Tamerlano (1724/31),
Dramma per musica in drei Akten von Georg Friedrich Händel (1685-1759),
Bockenheimer Depot Frankfurt, Premiere am 07.11.2019
Lawrence Zazzo (Tamerlano), im Hintergrund von links: Yves Saelens (Bajazet), Elizabeth Reiter (Asteria), Brennan Hall (Andronico) Fotos: Monika Rittershaus |
Ein labyrinthischer Bunker als geistige Grenzöffnung
Kalte, weiße Wände und eine Menge Personal empfangen den Besucher der Oper Tamerlano (1724/3) von Georg Friedrich Händel im Frankfurter Bockenheimer Depot. Das ehemalige Lager der städtischen Straßenbahn ist in einen labyrinthischen Bunker verwandelt und soll, so die Absicht der Regie, „die Grenze zwischen DarstellerInnen, SängerInnen, Ensemble und Publikum aufheben“. Alle sollen ausnahmslos Teil des Geschehens auf der Bühne werden. Ob das funktioniert?
Die Bühne: ein Drahtkäfig für das Orchester, grün bezogene Bänke,
Flaschenkästen, Feuerwerkskörper mit viel Glitzer am Boden – ein trostloser Anblick.
Doch Tamerlano (Lawrence Zazzo), ein
Cowboy und Showmaster mit viel amerikanischem Sendungsbewusstsein, belebt den
Raum, führt das Orchester galant in den Gitterkasten, schließt ab, begrüßt das
Publikum mit Handschlag und schafft allgemein lockere Stimmung im Saal. Das
Ganze aber will so überhaupt nicht zur Tragödie passen.
Da sind nämlich Bajazet (Yves Saelens, Tenor), in bürgerlich silbergrauem Anzug mit der Startnummer
295 an der Brust, ein Gefangener Tamerlanos; Andronico (Brennan Hall, Countertenor und Europa-Debütant), ein Halbstarker in ärmelloser
Jeansjacke und Levi´s mit Startnummer 12, dessen machtloser Vasall und
Geliebter Asterias (Elizabeth Reiter,
Sopran).Sie ist die Tochter Bajazets und Gefangene, im grauen Trainingsanzug
mit der Startnummer 9, und soll ausgerechnet Tamerlanos Frau werden, wo sie doch
Andronico liebt. Ein No go.
Und da sind noch Irene (Cecilia
Hall, Mezzosopran), eine Art Rockerbraut in glitzersilbernen Hosenanzug,
Lederjacke und Motorradhelm, die Verlobte des Tamerlano (beide haben sich noch
nie gesehen) und Leone (Liviu Holender,
Bariton), in der Kleidung der „Crew“ (alle Helfer hatten blaue Crew-Kittel an),
in der Rolle des Kommentators, aber auch die rechte Hand und Diener des
Tyrannen. Alles andere also als ein lustiges Quintett, das da Tamerlano umgibt.
Elizabeth Reiter (Asteria), Lawrence Zazzo (Tamerlano) |
Von der Irritation zur emotionalen Teilhabe
Nein, wir befinden uns tatsächlich in einem Gefängnis mit
illustren, zunächst undurchschaubaren Personen, Marionetten des ungeheuer
agilen und selbstgefälligen Tamerlano, der mit Charme und Hut seine Interessen gegen
all ihre Widerstände durchsetzt.
Anfangs irritierend, zwischen schriller Komödie und seichtem
Drama (Lawrence Zazzo brillierte
nicht nur stimmlich, sondern auch als perfekter Showmaster und kulturloser
Draufgänger), entwickelte sich das Dramma
per musica Schritt für Schritt zur Tragödie, woran das Publikum, ob gewollt
oder nicht, sukzessive teilhaftig wurde.
Bereits im zweiten Akt änderten sich Kostüme und
Handlung: Asteria steckt jetzt im schrägen Hochzeitskleid mit überdimensionierten
Schultern, worin sie sich sichtbar unwohl fühlt. Dazu schwarze Handschuhe und
schwarze Stiefel. Andronico wandelt sich in einen 12er Footballer, Bajazet zum
Trainer, oder möglicherweise Guantánamo Gefangener in oranger Montur. Irene
ersetzt ihr Leder durch eine billige Flauschjacke und Tamerlano wechselt seinen
amerikanischen Countrylook in den Habitus eines - bösen - Clowns.
Erst im dritten Akt fallen endgültig die Hüllen und das
Menschliche, allzu Menschliche kommt zum Vorschein. Alle Täuschungen, Lügen und
Intrigen weichen den wahren Absichten. Ans Tageslicht kommen die wahren
Gesichter der Protagonisten. Asteria entledigt sich der ungeliebten Hochzeitsverkleidung,
bekennt sich zu ihrem Vater und zu Andronico. Tamerlano reißt sein Toupet vom
Kopf und zeigt das Gesicht eines humorlosen, machtgierigen und über Leichen gehenden
Tyrannen. Andronico ist trotz Footballdress (warum trägt er es überhaupt?) nur noch Mensch
und Geliebter Asterias. Irene und Leone bleiben wie sie sind. Ihre Rollen stehen fest.
Und Bajazet? Er, im völlig verölten (Tamerlano hat ihn
gequält und gedemütigt) Trainings- oder Guantánamo-Anzug, singt seine große Sterbearie und schafft mit seinem Freitod Versöhnung. All das geschieht mitten in den
Publikumsreihen. Die Tragödie hat sich von der Bühne mehr und mehr in den
öffentlichen, in den Publikumsraum verschoben.
Großartige Gesangsnummern zwischen Liebe, Hass, Wut,
Enttäuschung, Misstrauen und Versöhnung wurden so hautnah miterlebt und
mitempfunden.
Elizabeth Reiter (Asteria), Yves Saelens (Bajazet) |
Eine Legendenerzählung von großer Aktualität
Es war die 18. Oper Händels, die 1724 im Londoner Haymarket über
die Bühne ging und vor allem wegen der modernen Instrumentierung (Händel
benutzte erstmals die neu entwickelten Klarinetten), der Besetzung (erstmals sang ein Tenor statt ein Counter
die Hauptrolle) und dem außergewöhnlichen Schluss- bzw. Sterbemonolog des
Bajazet (erst 1731 vom damals berühmten Tenor Francesco Borosini, 1680-1731,
ergänzend hinzugefügt) großes Aufsehen erregte. Ein Ende ohne Lieto Fine? Ein Unding bis dahin.
Aber Händel schaffte trotzdem mit dem fantastischen Streich-und
Gesangsquartett: „D´atra notte giá mirasi a scorno“ - ohne Tamerlano versteht
sich - eine unglaublich eindrucksvolle Schlussapotheose: „Hell scheint in den
Todesflammen das Licht der Liebe!“ Der Schlussklang im Unisono sollte wie eine
Metapher auf die menschlichen Tugenden wirken.
Nach der historischen Legende einer schicksalsträchtigen Gefangenschaft von Sultan Bayazet
I. (1389-1402), bei
Timur Leng (1336-1406), einem mongolischen Hirten und Eroberer in der Nachfolge Dschingis Khans, und in der Bearbeitung des Haus-Librettisten Nicola Francesco Haym (1678-1729), schrieb
Händel diese Oper angeblich in 20 Tagen (mit vielen Veränderungen bis zur Schlussfassung
1731) und verarbeitete darin nicht allein die Intrigen des englischen
Königshofes, sondern auch die der bürgerlichen Londoner Parlamentarier.
stehend: Yves Saelens (Bajazet), Elizabeth Reiter (Asteria), sitzend von links: Lawrence Zazzo (Tamerlano) Cecilia Hall (Irene), Brennan Hall (Andronico), Liviu Holender (Leone) |
Außerordentliche Charakterentwicklungen
R. B. Schlather
(Regie und Europa-Debüt), Paul Steinberg
(Bühnenbild), Doey Lüthi (Kostüme)
und Marcel Heyde (Licht) haben mit
Tamerlano eine Oper von großer Aktualität, eindringlichen Bildern und – in
einer Art Wettkampf mit Startnummern – ein machiavellinisches Gerangel zwischen
dem Príncipe und seinen Untergebenen/Gefangenen inszeniert, das passgenau das aktuelle
Klima der politischen Polarisierung und Weltuntergangshysterie widerspiegelt und dabei tief unter die Haut
geht.
Elizabeth Reiter,
die einen Tochter-Vater-Konflikt austrägt und dabei eine gewaltige
Persönlichkeitsentwicklung erfährt. Sie
wandelt sich von der passiven, dem Vater nahezu hörigen Tochter, enttäuscht von
Andronico, den sie liebt, der sie aber vermeintlich an Tamerlano verkuppelt, zur
selbstbewussten, geradlinigen, ja absolut emanzipierten und leidenschaftlich
liebenden Gefährtin und Frau. Reiter trumpfte in dieser Rolle gesanglich wie
schauspielerisch zu wahrhafter Höchstleistung auf und wurde zur Heldin des
Abends.
Brennan Hall (Andronico), Elizabeth Reiter (Asteria), Frankfurter Opern und Museumsorchester |
Lawrence Zazzo,
ein unglaublich charmanter Tyrann, dem man zunächst weder die Peitsche („Ich
will die Wut bändigen, eine mit unmenschlich schwieriger Koloratur gespickte
Arie im ersten Akt), noch seine humorvoll vorgetragenen Drohgebärden abnimmt. Seine
Rolle steigert sich wie in einem Wettkampf bis zur gnadenlosen Demütigung
seiner Gefangenen. Sein Humor, seine Unterhaltung, sein Amüsement verwandeln
sich zur Clownsfratze und werden zum Schreckgesicht eines Machtbesessenen. Erst
der Suizid Bajazets lässt ihn zur Besinnung kommen. Zazzo musste alle charakterlichen
wie gesanglichen Register ziehen, um dieser Wahnsinns-Rolle gerecht zu werden.
Tamerlano wurde durch ihn zu einer grandiosen Oper, die den Namen verdient.
Brennan Hall, ein
athletischer junger Mann bestach durch sein lyrisches, sehr hohes Timbre. Er
spielte den verzweifelten Liebhaber und konnte sich erst am Ende vor Tamerlano
offen zu Asteria bekennen. Seine aggressive Montur stand
allerdings in diametralem Gegensatz zu seiner Rolle als Zweifelnder und
bedingungslos Liebender.
Cecilia Hall,
die eigentlich Tamerlano um jeden Preis bekommen möchte, denn mit ihm verbindet
sie Macht und Sicherheit, fiel durch ihre warme aber kräftige Mittellage auf.
Sehr überzeugend ihre Arie als aufmüpfige Göre: „Dal crudel che mi ha tradita“ (Von
den Grausamen, die mich betrogen haben) am Ende des ersten Aktes.
Auch Liviu Holender, neues Ensemblemitglied der Oper Frankfurt ließ mit einem sehr grundierten, klangvollen Bariton aufhorchen. Seine Rolle als Diener und Kommentator fand zwar keine Entwicklung, brachte aber viel Abwechslung in das Gesangssextett. Er verkörperte irgendwie die Masse Mensch, die unbeteiligt hinschaut, kommentiert, reagiert, eventuell den Dreck der anderen beseitigt, aber weder agiert, handelt noch am politischen Geschehen aktiv teilnimmt.
Auch Liviu Holender, neues Ensemblemitglied der Oper Frankfurt ließ mit einem sehr grundierten, klangvollen Bariton aufhorchen. Seine Rolle als Diener und Kommentator fand zwar keine Entwicklung, brachte aber viel Abwechslung in das Gesangssextett. Er verkörperte irgendwie die Masse Mensch, die unbeteiligt hinschaut, kommentiert, reagiert, eventuell den Dreck der anderen beseitigt, aber weder agiert, handelt noch am politischen Geschehen aktiv teilnimmt.
Frankfurter Opern- und Museumsorchester, Lawrence Zazzo (Tamerlano) mit Cowboyhut bei der Einweisung des Ensembles |
Musikalische Farbenpracht als Kulisse einer hochemotionalen Gesamtshow
Trotz der langen Spieldauer eine sehr kurzweilige, tiefgründige,
nachdenkliche und emotional ergreifende Operninszenierung mit einem grandiosen historisch
informiertem Spiel (Karsten Januschke)
der Mitglieder des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters, die auf teilweise
barocken Instrumenten (Klarinette, Chalumeau, Laute und Barockgitarre)
effektvoll, dramatisch und in makelloser Einheit mit den SängerInnen eine farbenprächtige
musikalischen Kulisse aus dem Gitterkasten boten. Januschkes engagiertes Dirigat hatte zweifellos einen gewichtigen Anteil daran. Warum man allerdings gegen die Wand und nicht ins Publikum spielte, sollte das Geheimnis der Regie bleiben.
Bunker, Käfig und Bühne,
eigentlich als Trennendes empfunden, öffneten zunehmend die Grenzen und wurden
Teil der Gesamtshow. Tatsächlich konnte man sich der raumgreifenden, hochemotionalen
Handlung kaum noch entziehen: ein gelungenes Experiment, das durchaus neue Wege
der Teilhabe des Publikums am Bühnengeschehen eröffnete und auffallend gut
ankam.
Durchweg frenetischer, überschäumender Beifall für alle
Akteure und vor allem auch für die musikalische Leistung des Orchesters.
Nächste Vorstellungen: 09., 11., 14., 16., 20., 22. und 24.November
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