Junge Deutsche Philharmonie,
Neujahrskonzert in der Alten Oper Frankfurt, 12.01.2020
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Sir George Benjamin, Junge Deutsche Philharmonie (Fotos: Alte Oper Frankfurt/Salar Baygan) |
„Träume, Halluzinationen, erweiterte Bewusstseinszustände“
Traditionsgemäß startete das bereits seit 1974 bestehende Frankfurter „Zukunftsorchester“, Die junge Deutsche Philharmonie, mit einem fulminanten Einstieg ins Neue Jahr im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt. Dem gut besetzten Saal boten die jungen Musiker und Musikerinnen zwischen 18 und 28 Jahren, unter der Leitung des britischen Komponisten, Pädagogen und Dirigenten Sir George Benjamin, ein Konzert, das, laut Programm, „Träume, Halluzinationen, erweiterte Bewusstseinszustände“ bieten sollte.
Mit Werken von György
Ligeti (1923-2006) Clocks and Clouds
für zwölfstimmigen Frauenchor und Orchester (1972/73), Igor Strawinsky (1882-1871) Bläsersinfonien
(1920), George Benjamin (*1960) Dream of the Song für Countertenor,
Frauenchor und Orchester (2014/15), Paul
Dukas (1865-1935) Der Zauberlehrling
(1897) sowie Maurice Ravel
(1875-1937) Daphnis et Cloé Suite Nr. 2
(1913), hatten die jungen Musiker und Musikerinnen in demokratischer Vorauswahl
(bekanntlich verwalten sie sich selbst) tatsächlich spannende, höchst
anspruchsvolle, an ihre technischen und interpretatorischen Grenzen reichende Kompositionen
ausgesucht, die mithilfe des erfahrenen Sir
George Benjamin (*1960) zu beachtlichen Ergebnissen führten und manchen Talent-Scout im Publikum hellhörig werden ließen.
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Junge Deutsche Philharmonie in der Alten Oper Frankfurt |
Ordnung und Chaos
Gleich zu Anfang ein brisantes Werk von György Ligeti, das
auf einen ähnlich betitelten Vortrag (Of
Clouds and Clocks, 1965) des
Soziologen und kritischen Rationalisten, Karl Popper, Bezug nimmt, und das
Problem von Chaos und Ordnung aufwirft. Musikalisch übersetzt schafft Ligeti in
diesem etwa zehnminütigen Stück eine, wie er selbst sagt „fortwährende
Transition zwischen Uhrengeticke und Nebelgewebe“, einen ständigen Wechsel von rhythmischen,
tickenden Elementen und diffusen, flüssigen Zuständen. Dazwischen zwölf weibliche
Stimmen des SWR Vokalensembles mit geschwätzigem Geplapper und Getratsche. Mal
singen sie „Clocks and Clouds“, dann wieder Unverständliches wie „Dagga, Doggo
oder Diggi“. Ein mitunter entfesseltes Parlieren nebst schwammigen Tonflächen,
Klangtrauben, Vierteltonverschiebungen und farbenreichen Schichtungen der Blasinstrumente,
Harfen sowie Celesta. Die beiden Perkussionisten standen für Ordnung und
Taktschlag. Auffallend an dessen Atmosphères
(1961) und Poème Symphonique (1962) für
10 Metronome erinnernd, schafften sich die jungen Musiker mit dieser Interpretation
bereits frühzeitigen großen Respekt.
Eine Litanei, langatmig und monoton
An den Tod Claude Debussys im Jahre 1918 erinnernd sollten
die Bläsersinfonien Strawinskys ein Tombeau für ihn und alle verstorbenen Komponisten
sein. In der Melodik wie einfache Kinderlieder konstruiert, Motiv an Motiv gereiht
ohne musikalische Entwicklung, wollte Strawinsky mit diesem Werk, einer
strengen zeremoniellen Form folgend, litaneihafte Zwiegesänge zwischen den einzelnen
Blasinstrumenten (24) entwickeln.
Die Sinfonien sind
zumindest in der Urfassung durchgefallen. Selbst Strawinsky bezweifelte, ob
Debussy seine musikalische Sprache verstanden hätte. Um seine Urheberrechte zu
sichern, überarbeitete er das Werk 1947, veränderte einige Passagen und gebrauchte
andere bzw. weniger Instrumente (23). Allerdings stand in der Alten Oper die
Urfassung auf dem Programm. Die bewusste Fokussierung auf den Wohlklang konnte
der entwicklungsarmen, langatmigen und monotonen Komposition leider auch wenig
Leben einhauchen.
„Grübeleien über die Zeit, Vergänglichkeit und Tod“
Mit Dream of The Song
für Countertenor, Frauenchor und Orchester präsentierte sich Sir Benjamin mit
einer eigenen Komposition. Großartig besetzt mit dem britischen Countertenor, Tim Mead, sowie den bereits genannten zwölf Sängerinnen des SWR, wählte Benjamin sechs Gedichte aus einer hebräischen Anthologie
spanischer Herkunft (950-1492) und kombinierte sie mit der modernen Lyrik von
Federico Garcia Lorca (1898-1936). Herausgekommen ist eine Mischung aus „Grübeleien
über die Zeit, Vergänglichkeit und Tod“ (Benjamin); ein melancholisches Werk
mit dramatischer Attitüde in der zweiten Strophe: „Die vielfachen Sorgen des
Menschen“, einer langen Erzählung mit heller parlierender Chorbegleitung in der
dritten Strophe: „Durch die Nacht blicken“, einer stechenden, äußerst
dissonanten Choreinlage in der vierten Strophe: „Gacela der wunderbaren Liebe“
(Text von Garcia Lorca), sowie einer mitreißenden Elegie in den beiden
Schlussstrophen. Hier stimmte einfach alles: der Gesang (Mead besitzt eine helle,
klare und schnörkellose Stimme, absolut passend zu diesem Stück), der Chor (die elf
Damen harmonierten perfekt mit dem Solisten und nahmen sich wohltuend zurück)
und das Orchester (vor allem die Holzbläser und Streicher überzeugten. Insgesamt
wohl abgestimmt auf Text und Stimmung).
Ein Zauberlehrling mit angezogener Handbremse
Erstmals in voller Größe (ca. 85 Instrumentalisten) spielte
man Dukas´ Ohrwurm Der Zauberlehrling. Ein Orchesterscherzo auf
die Goethesche Ballade vom Zauberlehrling, der besser sein möchte als sein
Meister, die Kontrolle verliert und nur über dessen rechtzeitige Hilfe die
Ordnung wieder herstellen kann. Ein fantastisches Stück, das schon bei seiner Uraufführung
in Paris begeisterte, zeigt es doch in musikalischer Brillanz und bildhafter Anschaulichkeit,
wie man eine dramatische Geschichte in atemberaubende Musik verwandeln kann. Höchst
anspruchsvoll vor allem für die Blechbläser, viele solistische Einlagen, dynamische
Wechsel: Technik und Musikalität, Ausdruck und Spannung – alles war gefordert.
Leider geriet die Interpretation ein wenig zu brav. Irgendwie schien Sir
Benjamin nicht recht mitreißen zu können oder zu wollen. So wurde es ein Zauberlehrling mit angezogener
Handbremse, ohne Frechheit und Selbstgefälligkeit; der Lehrling agierte eher wie
ein unsicherer Experimentator, der nicht so recht an sich und seine Sache
glaubt.
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Willkommen im Neuen Jahr: Junge Deutsche Philharmonie |
Ohne illusorische Träume, Sinnestäuschungen, bewusstseinserweiternde Drogen
Ganz anders dagegen die Tanzsuite
Nr. 2 aus Ravels Daphnis et Cloé.
Eine dreiteilige choreographische Sinfonie von unglaublicher Impression.
Eigentlich eine antike Hirtensaga, eine Liebesgeschichte zwischen den
mythischen Welten, erzählt diese Suite doch vom Glück des Paares und endet mit einem
galoppartigen Bacchanal. Ein perfekter Kracher als Einstieg ins Neue Jahr. Was
hier das Orchester auf die Bühne zauberte, war vom Feinsten. Von der
aufgehenden Sonne über die witzige Pantomime
mit einem hinreißenden Flötensolo bis hin zum pulsierenden Tutti im Danse générale eine bis in die
einzelne Note wohldurchdachte Vorstellung dieses einmaligen Balletts. Hier hat auch
die pädagogische Ader von Sir George Benjamin seine Wirkung gezeigt. Sparsam in seinem Dirigat,
aber einfühlsam in die Seelen seiner Schüler und Schülerinnen eindringend,
holte er die letzten Reserven aus seinen Schützlingen heraus, die es ihm, wie auch das Publikum, mit herzlichem Beifall dankten.
Drei kurze und knackige Zugaben von Sergei Prokofjew (Troika), Paul Dukas (Love Peri) und Peter Tschaikowski (russischer Tanz aus der Nussknackersuite), dazwischen mit Knall
Bumm, viel Konfetti und einer entrollten Leinwand mit „Willkommen im Neuen Jahr!“
– was kann es Besseres geben für den Einstieg ins Jahr 2020, ein Jahr voller
Überraschungen, aber hoffentlich ohne illusorische Träume, Sinnestäuschungen
und bewusstseinserweiternde Drogen.
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