Dienstag, 3. Dezember 2019


Khatia Buniatishvili (Klavier) und das London Symphony Orchestra (Leitung: Gianandrea Noseda), Großer Saal der Alten Oper Frankfurt, 02.12.2019 (eine Veranstaltung von PRO ARTE Frankfurt)

Khatia Buniatishvili (Klavier), Gianandrea Noseda (Dirigent),
London Symphony Orchestra
(Foto: PRO ARTE/Sabine Siemon)

Ein schillerndes und irritierendes Hörerlebnis

Allein das London Symphony Orchestra (zurzeit ist Simon Rattle ihr Chefdirigent) gehört zu den zugkräftigsten Klangkörpern weltweit. Mit Khatia Buniatishvili am Klavier und das gleich mit dem wohl bekanntesten und beliebtesten b-Moll Klavierkonzert op.23 (1875) von Peter Tschaikowsky (1840-1893) und dessen 5. Sinfonie (1888), ebenfalls zu den glanzvollsten Orchesterwerken zählend, wurde dieser Konzertabend zu einem schillernden wie auch irritierenden Hörerlebnis.


Khatia Buniatishvili (*1987) erschien nicht ganz so exzentrisch wie gewohnt - mit schulterfreiem Schwarzem und pfauenhaftem Federkleid mit Schleppe - ließ aber bereits in der Konzerteröffnung in Begleitung der schmetternden Hörner ihre akkordische Einleitung wie Peitschenhiebe auf das Publikum niederprasseln. Ein Einstieg ganz nach ihrem Temperament zwischen Vulkanausbruch und Springbrunnengeplätscher.

Wenn man bedenkt, dass der erste Widmungsträger und weltweit anerkannteste Pianist seiner Zeit, Nikolai Rubinstein (1835-1881), dieses Werk brüsk ablehnte – es sei „wertlos und völlig unspielbar“– und Hans von Bülow (1830-1894), ebenfalls weltweit anerkannter Pianist und Dirigent, dieses Klavierkonzert als herrliches Kunstwerk bezeichnete, „in jeder Hinsicht hinreißend“, dann kann man sich sehr gut vorstellen, welche Erregung dieses bis dahin alle Grenzen sprengende Werk hervorrief. Heute gehört es zu den meistgespielten auf der Welt und vor allem junge PianistInnen versuchen sich an diesem virtuosen Glanzstück – nicht immer von Erfolg gekrönt.

Was allerdings Khatia Buniatishvili aus diesem dreisätzigen, mehrmals umgeschriebenen Meisterstück Tschaikowskys machte, war schlicht eine ganz eigene, ja eigenwillige Interpretation, bei der ihr das London Symphony Orchestra unter der überragenden Leitung ihres Ersten Gastdirigenten, Gianandrea Noseda (*1964), bestmögliche Unterstützung leistete.

Khatia Buniatishvili (Klavier), London Symphony Orchestra
(Foto: PRO ARTE/Sabine Siemon)


Buniatishvili intimissimi

Nach der Einleitung folgten zwei Seitenthemen mit unglaublichen Kontrasten. Zarteste Lyrik im ausladenden Largo (!) wechselte mit hämmernden Repetitionen im Prestissimo, wenn überhaupt diese Bezeichnung für sie noch zutreffend ist. Denn wie ein Derwisch fegte sie über die Tasten und die Akkordfolgen wirkten wie Donnerschläge unter denen der Flügel in die Knie zu gehen schien.

Volksliedhaftes und Melodisches dagegen gerieten unter ihren Händen zu innigen Liedern und melancholischen Arien. Ihre permanenten Tempowechsel und dynamischen Extremkontraste wurden vom Orchester souverän aufgefangen und man hatte nie den Eindruck, Buniatishvili würde einen solistischen Alleingang durch die Partitur anstreben. Im Gegenteil, denn vor allem im Zweiten Satz, der von einer Des-Dur Melodie der Flöte, der Celli und Oboen wie aus einer Feenwelt getragen wird, wurde zu einem wunderbaren Dialog zwischen ihr und den Orchestersolisten. Das sehr moderne, wie eine jazzige Improvisation anmutende Scherzo im Mittelteil, ein perlend dahingleitendes französisches Chansonette „Il faut s´amuser, danser et rire („Man muss sich vergnügen tanzen und lachen), geriet ihr so leichtgängig und gesanglich, dass erstmals auch die enge Verbindung zwischen erster und zweiter Melodie, quasi spiegelbildlich herauszuhören war. Eine Interpretation, ganz Buniatishvili intimissimi.

Das Rondo des dritten Satzes, eine Ansammlung von ukrainischen Volksliedern, bot alles, was die Pianistin an Vielfalt aufzuweisen hatte. Es zwitscherte vom Klavier wie aus allen Ecken des Orchesters. Die Tastatur bebte unter den wieselflinken Händen Buniatishvilis. Herrliche Melodien mit viel Witz und Humor vorgetragen und ein unglaublich gewaltiges Finale mit unmenschlich schnellen Akkordläufen beendeten ein b-Moll Konzert, das zwar nicht gegen den Strich gebürstet, aber dennoch einen eigenwilligen, manchmal befremdenden Anstrich unter den Händen der Pianistin erhielt. Ein kontrastierendes Farbenspiel mit ständigen Spannungs- und Stimmungswechseln, wie es wohl nur eine Buniatishvili möglich und erlaubt ist.

Das Ges-Dur Impromptu (D 899 op. 90) von Franz Schubert (1797-1828) als einzige Zugabe sollte die aufgewühlten Gemüter beruhigen. Leider verkürzt und ein wenig zu theatralisch vorgetragen konnte es am überragenden Gesamteindruck dieser außergewöhnlichen Pianistin nicht rütteln. Man wünscht sich sehnlichst ein Rezital von ihr in Frankfurt.

Khatia Buniatishvili (Klavier), London Symphony Orchestra
(Foto: PRO ARTE/Sabine Siemon)

Ein Sinfonieorchester einmal ganz persönlich

Ganz anders verhält es sich beim London Symphony Orchestra. Es wird unter der Leitung von Sir Simon Rattle bereits am 24. Januar 2020 wieder in die Alte Oper kommen, wie es überhaupt regelmäßiger Gast in Frankfurt ist. Zuletzt am 28. April 2018 unter der Leitung von Sir Simon Rattle. Und das zu recht. Denn auch mit Tschaikowskys 5. Sinfonie e-Moll op. 64 (1888) bot sie unter der kompetenten Hand von Gianandrea Noseda ein „Seelenbekenntnis“ in eigener Sache.

Fühlte sich Tschaikowsky nach seiner 4. Sinfonie, die er parallel zu seiner Oper Eugen Onegin schrieb, „ausgeschrieben“ –  heute würde man von Burnout sprechen –, so beendete er die Fünfte zehn Jahre später in wenigen Wochen. Zwar gefiel sie ihm nicht sonderlich, weil sie „zu persönlich geraten“ sei. Aber die Uraufführung in Sankt Petersburg wurde zu einem einzigen Triumphzug. Bis heute.
Klaus Mann (1906-1949) charakterisierte sie in seinem Buch „Symphonie Pathétique“ (1949) folgendermaßen: „Sie hatte Schwermut und Glanz und dazwischen eine ganz entrückte Leichtigkeit und am Ende den stolzen und heftigen Überschwang dessen, der sich höchst tapfer wehrt.“


Zwischen Schicksal und Selbstbestimmtheit

In diesem Sinne präsentierte das Orchester dieses von einem schicksalhaften Leitmotiv durchzogene, viersätzige und gut 50 Minuten dauernde Monumentalwerk. Ein satter, runder, stimmiger Klangkörper legte die russische Seele eines Heimatlosen offen, der sich nicht in sein Schicksal ergeben möchte. Das Zwischen Allegro des Ersten Satzes, „ein Murren, Zweifeln, Klagen und Vorwerfen“ mit Walzereinlage á la Eugen Onegin, lässt Tschaikowskys Widerständigkeit erahnen. Seinen Glauben an das selbstbestimmte Leben erwachen, das er auch im Zweiten Satz bekräftigt. „Soll ich mich dem Glauben in die Arme werfen???“, schreibt er und lässt dazu die Bassstreicher mit den Hörnern einen resoluten Marsch spielen. Keine Trauer, eher ein Donnern gegen das Schicksal, vor allem im Allegro ma non troppo, ehe das Schicksalsmotiv wieder die Oberhand bekommt.

Khatia Buniatishvili (Klavier), Gianandrea Noseda (Dirigent),
London Symphony Orchestra 

(Foto: PRO ARTE/Sabine Siemon)

Ein Walzer wie aus einem Wiener Heurigenlokal leitet das Finale ein, das an das Schicksalsmotiv des Ersten Satzes anknüpft. Diese Mal allerdings in einem majestätischen Vivace mit militärischer, ja martialischer Gangart. Man ist unweigerlich an Tschaikowskys Ouvertüre solenelle „1812“ op. 49 als Reaktion auf den Sieg Russlands gegenüber die Napoleonischen Truppen erinnert. In strahlendem E-Dur, und nicht wie eigentlich vorgesehen in e-Moll, endet diese Sinfonische Dichtung, triumphierend und mit großer Zuversicht und Strahlkraft, auch wenn immer wieder das Schicksalsmotiv durchscheint.

Eine fantastische, in allen Belangen überzeugende Interpretation dieser außergewöhnlichen Sinfonie wurde noch mit einer Zugabe, der Polonaise aus Tschaikowskys Oper Eugen Onegin gekrönt.
Keiner wollte den Saal verlassen. Erst als der athletische, mit Albatros-Armen und großen Händen ausgestattete Gianandrea Noseda ein eindeutiges Zeichen zum Schlafengehen machte, verstand man seine Geste und verließ den immer noch klangerfüllten Großen Saal der Alten Oper.  


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