Montag, 13. Januar 2020


Junge Deutsche Philharmonie, Neujahrskonzert in der Alten Oper Frankfurt, 12.01.2020

Sir George Benjamin, Junge Deutsche Philharmonie (Fotos: Alte Oper Frankfurt/Salar Baygan)

„Träume, Halluzinationen, erweiterte Bewusstseinszustände“

Traditionsgemäß startete das bereits seit 1974 bestehende Frankfurter „Zukunftsorchester“, Die junge Deutsche Philharmonie, mit einem fulminanten Einstieg ins Neue Jahr im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt. Dem gut besetzten Saal boten die jungen Musiker und Musikerinnen zwischen 18 und 28 Jahren, unter der Leitung des britischen Komponisten, Pädagogen und Dirigenten Sir George Benjamin, ein Konzert, das, laut Programm, „Träume, Halluzinationen, erweiterte Bewusstseinszustände“ bieten sollte.


Mit Werken von György Ligeti (1923-2006) Clocks and Clouds für zwölfstimmigen Frauenchor und Orchester (1972/73), Igor Strawinsky (1882-1871) Bläsersinfonien (1920), George Benjamin (*1960) Dream of the Song für Countertenor, Frauenchor und Orchester (2014/15), Paul Dukas (1865-1935) Der Zauberlehrling (1897) sowie Maurice Ravel (1875-1937) Daphnis et Cloé Suite Nr. 2 (1913), hatten die jungen Musiker und Musikerinnen in demokratischer Vorauswahl (bekanntlich verwalten sie sich selbst) tatsächlich spannende, höchst anspruchsvolle, an ihre technischen und interpretatorischen Grenzen reichende Kompositionen ausgesucht, die mithilfe des erfahrenen Sir George Benjamin (*1960) zu beachtlichen Ergebnissen führten und manchen Talent-Scout im Publikum hellhörig werden ließen.
Junge Deutsche Philharmonie in der Alten Oper Frankfurt

Ordnung und Chaos

Gleich zu Anfang ein brisantes Werk von György Ligeti, das auf einen ähnlich betitelten Vortrag (Of Clouds and Clocks, 1965) des Soziologen und kritischen Rationalisten, Karl Popper, Bezug nimmt, und das Problem von Chaos und Ordnung aufwirft. Musikalisch übersetzt schafft Ligeti in diesem etwa zehnminütigen Stück eine, wie er selbst sagt „fortwährende Transition zwischen Uhrengeticke und Nebelgewebe“, einen ständigen Wechsel von rhythmischen, tickenden Elementen und diffusen, flüssigen Zuständen. Dazwischen zwölf weibliche Stimmen des SWR Vokalensembles mit geschwätzigem Geplapper und Getratsche. Mal singen sie „Clocks and Clouds“, dann wieder Unverständliches wie „Dagga, Doggo oder Diggi“. Ein mitunter entfesseltes Parlieren nebst schwammigen Tonflächen, Klangtrauben, Vierteltonverschiebungen und farbenreichen Schichtungen der Blasinstrumente, Harfen sowie Celesta. Die beiden Perkussionisten standen für Ordnung und Taktschlag. Auffallend an dessen Atmosphères (1961) und Poème Symphonique (1962) für 10 Metronome erinnernd, schafften sich die jungen Musiker mit dieser Interpretation bereits frühzeitigen großen Respekt.

Eine Litanei, langatmig und monoton


An den Tod Claude Debussys im Jahre 1918 erinnernd sollten die Bläsersinfonien Strawinskys ein Tombeau für ihn und alle verstorbenen Komponisten sein. In der Melodik wie einfache Kinderlieder konstruiert, Motiv an Motiv gereiht ohne musikalische Entwicklung, wollte Strawinsky mit diesem Werk, einer strengen zeremoniellen Form folgend, litaneihafte Zwiegesänge zwischen den einzelnen Blasinstrumenten (24) entwickeln.
Die Sinfonien sind zumindest in der Urfassung durchgefallen. Selbst Strawinsky bezweifelte, ob Debussy seine musikalische Sprache verstanden hätte. Um seine Urheberrechte zu sichern, überarbeitete er das Werk 1947, veränderte einige Passagen und gebrauchte andere bzw. weniger Instrumente (23). Allerdings stand in der Alten Oper die Urfassung auf dem Programm. Die bewusste Fokussierung auf den Wohlklang konnte der entwicklungsarmen, langatmigen und monotonen Komposition leider auch wenig Leben einhauchen.

„Grübeleien über die Zeit, Vergänglichkeit und Tod“

Mit Dream of The Song für Countertenor, Frauenchor und Orchester präsentierte sich Sir Benjamin mit einer eigenen Komposition. Großartig besetzt mit dem britischen Countertenor, Tim Mead, sowie den bereits genannten zwölf Sängerinnen des SWR, wählte Benjamin sechs Gedichte aus einer hebräischen Anthologie spanischer Herkunft (950-1492) und kombinierte sie mit der modernen Lyrik von Federico Garcia Lorca (1898-1936). Herausgekommen ist eine Mischung aus „Grübeleien über die Zeit, Vergänglichkeit und Tod“ (Benjamin); ein melancholisches Werk mit dramatischer Attitüde in der zweiten Strophe: „Die vielfachen Sorgen des Menschen“, einer langen Erzählung mit heller parlierender Chorbegleitung in der dritten Strophe: „Durch die Nacht blicken“, einer stechenden, äußerst dissonanten Choreinlage in der vierten Strophe: „Gacela der wunderbaren Liebe“ (Text von Garcia Lorca), sowie einer mitreißenden Elegie in den beiden Schlussstrophen. Hier stimmte einfach alles: der Gesang (Mead besitzt eine helle, klare und schnörkellose Stimme, absolut passend zu diesem Stück), der Chor (die elf Damen harmonierten perfekt mit dem Solisten und nahmen sich wohltuend zurück) und das Orchester (vor allem die Holzbläser und Streicher überzeugten. Insgesamt wohl abgestimmt auf Text und Stimmung).

Ein Zauberlehrling mit angezogener Handbremse

Erstmals in voller Größe (ca. 85 Instrumentalisten) spielte man Dukas´ Ohrwurm Der Zauberlehrling. Ein Orchesterscherzo auf die Goethesche Ballade vom Zauberlehrling, der besser sein möchte als sein Meister, die Kontrolle verliert und nur über dessen rechtzeitige Hilfe die Ordnung wieder herstellen kann. Ein fantastisches Stück, das schon bei seiner Uraufführung in Paris begeisterte, zeigt es doch in musikalischer Brillanz und bildhafter Anschaulichkeit, wie man eine dramatische Geschichte in atemberaubende Musik verwandeln kann. Höchst anspruchsvoll vor allem für die Blechbläser, viele solistische Einlagen, dynamische Wechsel: Technik und Musikalität, Ausdruck und Spannung – alles war gefordert. Leider geriet die Interpretation ein wenig zu brav. Irgendwie schien Sir Benjamin nicht recht mitreißen zu können oder zu wollen. So wurde es ein Zauberlehrling mit angezogener Handbremse, ohne Frechheit und Selbstgefälligkeit; der Lehrling agierte eher wie ein unsicherer Experimentator, der nicht so recht an sich und seine Sache glaubt.
Willkommen im Neuen Jahr: Junge Deutsche Philharmonie 

Ohne illusorische Träume, Sinnestäuschungen, bewusstseinserweiternde Drogen


Ganz anders dagegen die Tanzsuite Nr. 2 aus Ravels Daphnis et Cloé. Eine dreiteilige choreographische Sinfonie von unglaublicher Impression. Eigentlich eine antike Hirtensaga, eine Liebesgeschichte zwischen den mythischen Welten, erzählt diese Suite doch vom Glück des Paares und endet mit einem galoppartigen Bacchanal. Ein perfekter Kracher als Einstieg ins Neue Jahr. Was hier das Orchester auf die Bühne zauberte, war vom Feinsten. Von der aufgehenden Sonne über die witzige Pantomime mit einem hinreißenden Flötensolo bis hin zum pulsierenden Tutti im Danse générale eine bis in die einzelne Note wohldurchdachte Vorstellung dieses einmaligen Balletts. Hier hat auch die pädagogische Ader von Sir George Benjamin  seine Wirkung gezeigt. Sparsam in seinem Dirigat, aber einfühlsam in die Seelen seiner Schüler und Schülerinnen eindringend, holte er die letzten Reserven aus seinen Schützlingen heraus, die es ihm, wie auch das Publikum, mit herzlichem Beifall dankten.

Drei kurze und knackige  Zugaben von Sergei Prokofjew (Troika),  Paul Dukas (Love Peri) und Peter Tschaikowski (russischer Tanz aus der Nussknackersuite), dazwischen mit Knall Bumm, viel Konfetti und einer entrollten Leinwand mit „Willkommen im Neuen Jahr!“ – was kann es Besseres geben für den Einstieg ins Jahr 2020, ein Jahr voller Überraschungen, aber hoffentlich ohne illusorische Träume, Sinnestäuschungen und bewusstseinserweiternde Drogen.

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