Freitag, 15. November 2019


Tanzfestival Rhein Main vom 31.10 bis zum 17.11.2019, Motto: Moving Beyond

TANZ, Choreographie und Konzept Florentina Holzinger, Künstlerhaus Mousonturm, 14.11.2019
TANZ von Florentina Holzinger (Foto: Josefin Arnell)

Wie regiere ich meinen Körper?

Florentina Holzinger wirbt mit einer überdimensionieren Vulva auf ihrem Rücken. Was will sie uns damit sagen? Sie will in ihrer neuen Produktion TANZ „die Geschichte des Balletts aufarbeiten“, die voller Sexismus und Voyeurismus, den Frauen und Tänzerinnen (nur ihnen?) in höchstem Maße Kultivierung und Disziplinierung ihrer Körper abverlangt, um den Blicken des (männlichen) Publikums zu genügen. „Natürlich  kann man das kritisch betrachten“, meint sie dazu, „aber für mich ist es halteben ein Résistance Training, der Körper in Résistance, und von daher ist es auch eigentlich etwas Cooles.“


Holzinger hat ihre gut zweistündige Performance dazu in zwei Akte untergliedert, wobei der 1. Akt aus einer Trainingseinheit mit vier Tänzerinnen an Ballettstangen und der 2. Akt eine Sylphiden Geschichte (schwerelose Waldfeen) erzählt, wohl auch angelehnt an das Pariser romantische Ballett La Sylphide (Choreografie: Filippo Taglioni) von 1832 sowie an die zahllosen Abwandlungen (u. a. auch Les Sylphides von Michel Fokine mit Musik von Fréderic Chopin, das Anfang des 20 Jahrhunderts in Paris Furore machte) bis heute.

Es beginnt mit einem Tanzunterricht. Eine nackte fast 80-jährige Dame (sie ist Beatrice Cordua, die als Prima Ballerina unter John Neumeier häufig nackt tanzte, darunter auch den Sacre du Printemps) gibt einigen Eleven, darunter auch Florentina Holzinger (*1986), Anweisungen. Das Motto lautet: How to govern the body.

Hexen und Feen zwischen Erfolg und Misserfolg


In drei Lessons: “How to be where you are”, “How to be light” und “How to leave the floor”, lässt sie die Tänzerinnen bis zur völligen Nacktheit entkleiden. Die Pliés, Piqués und Passés werden immer komplizierter, die Phrasen der Trainerin immer hintergründiger. „Alles unter Kontrolle“ triumphiert sie schließlich, während die Tänzerinnen sich in sexistischen Posen üben, ihre Muschis zeigen, masturbieren und von Orgasmen träumen. Man wünscht sich Painting, gutes Essen und Urlaub in Thailand. Die Szenerie wechselt abrupt. Ein Hexenkessel mit geifernder Bitch lässt nichts Gutes ahnen. Ein schwarzer Zauberkasten gebiert eine Puppe, die schreiend mit ihrer vermeintlichen Mutter im Kessel gekocht wird. Hexen und Feen symbolisieren das reale Terrain zwischen Erfolg und Misserfolg auf den Brettern, die die Tanzwelt bedeuten.

Und weiter geht dieses Spiel. Die „nackte Wahrheit“ der Ballettgeschichte wird von Holzinger erzählt, während zwei Tänzerinnen in Eimer urinieren. Eine Selbstverliebte stylt ihr Gesicht, eine irre Hexe kämmt sich  hektisch das Haar, eine Ganzkörper tätowierte Tänzerin bewegt sich lasziv vor dem Publikum, während eine mobile Close-up Kamera tiefe Einblick gewährt.

Mittlerweile sind schon einige Duzend der Zuschauer verschwunden, ein junger Mann hat offensichtlich einen Schwächeanfall erlitten. Nach einer pornoreifen Motorradnummer (perfekt von einer Porno-Produzentin für die männlichen Blicke zusammengestellt) und einem Taschenspielertrick-Spiel (ein von Holzinger initiierter Mental-Trick, möglicherweise um die Gemüter zu beruhigen und ein wenig Spaß zu vermitteln) folgt Akt 2, ein Undinen-Slapstick mit Wolf, Wald, Feen und fliegender Leichtigkeit.
TANZ von Florentina Holzinger (Foto: Eva Würdinger)

Viel Zirkus, Stunts und Revue im Feenwald

Hier zog Holzinger alle Register der Revue, der Zirkusnummern, der Stunts und was es sonst noch alles an Akrobatik und Absonderlichkeiten auf dem Körper-Markt gibt. „Animals will follow you“, lautete jetzt das Motto. 

Und das mit künstlichem Nebel, der Trainerin auf einem rollenden Chefsessel (Königin der Ratten) und neben ihr ein devoter Wolf, der zum brüllenden Löwen und aggressiven Widerpart mutiert; einer wirklich eklige Rattengeburt mit Close-up Kameraführung bis in die Vulva von Cordua; mit drei Frauen an ihren Haaren („How to be light“) und eine an ihrer Nackenhaut (das Bodypearcing wurde bis ins Detail auf der Screenfläche mit verfolgt) aufgehängt, hier unter dem Motto „Having thick skin“; einer Schattenschlacht von gefährlicher Stuntqualität mit an Zugseilen geführten Kämpferinnen (Kickboxing); einer gekonnt unter Schmerzkrämpfen zuckende Schlangenfrau-Akrobatik-Nummer; spektakulären Stürzen („Moving things without touching“) und last but not least mit einer gnadenlos gut inszenierten Schlägerei, bei der der Wolf dran glauben muss. 

Er wird gepfählt. Alles ist gut – oder auch nicht („to gain knowledge, one needs to penetrate something“).

Geisterstunde mit Gettoblaster und Ghost Buster Musik, ein Hochzeitspaar (herrlich gespielt von einer der Tänzerinnen) und sogar ein gut gesungener vierstimmiger Choral der zehn Aktricen beenden das blutige wie nackte, alle Körperöffnungen und Glieder (sogar mit Körperteilen wurde nicht gespart) bedienende Schauspiel.

Und täglich grüßt das Murmeltier


Der Wolf ist tot (wer auch immer damit gemeint ist), alle tanzen vereint Spitze. Eine Tänzerin sitzt auf der Holzwand und ruft dem Publikum, mittlerweile arg gelichtet, eine gute Nacht zu: „Ich schließe meine Augen, ich will kein Bild mehr sein. Es tut mir leid!“ Aber Holzinger wäre nicht Holzinger, wenn nicht noch ein verstörendes Finale folgen würde.

Blutbeschmiert, verdreckt und erschöpft fordert die Rattenkönigin zum weiteren Training auf. Die Barren werden aufgestellt und die Mädels hören auf die Befehle der Trainerin wie zu Anfang – und täglich grüßt das Murmeltier.

TANZ von F. Holzinger (Foto: Eva Würdinger)

Moving beyond mit ambivalenter Note


Florentina Holzinger, der der Ruf vorauseilt, die provokanteste Choreografin Österreichs zu sein, und ihr Team um Josefin Arnell (Lifekamera und Videodesign), Stefan Schneider (Sounddesign und Lifesound) sowie Anne Meeussen (Lichtdesign und technische Leitung) haben dem Festival Motto Moving beyond eine ambivalente Note verschafft.

Sehr professionell und mit größter Anstrengung ist es ihr gelungen, zehn (mit ihr elf) unglaublich versierte und in ihrem Metier höchst ambitionierte Frauen in ihr „Gesamtkunstwerk“ einzubauen und eine extraordinäre voyeuristische Nude-Show für alle Geschlechter zu produzieren. (Was kommt eigentlich danach?) Eine Menge Anspielungen, Allusionen und versteckte Hinweise auf die Kulturszene in Österreich (Stichwort Hermann Nitsch, der provokanteste Aktionskünstler des Landes) wie auch auf das Tanzbusiness und überhaupt auf den kulturindustriellen Komplex, der Künstler in der neoliberalen Postmoderne auf Gedeih und Verderb dazu zwingt, alles über sich und von sich zu geben, um in diesem Geschäft überleben zu können, durchziehen diese Performance. Holzinger treibt die Körperkunst über ihre Grenzen, manchmal humorvoll oder ironisch, zuweilen aber auch geschmacklos und abstoßend. Immerhin erreicht sie damit einen aufgeregten Diskurs (Small Talk im Anschluss der Vorstellung) über Ästhetik, Schönheit, Weiblichkeit, Emanzipation und Feminismus.

Alles in allem hatte diese TANZ-Performance mit Überlänge, von ihr gedacht als Synthese ihrer vorherigen Arbeiten wie Recovery (2017) und Apollon (2018), großen Unterhaltungs- und Abstoßungswert. Aus der Sicht eines Mannes aber wenig Tiefgang und Reflexionswert. Man ist geneigt in diesem Sinne der Meisterin zu folgen, die zu ihren Stücken meint: „Im Endeffekt will ich nichts anderes, als Leute zu unterhalten – in erster Linie mich selber.“ Das ist - treffend formuliert - die Quintessenz von TANZ 2019.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen