Grigory Sokolov,
Klavierrezital in der Alten Oper Frankfurt, 12.11.2019 (Eine Veranstaltung von
PRO ARTE Frankfurt)
Grigory Sokolov (Foto: Paul Sklorz/Pro Arte) |
Altes wird zur bezwingenden Neuheit
Der im Jahre 1950 in St. Petersburg geborene Grigory Sokolov, seit vielen Jahren regelmäßiger Gast in Frankfurt und Rhein Main, gehört mittlerweile zur Institution des Konzertlebens in der Region. Seine Programme scheinen auf den ersten Blick gediegen und konservativ zusammengestellt mit Werken von Mozart, Schubert, Beethoven, Chopin, Schumann oder Brahms, halteben das klassische bis romantische Repertoire. Aber bei Sokolov gibt es keinen Konservatismus, kein Schwelgen in Traditionen. Jedes Werk wird unter seinen Händen zu einer bezwingenden Neuheit, zu neuer interpretatorischer Kraft, ja zu einer einzigartigen Erlebniswelt.
Sokolov entschied sich für drei Werke von Wolfgang Amadeus Mozart
(1756-1791): Präludium und Fuge C-Dur
(KV 394) ca. 1782 entstanden, Sonate für
Klavier Nr. 11 A-Dur von 1779 (KV 331) sowie Rondo
a-Moll (KV 511), das Mozart 1787 als Reaktion auf den Tod eines Freundes
komponierte. Für den zweiten Teil des Konzerts hatte er von Johannes Brahms
(1833-1897) die beiden letzten Klavierzyklen
op. 118 und op.119 (1893) ausgewählt.
Mozart in die Tiefen des Geisterreichs geführt
Ganz im Sinne des von Brahms sehr geschätzten E.T.A.
Hoffmann, führte Sokolov zunächst „in die
Tiefen des Geisterreichs“ von Mozart ein. „Ich schwelge in Mozarts Sonaten“,
soll Brahms einmal geäußert haben. Sokolov jedenfalls spielte sich in die melancholische,
prometheische, fantastische und dämonische Seelenlage des Komponisten. In einem
durchgehenden Block, quasi ohne Atempause, führte er in das erratische, fast
etüdenhafte Präludium mit Fuge ein. Ganz im Stile Johann Sebastian
Bachs wie auch seines Sohnes Carl Philipp Emanuel – den Mozart übrigens als Vater seiner Generation bezeichnete: "Er ist der Vater, wir sind Bubn." – präsentierte er dieses selten gespielte, „über
den Horizont der Menge“ (Mozart) hinausgehende Werk unter Auslotung des
Innersten von Mozart, zwischen Leid und Freude, Freiheit und Gesetz, Chaos und Ordnung.
Die A-Dur Sonate
mit der berühmten oftmals strapazierten Alla
Turca und dem variativen Ersten Satz spielte Sokolov leicht und klar, von
lichter Transparenz getragen. Mit barockem Impetus dagegen das Menuetto und Trio
des Mittelsatzes. Das türkische Kolorit des Schlusssatzes – nach fast hundert
Jahren türkischer Belagerung Wiens (1683) stand die Militärmusik der Osmanen
hoch im Kurs – verstand Sokolov mit Trommelwirbel und Tschingderassabum
Gerassel bei getragenem Marschtempo eindrucksvoll zu verbildlichen. Mit
auffallendem Ritardando leitete er in das Rondo
a-Moll über.
Auch wieder ein rätselhafter, undurchschaubarer
Mozart. Chromatik dominiert das Andante, das zwar dem Schema des Rondos entspricht,
aber auch Sonatenform, Kontrapunktik und Variationen enthält. Zusammengehalten
wird das zehnminütige Werk durch einen tänzerischen Sechsachtel-Takt, der aber
über den zutiefst düsteren Charakter hinwegtäuscht. Mozart schrieb es
bekanntlich für den verstorbenen „liebsten und besten Freundes Graf von Hatzfeld“.
Auch dieses Werk schaut nicht allein in die seelischen Abgründe des Komponisten,
sondern auch in die romantische Innerlichkeit des 19. Jahrhunderts. Sokolov verstand
in verblüffender Deutlichkeit, die Diskrepanz zwischen Dämonie und Galanterie
aufzureißen und die menschlichen Tiefen eines W. A. Mozart auszuloten.
Ein klingender Abschied
Johannes Brahms verbrachte viele Sommermonate in Bad Ischl,
wo seine gesamten Spätwerke, die Opera 108 bis 122, darunter auch die vier
Bände mit Klavierstücken entstanden. Sokolov entschied sich für die op. 118 und op. 119. Es sind sehr intime Klavierstücke (Brahms lehnte jegliche Programmbezeichnung
ab und nannte sie Intermezzi, Balladen, Romanzen, Rhapsodie oder Kapricen), aber
weit entfernt davon, als Charakter- oder Fantasiestücke bezeichnet werden zu
können.
Tatsächlich erinnern sie an Improvisationen mit Blick auf
die wunderschöne alpine Welt der Seen und Berge im österreichischen Salzkammergut.
Auch hier spielte Sokolov die zehn Stücke en
bloc, sechs aus op. 118 und vier aus op.119, und gab damit dem Zyklus einen
runden, in sich einheitlichen Zusammenhang. Dennoch unterscheiden sich beide
durch die Motivauswahl. Werden op. 118 von Dreitonmotiven bis hin zur typischen
Dies Irae Tonfolge zusammengeschweißt
und vermitteln somit den Impetus von Wut, Aufruhr und tiefer Trauer (das Largo e mesto des sechsten Stückes
gehört wohl zur dunkelsten Trauermusik, die Brahms komponiert hat), so wirkt
das op. 119 mit seinen drei Intermezzi
und der abschließenden Rhapsodie doch
eher aufmunternd und fröhlich.
Herausragend dabei das zweite Intermezzo mit einem grazilen Ländler, das humorvolle Dritte in
C-Dur im tänzerischen, rhythmisch verschobenen 6/8 Takt und langen melodischen
Linien und die abschließende Rhapsodie
in erhabenem Es-Dur, einem kraftvollen Hörnerklang gepaart mit unglaublich
virtuosen Elementen. „Zwei Hände reichen kaum aus, um das gewaltige Stück zu
bändigen …“ meinte dazu einmal der Brahms Biograph Max Kalbeck, womit er den
Nagel auf den Kopf trifft.
Sokolov meisterte mit orchestraler wie feinst ziselierter Hand diese Stücke und verstand es auch hier, in
die Seele des Komponisten einzudringen. Bekanntlich versagte Brahms diesen
Stücken jegliche Bearbeitung, auch spielte er sie am liebsten selbst im kleinen Kreis und erlaubte es lediglich der Schülerin Clara Schumanns, Ilona
Eibenschütz (1872-1967), die als eine der ersten in Bad Ischl die Stücke aus
der Hand des Komponisten hören durfte, diesen Zyklus öffentlich in London 1894
aufzuführen. Ein Indiz dafür, wie persönlich diese Opera einzuschätzen sind.
Brahms selbst hat seine Klavierhefte des Jahres 1893 (darin op. 118 und op.119
enthalten) als „klingenden Abschied“ verstanden.
Grigory Sokolov (Foto: Paul Sklorz/PRO ARTE) |
Sokolov eine Institution von grenzenloser Vielfalt
Für Sokolov trifft das hoffentlich nicht zu. Sein Rezital
berührte zutiefst und lässt weiter auf ihn bauen. Er ist eine Institution von
grenzenloser pianistischer Vielfalt. Wie üblich in Frack mit langen
Schwalbenschwänzen spielte er völlig unprätentiös, ohne Schnickschnack und
Allüren, verließ in schnellem Schritt die Bühne, um seine gewohnten sechs Zugaben
zu präsentieren.
Aus seinem reichhaltigen Repertoire, alles ohne Noten, bot
er Schuberts Impromptu op. 142 Nr. 2,
Chopins Mazurka op. 68 Nr. 2,
Rachmaninoffs Prélude op. 32, Nr. 12,
Brahms Intermezzo op. 117, Chopins Mazurka op.30 Nr. 2 sowie aus Chopins Préludes op. 28 die Nr. 20. Unglaublich aber wahr, ein Pianist, der mit dem Flügel
zusammengewachsen zu sein scheint. Tatsächlich ist bekannt, dass er seine Gerät
nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Partner versteht und das hört man aus
jedem seiner Anschläge der Tasten heraus.
Sokolov mag vielleicht in die Kategorie der aussterbenden
Pianistengeneration gehören (alt, ehrlich und so ganz ohne Glamour). Sollte es
so sein, dann hat die Welt einen nicht wieder gut zumachenden Verlust erlitten. Sein
treues, den Großen Saal der Alten Oper Frankfurt füllendes, absolut begeistertes Publikum stimmte dagegen optimistisch.
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