Samstag, 18. Januar 2020


Marc-André Hamelin, Klavierrezital in der Alten Oper Frankfurt, 17.01.2020
Marc-André Hamelin (Fotos: Wonge Bergmann)

Extrem und kontrastreich

Selten gespielte Werke von wenig bekannten Komponisten: Das scheint einer der Markenzeichen dieses in allen Belangen versierten frankokanadischen Pianisten Marc-André Hamelin zu sein. In der Alten Oper Frankfurt spielte er im vollbesetzten Mozart Saal Werke von Skrjabin, Prokofjew, Feinberg und Schubert. Abgesehen von Samuil Feinberg (1890-1962), ein zumindest in Deutschland kaum bekannter russischer Komponist und Pianist alles doch bekannte und viel gespielte Komponisten. Aber dafür hatte er sich ein Programm ausgesucht, das kontrastreicher und in seiner Unterschiedlichkeit extremer kaum sein konnte.

Gleich zu Beginn die sehr selten aufgeführte Fantasie h-Moll op.28 (1900/01) von Alexander Skrjabin (1872.1915). Ein sinfonischer Hammer mit gewaltigen Oktavierungen, plakativen Einblendungen und „liebevollen“ Sequenzen. Denn bekanntlich  mochte der messianische Weltverbesserer Skrjabin keine Kraftmeierei, sondern forderte selbst noch in den schärfsten Fortissimi weich-tönende Klänge. Hamelin, der eigenen Aussagen zufolge sein pianistisches Spiel immer im Einklang mit der menschlichen Kreativität der Komponisten verstanden haben möchte, zeigte hier bereits seine außergewöhnliche Fähigkeit, sich in die Denkweise der Partitur zu vertiefen.

So auch bei den Sarkasmen op.17 (1912-1914) von Sergei Prokofjew (1891-1953), ein aus fünf Piècen bestehende bitterböse Anklage an gesellschaftliche und menschliche Unzulänglichkeiten. Allein die Satzbezeichnungen wie Tempestoso (stürmisch), Smanioso (begierig) oder gar Precipitosissimo (überstürzt) weisen auf die Absicht des damals gerade einmal Anfang 20-jährigen Sturm-und-Drängers hin, sein Umfeld zu provozieren und seinem Ruf als Bürgerschreck voll gerecht zu werden. Die Uraufführung von ihm selbst im Jahre 1916 (kurz vor der russischen Revolution!) im heutigen Petersburg geriet denn auch zum Skandal. Kaltblütig soll er auf die Lacher, die Zischer, die Störer reagiert haben. Eine schreckliche Musik sei das, giftig und von dunklen Kräften getragen, lautete die allgemeine Kritik.

Hamelin demonstrierte auf der Tastatur des wunderbar gestimmten Steinway Flügels einen bitterbösen Sarkasmus, einen Streit der Hände im vierten Stück (Smanioso) von außergewöhnlicher Komplexität sowie ein repetitives Sekundspiel mit permanent abfallenden Viertonskalen im Schlussstück (Precipitosissimo) mit rollenden Akkorden von bizarrer Wirkung. Ein kurzweiliges, selten gespieltes, weil ungeheuer anspruchsvolles und voller artifizieller Elemente durchsetztes, nicht unbedingt auf Wohlklang getrimmtes Werk. Und dennoch verwandelte es Hamelin in ein orgiastisches Tanzvergnügen mit feiner Technik und unprätentiöser Interpretation.

Marc-André Hamelin

Feinbergs Sonate: eine Umwertung der Werte


Samuil Feinbergs drittes (op. 3, 1916) von insgesamt zwölf Sonaten, die er in seinem Komponistenleben, das er ausschließlich auf russischem Boden verbrachte, schrieb, hatte, so sprach es Hamelin in kurzen Worten an, nie das Licht der Öffentlichkeit erlebt, wurde erst 1974 verlegt und sollte in der Alten Oper seine Deutschlandpremiere erleben.

Eine ungewöhnliche Form mit Prélude und Marche funebre, quasi als Vorspiel und Einstimmung, um dann in eine Sonate zu münden, die zwar aus Exposition, Durchführung und Reprise zusammengesetzt ist, aber ansonsten wenig mit dieser Form zu tun hat. Dieses Werk ist eher ein Zusammenwürfeln von barocker (Prélude und Fuge), klassischer und romantischer (Chopin und der späte Beethoven lassen grüßen) Ideenwelt, ein neoklassisches Werk, wie man es gerne in dieser Zeit geschrieben hat. Darüber hinaus besitzt es aber eine eigenwillige Handschrift, die wohl nur Feinberg zuzuschreiben ist. Ist diese Musik hysterisch, spricht sie eine pathologische Sprache? Tatsächlich entspricht sie nicht dem sogenannten sozialistischen Realismus der 1920er Jahre, gehört noch zur vorrevolutionären Zeit und fällt zudem in die Mitte des Ersten Weltkriegs.

Feinberg stellt in dieser Komposition die Regeln und musikalischen Werte  auf den Kopf. Er wandelt sie um. So ist sein Prélude nichts weiter als eine Ansammlung von Dreitonmotiven (mit der linken Hand eingeführt und beendet), gemixt mit einem Passus Duriusculus, einer abfallende Buß und Reue Chromatik aus dem Barock. Der Marche funebre schreitet nicht, sondern zerfließt, ähnlich dem Prélude, in einer endlosen Abwärtsskala von gewaltiger Sinfonik. Die Sonate, gedacht als dritter und letzter Teil dieser ausufernden Komposition ist mit Appassionata (Leidenschaft) überschrieben. Ähnlich der fulminanten Beethovenschen Appassionata (Feinberg war sein großer Bewunderer) fordert er hierin vom Interpreten allerdings unmenschliches. Wohl einer der Gründe der bisherigen Unaufführbarkeit dieses Konvoluts. Zwar in klassischer Sonatenform geschrieben, ist es durchsetzt mit mehreren Motivthemen, einer Fuge von kontrapunktischer Komplexität, die sie als solche kaum erkennen lässt,  sowie einer abschließenden Coda mit Reminiszenzen an die vorhergehenden Sätze, sowie einem Strettafinale, das alles technisch Nachvollziehbare infrage stellt.

Extrem in allen Belangen schaffte es Hamelin dennoch, dem Werk eine klare Linie, einen erkennbaren Bogen zu verleihen. Alles mit fester, schnörkelloser Hand und fast schon selbstverständlicher Ruhe. Hamelin: ein Fels in der Brandung, immer über die Partitur erhaben und die Seele Feinbergs in jeder Note erschließend.
Marc-André Hamelin

Schuberts letzte Worte


War der erste Teil von russischem Charakter geprägt, zwischen Melancholie und aufbrausender Wildheit, gehört Franz Schuberts letzte Sonate in B-Dur D 960 (1828) zu dessen feinsinnigsten „letzten Worten“. Im Bewusstsein des Todes geschrieben, von Weltschmerz und verzweifelter Hoffnung getragen symbolisiert diese Sonate das Manifest eines Menschen, der darin noch einmal sein Lebensprogramm ästhetisch zusammenfasst.

In vier Sätzen durchläuft diese Komposition das ganze Leben eines von Schicksal und Krankheit geplagten Menschen. Im Molto Moderato des ersten Satzes überwiegt das Pianissimo, um nur kurzfristig ins Fortissimo zu wechseln. Ein Aufbäumen des Hoffnungslosen. Auch das Seitenthema geht über ein Piano nicht hinaus. Die Reprise verlangt sogar ein Dreifaches Piano, um dann in ein h-Moll Fortissimo auszubrechen. Das aber nur für einen Takt. Die abschließende Coda mit dem signalhaften Basstriller führt quasi ins Nichts. Kaum hörbar endet dieser Satz.
Im Pianissimo gefordert auch das Andante sostenuto des zweiten Satzes. Kaum hörbar und atemstockend die letzten 16 Takte in cis-Moll. Hamelin streichelte die Tasten mit Glacéhandschuhen. Glücklicherweise reagierte der Flügel auf jede seiner Berührungen. Ein Zustand des Schwebens lag über dem Saal.
Erst das Scherzo, ein Allegro vivace con delicatezza, brachte Lebendigkeit in die Klangstille. Zwar im Piano und nur im Trio mit Sforzati unterbrochen, vermittelte dieser Teil Lebensfreude und Zuversicht. 
Das abschließende Rondo dagegen beginnt mit einem signalhaften Forte, einer G-Dur Oktave im Sinne: „Achtung, ich bin noch unter euch, den Lebenden!“ und wird in einer vorwärtstreibenden Melodik fortgesetzt, die auf B-Dur abschließt. Schubert bleibt aber nicht im B-Dur. Er wechselt von c-Moll nach g-Moll, um in ein melodisches, fast fröhliches  Seitenthema in F-Dur und D-Dur, zu wechseln, das sich zu einer Fortissimo Fanfare aufbaut und im Forte in punktierten Oktaven fortgesetzt wird, bis, ja bis das Signal, die G-Dur-Oktave wieder erklingt. Überhaupt ist sie es, die dem Finale immer wieder ihre Gestalt aufzwingt und Zeugnis dafür abgibt, dass noch nichts verloren ist: Ich bin noch da! Ein finales Presto in B-Dur machte noch einmal im positiven Sinne deutlich, dass sich die Welt weiterdrehen wird, komme was wolle.
Marc-André Hamelin

Hamelin gehört zu den besten seiner Zunft


Hamelin machte aus dieser nahezu ausufernden Sonate eine Erzählung über das Leben überhaupt. Dahingestellt sei ob seines oder das Schuberts. Seine unglaubliche Musikalität befähigt ihn, und das ist eine absolut seltene Begabung, so unterschiedliche Werke von so unterschiedlichen Komponisten absolut authentisch und überzeugend zu interpretieren und in jedes der Werke quasi hineinzuwachsen und ihre musikalische Seele zu ergründen.

Ein unvergessliches Rezital endete mit drei Zugaben (Robert Schumann, Romanze, George Gershwin, Ragtime) wovon er mit seiner Eigenkomposition, eine Toccata, die Hamelin extra für den Van Clyburn Klavierwettbewerb 2016 geschrieben hat, neben seiner exzellente Technik auch seinen wunderbaren Melodien- und sein Einfallsreichtum unter Beweis stellen konnte. Ein Pianist, den man sehr gerne öfters in Frankfurt erleben möchte.    



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