisten. Griechenland galt als die Wiege europäischer Kulturgeschichte. Daphnis et Cloé, so die Sage, werden, als Kinder unabhängig von einer Ziege und einem Schaf genährt, ein Liebespaar. Naturverbunden wie die beiden Königskinder sind, verzichten sie auf den Luxus der Stadt und führen ein Hirtenleben. Für viele Künstler der damaligen Zeit durchaus ein angestrebtes Lebensziel unter den oft negativen sozialpolitischen Folgen der industriellen Revolution.

Ravels Spiel mit dem griechischen Mythos gipfelt in seinem Boléro (1928), ein Auftrag der Tänzerin Ida Rubinstein, in dem er einen spanischen Tanz, in Harmonie und Rhythmus ständig gleich bleibend komponiert und in 18 Variationen und ständiger Begleitung einer Rührtrommel im ¾-Takt Ostinato-Rhythmus, einem stetigen Crescendo vom Pianissimo bis zum Fortissimo, angefangen bei solistischer Querflöte, Klarinette, Fagott bis hin zum vollständigen Orchester, alle Register der Klangfarben zieht. Ein ekstatischer Stoff, der noch heute fasziniert, damals aber experimentell verstanden wurde, denn die Tänzerin Ida Rubinstein schockierte mit erotisch lasziven Bewegungen. Angeblich soll ein Zuschauer gerufen haben: „Hilfe, ein Verrückter!“ worauf Ravel erwidert haben soll: „Die hat´s kapiert!“

Orchestre Philharmonique de Strasbourg, Marko Letonja (Dirigent), Francesco Tristano (Klavier) 

Ein cooler, maschinenhafter Kontrapunkt zum ausgelassenen Swing


In zwei spannenden Stunden hörte man Bekanntes oft unter neuen Perspektiven und mit eigenwilligen Interpretationen. Bereits in Bizets Suite Nr. 1 brillierte das gut 80-Personen starke Orchester durch Frische, rhythmische Exaktheit und auffallend versierte SolistInnen. Herrlich das Fagott und die Oboe im Marsch der Dragoner (Les Dragons d´Alcala), oder Harfen und Flöte im Intermezzo. Absolut schwungvoll mit schönsten Staccati dann der abschließende Tanz der Toreros (Les Toréadors).  

Francesco Tristano (*1981), schlaksig in lässig modernem Outfit: Röhrenhose, Schnürstiefel und enge Jacke mit ins Gesicht hängender Tolle, machte gleich seinem Image als mutig unkonventioneller Neuerer alle Ehre. Betont locker bearbeitete er die Tastatur des Yamaha Flügels, der sich allerdings im satten Orchesterklang kaum behaupten konnte. 
Gershwins Rhapsodie in Blue gehört fast der gleiche pianistische Rang wie Tschaikowskis b-Moll Klavierkonzert, um Technik, Virtuosität und Interpretationskraft beweisen zu können. All das gelang Tristano - auf diesem Flügel jedenfalls - nicht in allen Belangen. Oft hatte er zu wenig Kontakt mit dem Orchester (mal zu schnell, mal hinterherlaufend); auch spielte er im Technostil, maschinenhaft, ohne den Blue Notes emotionalen Raum zu geben. Den allerdings schaffte das selten gut eingestellte Orchester zu diesem Hammerwerk. Jede Tuttistelle der pure Jazz, jede Synkope der reine Swing. Es war ein Genuss, diesem Orchesterklang zu folgen. Ein Glück für den Solisten, denn somit wurde sein Spiel regelrecht zum Kontrapunkt, was auch wieder einen ganz eigenen Reiz entwickelte.

Natürlich folgte eine Zugabe nach so viel Spektakulärem. Tristano hatte sich dazu ein melodisches Kleinod von Gershwin einfallen lassen, nämlich „s´wonderful“, und machte daraus eine Trio-Session mit Tenorsaxophon und Bassgeige (Mitglieder des Orchesters). Modern Jazz mit viel Improvisation und coolen Einfällen. Bekanntlich sind Clubmusik und Jazz neben Johann Sebastian Bach und Luciano Berio Tristanos unverkennbare Markenzeichen. Viele Stilrichtungen (auch japanische Musik gehört dazu) aus sehr unterschiedlichen Epochen. Eine Vielseitigkeit, die hoffentlich nicht an der musikalischen Substanz nagt. Vielleicht wäre auch mal ein anderer Flügel anzudenken.

Francesco Tristano (Klavier), Marko Letonja (Dirigent),
Orchestre Philharmonique de Strasbourg


Musik – eine geistige Atmosphäre zum Reifen der Gefühle


Ravel bestimmte den zweiten Teil des Konzerts. Und der hatte es in sich. Der Tagesanbruch aus Daphnis et Cloé (Lever du jour) ließ den frühen Morgen direkt verspüren. Gleißende Sonnenstrahlen, Vogelgesang, fließende Bäche, all das wurde Realität vor dem geistigen Auge. Der Gesang der Hirtenflöte in der Pantomime wirkte wie ein Gedicht von Paul Verlaine und das bacchantische Finale mit punktierten schnellen Viervierteltakten, begleitet von gewaltigen Trommelwirbeln, wurde bei einem fast hundertköpfigen Orchester zu einem veritablen Saalbeben. Das aber mit schwebender Leichtigkeit.

Der Pavane pour une infante défunte - auf Deutsch: … für eine tote Prinzessin (1899), ein langsamer Schreittanz aus dem 17. Jahrhundert (spanisch-italienischer Provenienz), in einem sterbend schönen Duett von Flöte und Oboe vorgetragen, folgte der bereits genannte Boléro.  
Eine spannungsgeladene Variation von ungeheurer Dichte und aufreibender Getragenheit. Ravel wollte es in 72 Schlägen pro Minute gespielt haben. Ein langsames Tempo, das den Tanz auf etwa 17 Minuten ausdehnt. Unter der Hand von Marco Letonja dauerte es zwar „nur“ gut 15 Minuten (Ravel hätte es wohl nicht gefallen), aber dafür gelang ihm das wichtigste Kriterium des sich 18-mal wiederholenden Themas: das Halten der fragilen Spannung von Anfang bis zum Schluss. Man war unmittelbar an den Satz des Malers Wassily Kandinsky (1866-1944) erinnert, der über die Wiederholung der Klänge einmal gesagt haben soll: „Die Wiederholung der Klänge, die Aufhebung derselben verdichtet die geistige Atmosphäre, die notwendig zum Reifen der Gefühle …, so wie zum Reifen verschiedener Früchte die verdichtete Atmosphäre eines Treibhauses notwendig, eine absolute Bedingung zum Reifen ist.“ Besser kann man es nicht zum Ausdruck bringen.

Marco Letonja ist seit 2012 Chefdirigent des Orchestre Philharmonique de Strasbourg wie auch seit 2018/19 Generalmusikdirektor der Bremer Philharmoniker. Glücklich kann der sich schätzen, der ihn zum Dirigenten hat.


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