Freitag, 8. November 2019


Tamerlano (1724/31), Dramma per musica in drei Akten von Georg Friedrich Händel (1685-1759), Bockenheimer Depot Frankfurt, Premiere am 07.11.2019

Lawrence Zazzo (Tamerlano), im Hintergrund von links: Yves Saelens (Bajazet), Elizabeth Reiter (Asteria),
Brennan Hall (Andronico)   Fotos: Monika Rittershaus

Ein labyrinthischer Bunker als geistige Grenzöffnung

Kalte, weiße Wände und eine Menge Personal empfangen den Besucher der Oper Tamerlano (1724/3) von Georg Friedrich Händel im Frankfurter Bockenheimer Depot. Das ehemalige Lager der städtischen Straßenbahn ist in einen labyrinthischen Bunker verwandelt und soll, so die Absicht der Regie, „die Grenze zwischen DarstellerInnen, SängerInnen, Ensemble und Publikum aufheben“. Alle sollen ausnahmslos Teil des Geschehens auf der Bühne werden. Ob das funktioniert?

Die Bühne: ein Drahtkäfig für das Orchester, grün bezogene Bänke, Flaschenkästen, Feuerwerkskörper mit viel Glitzer am Boden – ein trostloser Anblick. Doch Tamerlano (Lawrence Zazzo), ein Cowboy und Showmaster mit viel amerikanischem Sendungsbewusstsein, belebt den Raum, führt das Orchester galant in den Gitterkasten, schließt ab, begrüßt das Publikum mit Handschlag und schafft allgemein lockere Stimmung im Saal. Das Ganze aber will so überhaupt nicht zur Tragödie passen.

Da sind nämlich Bajazet (Yves Saelens, Tenor), in bürgerlich silbergrauem Anzug mit der Startnummer 295 an der Brust, ein Gefangener Tamerlanos; Andronico (Brennan Hall, Countertenor und Europa-Debütant), ein Halbstarker in ärmelloser Jeansjacke und Levi´s mit Startnummer 12, dessen machtloser Vasall und Geliebter Asterias (Elizabeth Reiter, Sopran).Sie ist die Tochter Bajazets und Gefangene, im grauen Trainingsanzug mit der Startnummer 9, und soll ausgerechnet Tamerlanos Frau werden, wo sie doch Andronico liebt. Ein No go. 

Und da sind noch Irene (Cecilia Hall, Mezzosopran), eine Art Rockerbraut in glitzersilbernen Hosenanzug, Lederjacke und Motorradhelm, die Verlobte des Tamerlano (beide haben sich noch nie gesehen) und Leone (Liviu Holender, Bariton), in der Kleidung der „Crew“ (alle Helfer hatten blaue Crew-Kittel an), in der Rolle des Kommentators, aber auch die rechte Hand und Diener des Tyrannen. Alles andere also als ein lustiges Quintett, das da Tamerlano umgibt.
Elizabeth Reiter (Asteria), Lawrence Zazzo (Tamerlano) 

Von der Irritation zur emotionalen Teilhabe


Nein, wir befinden uns tatsächlich in einem Gefängnis mit illustren, zunächst undurchschaubaren Personen, Marionetten des ungeheuer agilen und selbstgefälligen Tamerlano, der mit Charme und Hut seine Interessen gegen all ihre Widerstände durchsetzt.

Anfangs irritierend, zwischen schriller Komödie und seichtem Drama (Lawrence Zazzo brillierte nicht nur stimmlich, sondern auch als perfekter Showmaster und kulturloser Draufgänger), entwickelte sich das Dramma per musica Schritt für Schritt zur Tragödie, woran das Publikum, ob gewollt oder nicht, sukzessive teilhaftig wurde.

Bereits im zweiten Akt änderten sich Kostüme und Handlung: Asteria steckt jetzt im schrägen Hochzeitskleid mit überdimensionierten Schultern, worin sie sich sichtbar unwohl fühlt. Dazu schwarze Handschuhe und schwarze Stiefel. Andronico wandelt sich in einen 12er Footballer, Bajazet zum Trainer, oder möglicherweise Guantánamo Gefangener in oranger Montur. Irene ersetzt ihr Leder durch eine billige Flauschjacke und Tamerlano wechselt seinen amerikanischen Countrylook in den Habitus eines - bösen - Clowns.

Erst im dritten Akt fallen endgültig die Hüllen und das Menschliche, allzu Menschliche kommt zum Vorschein. Alle Täuschungen, Lügen und Intrigen weichen den wahren Absichten. Ans Tageslicht kommen die wahren Gesichter der Protagonisten. Asteria entledigt sich der ungeliebten Hochzeitsverkleidung, bekennt sich zu ihrem Vater und zu Andronico. Tamerlano reißt sein Toupet vom Kopf und zeigt das Gesicht eines humorlosen, machtgierigen und über Leichen gehenden Tyrannen. Andronico ist trotz Footballdress (warum trägt er es überhaupt?) nur noch Mensch und Geliebter Asterias. Irene und Leone bleiben wie sie sind. Ihre Rollen stehen fest.

Und Bajazet? Er, im völlig verölten (Tamerlano hat ihn gequält und gedemütigt) Trainings- oder Guantánamo-Anzug, singt seine große Sterbearie und schafft mit seinem Freitod Versöhnung. All das geschieht mitten in den Publikumsreihen. Die Tragödie hat sich von der Bühne mehr und mehr in den öffentlichen, in den Publikumsraum verschoben.
Großartige Gesangsnummern zwischen Liebe, Hass, Wut, Enttäuschung, Misstrauen und Versöhnung wurden so hautnah miterlebt und mitempfunden.


Elizabeth Reiter (Asteria), Yves Saelens (Bajazet)

Eine Legendenerzählung von großer Aktualität

Es war die 18. Oper Händels, die 1724 im Londoner Haymarket über die Bühne ging und vor allem wegen der modernen Instrumentierung (Händel benutzte erstmals die neu entwickelten Klarinetten), der Besetzung  (erstmals sang ein Tenor statt ein Counter die Hauptrolle) und dem außergewöhnlichen Schluss- bzw. Sterbemonolog des Bajazet (erst 1731 vom damals berühmten Tenor Francesco Borosini, 1680-1731, ergänzend hinzugefügt) großes Aufsehen erregte. Ein Ende ohne Lieto Fine? Ein Unding bis dahin.

Aber Händel schaffte trotzdem mit dem fantastischen Streich-und Gesangsquartett: „D´atra notte giá mirasi a scorno“ - ohne Tamerlano versteht sich - eine unglaublich eindrucksvolle Schlussapotheose: „Hell scheint in den Todesflammen das Licht der Liebe!“ Der Schlussklang im Unisono sollte wie eine Metapher auf die menschlichen Tugenden wirken.

Nach der historischen Legende einer schicksalsträchtigen Gefangenschaft von Sultan Bayazet I. (1389-1402), bei Timur Leng (1336-1406), einem mongolischen Hirten und Eroberer in der Nachfolge Dschingis Khans, und  in der Bearbeitung des Haus-Librettisten Nicola Francesco Haym (1678-1729), schrieb Händel diese Oper angeblich in 20 Tagen (mit vielen Veränderungen bis zur Schlussfassung 1731) und verarbeitete darin nicht allein die Intrigen des englischen Königshofes, sondern auch die der bürgerlichen Londoner Parlamentarier.
stehend: Yves Saelens (Bajazet), Elizabeth Reiter (Asteria), sitzend von links: Lawrence Zazzo (Tamerlano)
Cecilia Hall (Irene), Brennan Hall (Andronico), Liviu Holender (Leone)

Außerordentliche Charakterentwicklungen

R. B. Schlather (Regie und Europa-Debüt), Paul Steinberg (Bühnenbild), Doey Lüthi (Kostüme) und Marcel Heyde (Licht) haben mit Tamerlano eine Oper von großer Aktualität, eindringlichen Bildern und – in einer Art Wettkampf mit Startnummern – ein machiavellinisches Gerangel zwischen dem Príncipe und seinen Untergebenen/Gefangenen inszeniert, das passgenau das aktuelle Klima der politischen Polarisierung und Weltuntergangshysterie widerspiegelt und dabei tief unter die Haut geht. 

Alle SängerInnen wuchsen in den dreieinhalb Stunden zu großen Charakteren heran: Yves Saelens als standhafte Herrschernatur, einer, der sich bis zum Schluss nicht seiner Gefangenschaft beugt und als treusorgender, schützender und liebender Vater von Asteria die einzige Lösung der Tragödie im Selbstmord sieht. Tief ergreifend seine Sterbeszene mit dem finalen Largo und den Fluchworten: „Dieses Monster wird die größte Furie der Hölle sein!“

Elizabeth Reiter, die einen Tochter-Vater-Konflikt austrägt und dabei eine gewaltige Persönlichkeitsentwicklung erfährt. Sie wandelt sich von der passiven, dem Vater nahezu hörigen Tochter, enttäuscht von Andronico, den sie liebt, der sie aber vermeintlich an Tamerlano verkuppelt, zur selbstbewussten, geradlinigen, ja absolut emanzipierten und leidenschaftlich liebenden Gefährtin und Frau. Reiter trumpfte in dieser Rolle gesanglich wie schauspielerisch zu wahrhafter Höchstleistung auf und wurde zur Heldin des Abends.

Brennan Hall (Andronico), Elizabeth Reiter (Asteria), Frankfurter Opern und Museumsorchester 

Lawrence Zazzo, ein unglaublich charmanter Tyrann, dem man zunächst weder die Peitsche („Ich will die Wut bändigen, eine mit unmenschlich schwieriger Koloratur gespickte Arie im ersten Akt), noch seine humorvoll vorgetragenen Drohgebärden abnimmt. Seine Rolle steigert sich wie in einem Wettkampf bis zur gnadenlosen Demütigung seiner Gefangenen. Sein Humor, seine Unterhaltung, sein Amüsement verwandeln sich zur Clownsfratze und werden zum Schreckgesicht eines Machtbesessenen. Erst der Suizid Bajazets lässt ihn zur Besinnung kommen. Zazzo musste alle charakterlichen wie gesanglichen Register ziehen, um dieser Wahnsinns-Rolle gerecht zu werden. Tamerlano wurde durch ihn zu einer grandiosen Oper, die den Namen verdient.
Brennan Hall, ein athletischer junger Mann bestach durch sein lyrisches, sehr hohes Timbre. Er spielte den verzweifelten Liebhaber und konnte sich erst am Ende vor Tamerlano offen zu Asteria bekennen. Seine aggressive Montur stand allerdings in diametralem Gegensatz zu seiner Rolle als Zweifelnder und bedingungslos Liebender.
Cecilia Hall, die eigentlich Tamerlano um jeden Preis bekommen möchte, denn mit ihm verbindet sie Macht und Sicherheit, fiel durch ihre warme aber kräftige Mittellage auf. Sehr überzeugend ihre Arie als aufmüpfige Göre: „Dal crudel che mi ha tradita“ (Von den Grausamen, die mich betrogen haben) am Ende des ersten Aktes.
Auch Liviu Holender, neues Ensemblemitglied der Oper Frankfurt ließ mit einem sehr grundierten, klangvollen Bariton aufhorchen. Seine Rolle als Diener und Kommentator fand zwar keine Entwicklung, brachte aber viel Abwechslung in das Gesangssextett. Er verkörperte irgendwie die Masse Mensch, die unbeteiligt hinschaut, kommentiert, reagiert, eventuell den Dreck der anderen beseitigt, aber weder agiert, handelt noch am politischen Geschehen aktiv teilnimmt.
Frankfurter Opern- und Museumsorchester, Lawrence Zazzo (Tamerlano) mit Cowboyhut bei der Einweisung des Ensembles 

Musikalische Farbenpracht als Kulisse einer hochemotionalen Gesamtshow


Trotz der langen Spieldauer eine sehr kurzweilige, tiefgründige, nachdenkliche und emotional ergreifende Operninszenierung mit einem grandiosen historisch informiertem Spiel (Karsten Januschke) der Mitglieder des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters, die auf teilweise barocken Instrumenten (Klarinette, Chalumeau, Laute und Barockgitarre) effektvoll, dramatisch und in makelloser Einheit mit den SängerInnen eine farbenprächtige musikalischen Kulisse aus dem Gitterkasten boten. Januschkes engagiertes Dirigat hatte zweifellos einen gewichtigen Anteil daran. Warum man allerdings gegen die Wand und nicht ins Publikum spielte, sollte das Geheimnis der Regie bleiben. 
Bunker, Käfig und Bühne, eigentlich als Trennendes empfunden, öffneten zunehmend die Grenzen und wurden Teil der Gesamtshow. Tatsächlich konnte man sich der raumgreifenden, hochemotionalen Handlung kaum noch entziehen: ein gelungenes Experiment, das durchaus neue Wege der Teilhabe des Publikums am Bühnengeschehen eröffnete und auffallend gut ankam.

Durchweg frenetischer, überschäumender Beifall für alle Akteure und vor allem auch für die musikalische Leistung des Orchesters.  

Nächste Vorstellungen: 09., 11., 14., 16., 20., 22. und 24.November



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