Lucia di Lammermoor
(1835), Oper in drei Akten von Gaetano Donizetti (1797-1848), Staatstheater
Darmstadt, 20.12.2019 (Premiere am 07.12.2019)
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Bianca Tognocchi (Lucia di Lammermoor) Fotos: Nils Heck |
Ein Meisterwerk des
Belcanto
Es sollte Donizettis reifstes Werk sein. Ein Gegenstück zu Vincenzo Bellinis La Sonnambula und Norma, die beide Anfang der 1830er Jahre aufsehenerregende Premieren feierten und Donizetti in Konkurrenz dazu zu diesem Meisterwerk anspornte.
Nach einem Roman von Walter Scott (1771-1832): „Die Braut
von Lammermoor“ (1819), eine spannende Intrigengeschichte zweier verfeindeter
adeliger Familien aus dem 17/18. Jahrhundert – vor dem Hintergrund des Machtwechsels von der Stuart-Dynastie
zu den bürgerlich orientierten Oraniern um 1700, dem Konflikt zwischen
konservativen Tories und progressiven Whigs, vertreten durch die Familien
Ashton und Ravenswood sowie der Einverleibung Schottlands in das vereinte Großbritannien (1707) – hat der
Librettist Salvatore Cammarano (1801-1852) eine abgespeckte, der Historie entledigte,
spannungsgeladene Geschichte aufbereitet, die sich allein auf Lucia, Enrico aus
der Ashton Familie und Edgardo, einer der Ravenswoods, fokussiert: ohne
Querverweise, mit der klaren emotionalisierten Zuspitzung auf Liebe, Hass, Rache und
Eifersucht.
Mit anderen Worten:
Dieses Dramma Tragico, in der die
Liebe den Tod nicht fürchtet (alle drei Protagonisten sterben), besteht aus
einer Aneinanderreihung von Arien mit
herrlichen Melodien und faszinierenden Koloraturen, die nur von
erstklassigen Sängerinnen und Sängern ihre vollste Kraft entfalten kann.
In der Fotografie erstarrte Geschichte
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v. l.: Julian Orlishausen (Enrico), Bianca Tognocchi ( Lucia, liegend), Opernchor des Staatstheaters Darmstadt |
Die Darmstädter Inszenierung: Regie: Marcos Darbyshire, Bühne: Robert
Schweer, Kostüme: Frank Lichtenberg
sowie den Dramaturginnen: Valeska Stern
und Kirsten Uttendorf, wiederum
wollte den historischen Kontext nicht missen und machte aus den Figuren Alisa
(ursprünglich Begleiterin Lucias) Lady Ashton – sie schwebt als allmächtiger
Ränkegeist über der Handlung: Nina
Tandarek, Mezzosopran – und aus Raimundo (ursprünglich Erzieher und Vertrauter
Lucias) ihren zweiten Bruder. Ein großes Bild der Familie Ashton aus besseren
Zeiten prangte denn auch vom Bühnenvorhang.
Überhaupt spielten historische Fotos der Ashtons verteilt an
der Bühnenwand eine herausragende Rolle. Quasi
einen Moment der Familiengeschichte herausgreifend, von der Renaissance
bis ins 19. Jahrhundert (auch das Heute war präsent), ließen sie den Wandel der
Zeit Revue passieren, Leben wie Tod in erstarrter, festgehaltener Form bewusst
machen. Eine fabelhafte Idee, die leider vor allem in den beiden ersten Akten
die Handlung stark beeinflusste: d.h. wenig Bewegung, die Arien historisierend und
in statischer Haltung gesungen und eine Theatralik weitgehend ohne Emotionen.
Trotz tiefer Liebesbezeugung im ersten Akt (Edgardo muss
sich wegen einer diplomatischen Mission von Lucia verabschieden) bleiben beide
doch atomisiert, finden nicht zueinander. Sogar das herrlich innige Liebesduett bleibt merkwürdig sachlich
und distanziert. Auch das berühmte Sextett am Schluss des zweiten Aktes leidet unter
der Regie. Die höchst gefühlige Arie kann hier kaum an Fahrt gewinnen,
wozu der Chor (Sören Eckhoff) im
Hintergrund (immer in der steifen Mode der Spätrenaissance gekleidet) seinen
Beitrag leistet. Schade. Einer der Höhepunkte, der vom nicht sehr zahlreich
erschienenen Publikum auch nicht goutiert wurde.
Der Wahnsinn als höchstes Format des Gesangs
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v. l.: Jaroslaw Kwasniewski (Arturo), Bianca Tognocchi (Lucia), Julian Orlishausen (Enrico) |
Erst der dritte Akt ließ die ganze Kraft dieses Dramas zur
Wirkung kommen. Gleich zu Anfang brillierten die beiden Kampfhähne, Enrico und
Edgardo, von einer knackigen, marschähnlichen Musik begleitet in gegenseitiger
Verachtung und forderten sich in einem gewaltigen Duett zum Duell heraus. Der
Bariton Julian Orlishausen in der
Rolle des Enrico zeigte hier mit energischer Geste, kraftvoll timbrierter Stimme
und bestechender Schauspielerei, sein bis dahin vermisstes Können. Ebenso brachte
sein Widersacher Edgardo – von David Lee
mit hellem Heldentenor gesungen – erst jetzt seine volle Emotionalität und
Leidenschaft zur Geltung. Leider versagte ihm in der Schlussarie (er schießt
sich mit einer Pistole in den Kopf) die Stimme, was er allerdings professionell
zu überspielen verstand.
Dann Lucia, die von der Sopranistin Bianca Tognocchi vor allem in der Wahnsinnsarie im dritten Akt mit unglaublichem Tiefsinn, irrsinniger
Mimik und Sinnesverwirrung sowie großartiger stimmlicher Vielfalt regelrecht zelebriert
wurde. Hier machte sie alles wett, was man von ihr eigentlich schon vorher erwartete. Mal himmlische
Eintracht bei entsprechender Begleitung der Glasharmonika, mal tiefe Verzweiflung.
Ein gesangliches Meisterwerk im Belcanto, eine Überfülle an Melodien und Koloraturen, die Tognocchi leichtgängig
und ohne Makel absolvierte. Auch verlässt sie jetzt ihre statische Haltung, tötet
mit Gleichmut, ja mit Freude ihren getöteten nie gewollten Gatten Arturo (Jaroslaw Kwasniewski,
Tenor), ersticht (entgegen der Vorlage) ihren Bruder Enrico mit ihrer Haarnadel.
Auch das ohne einen Funken Reue (er hat ihr das Unglück mit Lug und Trug
eingebrockt), und verschwindet dann gottbeseelt hinter der Bühne. Ob sie
stirbt, bleibt weitgehend offen. Immerhin verkündet ihr zweiter Bruder Raimundo – charakterlich
und stimmlich überzeugend vom Bassbariton Johannes
Seokhoon Moon gesungen und gespielt –
ihren Tod: „Die Hochzeit war verhängnisvoll, sie hat ihr den Verstand geraubt.
Jetzt verweilt sie nicht mehr auf der Erde und ist im Himmel.“
Ein Kopfschuss ohne Folgen
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Chor des Staatstheaters Darmstadt |
Das Duell ist passé. Die Bühne verdunkelt sich – wie
überhaupt die Bühne als Sinnbild der Zeitläufte ständig rotiert und die Perspektiven
von vorn nach hinten und umgekehrt wechseln – und ein Lichtspot ganz im Renaissancestil fällt auf Edgardo, der das letzte Wort hat. Als er von Raimundo erfährt
(die Totenglocken läuten), dass Lucia nicht mehr auf dieser Erde verweilt,
schießt er sich mit der Pistole in den Kopf.
Eine Theatralik ganz nach Art der Darmstädter Regie-Eigenheiten. Denn auch nach dem Schuss singt er weiter, heroisch, mit Zuversicht
und Violoncello Begleitung: „Ich komme zu Dir, meine schöne Seele!“ Der Chor
schließt mit einem Gebet: „Gott erbarme sich seiner Sünde.“
Lucia di Lammermoor ist ein typisches Werk der Romantik sowie der Epoche des Belcanto zwischen 1820 und 1840. Es geht hier nicht um Handlungslogik oder gar geistigen Tiefgang. Nein, es lebt von den Melodien und der sprichwörtlichen Schönheit der Tragödie. Alle Protagonisten sind am Ende tot und dennoch verlässt man den Ort der Handlung mit großer Befriedigung dann, wenn der Gesang und die Musik stimmt, was nicht in allen Belangen zutraf.
Warum erst der dritte Akt sowohl musikalisch (Andriy Yurkevych, musikalische Leitung) als auch gesanglich
weitgehend überzeugen konnte, lag wohl auch an der Inszenierung, die insgesamt
zu starr und holzschnittartig wirkte (trotz ständiger Drehmomente der Bühne), der
Chor agierte zu steif und die Figuren erschienen zu formalistisch, ohne pointierte
Männlichkeit und Weiblichkeit. Lohnenswert ist ihr Besuch dennoch vor allem
wegen des dritten Aktes und das trotz der eigenwilligen Apotheose, die wieder
einmal die sprühende Ideenvielfalt des Staatstheaters Darmstadt unter Beweis
stellt.
Nächste Vorstellungen:
29.12; 11. und 30.01.2020; 15.02.2020
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