Dienstag, 19. November 2019


Happy New Ears 2019: Portrait Brian Ferneyhough (*1943), Werkstattkonzert mit dem Ensemble Modern in der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK), 18.11.2019

Brian Ferneyhough (Foto: Colin Still)

Kurz und knackig aber mit viel Substanz

Und sie geht doch weiter, die legendere Reihe der Portraitkonzerte des Ensemble Modern in Kooperation mit der Oper Frankfurt, die –  seit 1993 bestehend – mit Brian Ferneyhough (*1943) seine 107. Auflage im Großen Saal der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK) erlebte. Kurz und knackig ging es im vollbesetzten Saal zu. Präzisen Fragen folgten eben solche Antworten. Zwei Werke von insgesamt 30 Minuten. Nach knapp einer Stunde konnte man geistig und seelisch bereichert aus einem der „letzten Widerstandsnester“, nämlich dem der Musik nach Hause gehen.

Aber eins nach dem anderen. Ferneyhough, einer der letzen Avantgardisten unserer Zeit, dessen Komplexismus ganze Generationen von Komponisten beeinflusst und geprägt hat, bot zwei seiner Werke an, zwischen denen gut fünfzig Jahre seines Schaffens liegen. Die zum ersten Mal vom Ensemble Modern im vergangenen Jahr aufgeführten Gerhard Variationen (1965) und die Contraccolpi (Gegenschläge) von 2014/15, die wohl erstmals in Frankfurt zu hören waren.

Ferneyhough war gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt, als er die Gerhard Variationen komponierte. Vorbild und Namensgeber dieses elf-minütigen, viele Jahre verschollenen Quintetts für Bläser war die Dritte Sinfonie (1960) des Katalanen und Schönberg-Schülers Roberto Gerhard (1896-1970), der auch Lehrer des jungen Ferneyhough in Cambridge war.

Im Gespräch mit Stefan Fricke, bekannt für seine zielorientierten Interviews, musste Ferneyhough allerdings einräumen, nicht mehr zu wissen, aus wessen Werk des Komponisten er seine Ideen geschöpft habe. Sieben Töne einer Reihe aber hätten es ihm damals angetan. Vier konsonante Intervalle (Sexten, Terzen) und drei aus dem dissonanten (Sekunden, Septen) Bereich. Sein Problem sei es schon als Jugendlicher gewesen, nach neuen Tonkonstellationen zu suchen und den Farbenreichtum der Instrumente auszuloten (liebend gerne habe er defekte Blasinstrumente repariert und so ihre Technik kennen gelernt). Nicht von ungefähr habe er deshalb Horn, Klarinette, Oboe, Fagott und Flöte ausgewählt, weil ihre Mischung eine unterschiedliche Beleuchtung der musikalischen Textur ermögliche.
Ensemble Modern (Foto: Vincent Stefan)

Mit der Musik die Welt beim Kragen fassen


Tatsächlich changierten diese Variationen (sieben an der Zahl) zwischen Tradition und Moderne, zwischen konservativ und exotisch. Wunderschöne Harmonien crashten mit extremen Clustern, mal vermeinte man Vogelstimmen zu vernehmen, mal hörte man Bombeneinschläge und Detonationen. Jedes der Instrumente kam in jeder Variation zu seinem Recht. Dialogisch bis zum aufgeregten Disput steigerte sich das Zusammenspiel der fünf Ausnahmemusiker (Christian Hommel, Oboe, Johannes Schwarz, Fagott, Thaddeus Watson, Flöte, Saar Berger, Horn, und Hugo Queierós, Klarinette), die die Partitur mit großer Empathie und technischer Versiertheit vorstellten. Erst das abschließende Flötensolo mit einem Vierton-Motiv und einer abfallenden Terz führte wieder zu einem friedlichen Gruppenkonsens.

Ferneyhough, der selbst von seinem jugendlichen  „Problembewusstsein“ überrascht zu sein schien, konnte nicht umhin, das lange in seiner Schublade vor sich hin staubende Werk als „gelungen“ zu bezeichnen und die philosophische Quintessenz daraus zu ziehen: „Man muss was verlieren, um etwas Neues zu gewinnen.“ Aus der Perspektive des Hörers formuliert: Mit dieser Musik packte Ferneyhough die Welt bereits beim Kragen. Sein Weg zum Seriellen und Komplexen zeichnete sich bereits ab, wenngleich diese Variationen doch auch noch eine Menge seines jugendlichen Humors und Erfindungsreichtums im Wechselspiel von Tonalität und Atonalität widerspiegeln.

Das Unvereinbare vereinbaren


Eine andere Qualität haben dagegen die Contraccolpi. Ferneyhough bekannt für seine hochkomplexen Kompositionen, die höchste Anforderungen an die Interpreten aber auch an die Dirigenten stellen, hat hier, ähnlich wie in seiner Jugendkomposition, die Gegensätzlichkeit des Materials zum Thema gemacht. Es sind hier aber nicht die Intervalle, sondern zwei „Arten von musikalischen Charakteren“, die er „gegeneinander hetzt“. (Ferneyhough)

Immer geht es dem Komponisten um Problemlösungen. Hierzu äußerte sich der in das Gespräch einbezogene Dirigent des Abends, Daniel Cohen (*1984) – seit 2018 Generalmusikdirektor in Darmstadt. Er gab zu, bei der Durchsicht der Partitur zunächst in Panik geraten zu sein. Nach drei Schritten der Analyse (Durchsicht, Kalkulieren und Sprache erlernen, Evaluieren und musikalischen Gehalt erschließen), habe ihn das Werk allerdings überzeugt. Es stehe zwischen Synchronizität und Asynchronizität, zwischen Einheitlichkeit und Uneinheitlichkeit, zwischen Eigenzeit und Gesamtzeit. Ein Balanceakt, der ihn fordere, aber nicht überfordere.

Zwölf MusikerInnen des Ensemble Modern – darunter zwei Schlagzeuger, mit Keyboard, Klavier, Englischhorn, Bassflöte und Kontrafagott – arbeiteten sich förmlich an einer Textur ab, die sich zur Aufgabe stellte, „das Unvereinbare miteinander zu vereinen“. (Ferneyhough)

Extrem der Klavierpart mit Clustern und sprunghaften, punktuellen Elementen. Dazu ein Klangkörper, der zwischen Vielfalt und Einheit und vice versa changiert. Jedes Instrument scheint in Zeit und Metrum eigene Wege einzuschlagen. Plötzliche Schläge vom Schlagwerk oder spontane, fanfarenartige Töne einzelner Instrumente sorgen für kurzfristigen Zusammenhalt. Auch der Dirigent schafft durch klare Gestik und Taktwechsel Einheit in der Vielfalt der Klänge und Ereignisse. 
Wunderschöne Streicherpartien und Versöhnlichkeit dann im Mittelteil (Marimba und Kuhglocken, Ratschen und Horn lassen ein liedhaftes Miteinander heraushören).

Gegen Ende dann ein Rückbezug, eine Art Reprise, die das musikalische „Substrat“ des Anfangs wieder aufnimmt, aber ohne Hetze. Im Gegenteil. Alles beruhigt sich, alle Musiker finden zusammen und lassen das  achtzehn-minütige Werk gelassen und einheitlich ausklingen.

Brian Ferneyhough (Foto: Agathe Poupeney)

Ein fantastischer Mensch und eine Ausnahmeerscheinung


Ferneyhough, der in diesem Jahr bereits drei Mal an der HfMDK lehrte, dozierte und Konzerte gab, verabschiedete sich nun endgültig nach einer, wie er sagte, „fantastischen Zeit in Frankfurt“, um nach San Diego, seinem Lebens- und Arbeitsort, zurückzufliegen. Sein rhetorisches Vermögen, seine sprachliche Klarheit, sein Erfindungsreichtum und vor allem sein kompromisslos avantgardistischer Anspruch an die Musik machen ihn zu einer Ausnahmeerscheinung in der heutigen Zeit. Seine Musik ist ein Gegenkonzept zur Abstumpfung der Sinne, seine persönliche Erscheinung ein Vorbild für die Jugend. Der Beifall war herzlich und dauerte lang an.


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