Marc-André Hamelin,
Klavierrezital in der Alten Oper Frankfurt, 17.01.2020
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Marc-André Hamelin (Fotos: Wonge Bergmann) |
Extrem und kontrastreich
Selten gespielte Werke von wenig bekannten Komponisten: Das scheint einer der Markenzeichen dieses in allen Belangen versierten frankokanadischen Pianisten Marc-André Hamelin zu sein. In der Alten Oper Frankfurt spielte er im vollbesetzten Mozart Saal Werke von Skrjabin, Prokofjew, Feinberg und Schubert. Abgesehen von Samuil Feinberg (1890-1962), ein zumindest in Deutschland kaum bekannter russischer Komponist und Pianist alles doch bekannte und viel gespielte Komponisten. Aber dafür hatte er sich ein Programm ausgesucht, das kontrastreicher und in seiner Unterschiedlichkeit extremer kaum sein konnte.
Gleich zu Beginn die sehr selten aufgeführte Fantasie h-Moll op.28 (1900/01) von Alexander Skrjabin (1872.1915). Ein sinfonischer
Hammer mit gewaltigen Oktavierungen, plakativen Einblendungen und „liebevollen“
Sequenzen. Denn bekanntlich mochte der messianische
Weltverbesserer Skrjabin keine Kraftmeierei, sondern forderte selbst noch in
den schärfsten Fortissimi weich-tönende Klänge. Hamelin, der eigenen Aussagen
zufolge sein pianistisches Spiel immer im Einklang mit der menschlichen Kreativität
der Komponisten verstanden haben möchte, zeigte hier bereits seine außergewöhnliche
Fähigkeit, sich in die Denkweise der Partitur zu vertiefen.
So auch bei den Sarkasmen
op.17 (1912-1914) von Sergei Prokofjew (1891-1953), ein aus fünf Piècen
bestehende bitterböse Anklage an gesellschaftliche und menschliche Unzulänglichkeiten.
Allein die Satzbezeichnungen wie Tempestoso
(stürmisch), Smanioso (begierig) oder gar Precipitosissimo (überstürzt) weisen
auf die Absicht des damals gerade einmal Anfang 20-jährigen Sturm-und-Drängers
hin, sein Umfeld zu provozieren und seinem Ruf als Bürgerschreck voll gerecht zu
werden. Die Uraufführung von ihm selbst im Jahre 1916 (kurz vor der russischen
Revolution!) im heutigen Petersburg geriet denn auch zum Skandal. Kaltblütig
soll er auf die Lacher, die Zischer, die Störer reagiert haben. Eine
schreckliche Musik sei das, giftig und von dunklen Kräften getragen, lautete
die allgemeine Kritik.
Hamelin demonstrierte auf der Tastatur des wunderbar
gestimmten Steinway Flügels einen bitterbösen Sarkasmus, einen Streit der Hände
im vierten Stück (Smanioso) von
außergewöhnlicher Komplexität sowie ein repetitives Sekundspiel mit permanent
abfallenden Viertonskalen im Schlussstück (Precipitosissimo)
mit rollenden Akkorden von bizarrer Wirkung. Ein kurzweiliges, selten
gespieltes, weil ungeheuer anspruchsvolles und voller artifizieller Elemente
durchsetztes, nicht unbedingt auf Wohlklang getrimmtes Werk. Und dennoch
verwandelte es Hamelin in ein orgiastisches Tanzvergnügen mit feiner Technik
und unprätentiöser Interpretation.
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Marc-André Hamelin |
Feinbergs Sonate: eine Umwertung der Werte
Samuil Feinbergs drittes (op. 3, 1916) von insgesamt
zwölf Sonaten, die er in seinem Komponistenleben, das er ausschließlich auf
russischem Boden verbrachte, schrieb, hatte, so sprach es Hamelin in kurzen
Worten an, nie das Licht der Öffentlichkeit erlebt, wurde erst 1974 verlegt und
sollte in der Alten Oper seine Deutschlandpremiere erleben.
Eine ungewöhnliche Form mit Prélude und Marche funebre,
quasi als Vorspiel und Einstimmung, um dann in eine Sonate zu münden, die zwar aus Exposition, Durchführung und
Reprise zusammengesetzt ist, aber ansonsten wenig mit dieser Form zu tun hat.
Dieses Werk ist eher ein Zusammenwürfeln von barocker (Prélude und Fuge),
klassischer und romantischer (Chopin und der späte Beethoven lassen grüßen)
Ideenwelt, ein neoklassisches Werk, wie man es gerne in dieser Zeit geschrieben
hat. Darüber hinaus besitzt es aber eine eigenwillige Handschrift, die wohl nur
Feinberg zuzuschreiben ist. Ist diese Musik hysterisch, spricht sie eine
pathologische Sprache? Tatsächlich entspricht sie nicht dem sogenannten sozialistischen
Realismus der 1920er Jahre, gehört noch zur vorrevolutionären Zeit und fällt zudem
in die Mitte des Ersten Weltkriegs.
Feinberg stellt in dieser Komposition die Regeln und musikalischen
Werte auf den Kopf. Er wandelt sie um.
So ist sein Prélude nichts weiter als
eine Ansammlung von Dreitonmotiven (mit der linken Hand eingeführt und beendet),
gemixt mit einem Passus Duriusculus,
einer abfallende Buß und Reue Chromatik aus dem Barock. Der Marche funebre schreitet nicht, sondern
zerfließt, ähnlich dem Prélude, in einer endlosen Abwärtsskala von gewaltiger Sinfonik.
Die Sonate, gedacht als dritter und letzter
Teil dieser ausufernden Komposition ist mit Appassionata
(Leidenschaft) überschrieben. Ähnlich der fulminanten Beethovenschen Appassionata (Feinberg war sein großer Bewunderer)
fordert er hierin vom Interpreten allerdings unmenschliches. Wohl einer der
Gründe der bisherigen Unaufführbarkeit dieses Konvoluts. Zwar in klassischer
Sonatenform geschrieben, ist es durchsetzt mit mehreren Motivthemen, einer Fuge
von kontrapunktischer Komplexität, die sie als solche kaum erkennen lässt, sowie einer abschließenden Coda mit Reminiszenzen an die
vorhergehenden Sätze, sowie einem Strettafinale,
das alles technisch Nachvollziehbare infrage stellt.
Extrem in allen Belangen schaffte es Hamelin dennoch, dem
Werk eine klare Linie, einen erkennbaren Bogen zu verleihen. Alles mit fester,
schnörkelloser Hand und fast schon selbstverständlicher Ruhe. Hamelin: ein Fels
in der Brandung, immer über die Partitur erhaben und die Seele Feinbergs in
jeder Note erschließend.
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Marc-André Hamelin |
Schuberts letzte Worte
War der erste Teil von russischem Charakter geprägt,
zwischen Melancholie und aufbrausender Wildheit, gehört Franz Schuberts letzte Sonate in B-Dur D 960 (1828) zu dessen
feinsinnigsten „letzten Worten“. Im Bewusstsein des Todes geschrieben, von Weltschmerz
und verzweifelter Hoffnung getragen symbolisiert diese Sonate das Manifest
eines Menschen, der darin noch einmal sein Lebensprogramm ästhetisch zusammenfasst.
In vier Sätzen durchläuft diese Komposition das ganze Leben
eines von Schicksal und Krankheit geplagten Menschen. Im Molto Moderato des ersten Satzes überwiegt das Pianissimo, um nur
kurzfristig ins Fortissimo zu wechseln. Ein Aufbäumen des Hoffnungslosen. Auch
das Seitenthema geht über ein Piano nicht hinaus. Die Reprise verlangt sogar ein Dreifaches Piano, um dann in ein h-Moll Fortissimo auszubrechen. Das aber
nur für einen Takt. Die abschließende Coda
mit dem signalhaften Basstriller führt quasi ins Nichts. Kaum hörbar endet
dieser Satz.
Im Pianissimo gefordert auch das Andante sostenuto des zweiten Satzes. Kaum hörbar und atemstockend
die letzten 16 Takte in cis-Moll. Hamelin streichelte die Tasten mit
Glacéhandschuhen. Glücklicherweise reagierte der Flügel auf jede seiner Berührungen.
Ein Zustand des Schwebens lag über dem Saal.
Erst das Scherzo,
ein Allegro vivace con delicatezza,
brachte Lebendigkeit in die Klangstille. Zwar im Piano und nur im Trio mit Sforzati unterbrochen,
vermittelte dieser Teil Lebensfreude und Zuversicht.
Das abschließende Rondo dagegen beginnt mit einem
signalhaften Forte, einer G-Dur Oktave im Sinne: „Achtung, ich bin noch unter
euch, den Lebenden!“ und wird in einer vorwärtstreibenden Melodik fortgesetzt,
die auf B-Dur abschließt. Schubert bleibt aber nicht im B-Dur. Er wechselt von
c-Moll nach g-Moll, um in ein melodisches, fast fröhliches Seitenthema in F-Dur und D-Dur, zu wechseln,
das sich zu einer Fortissimo Fanfare aufbaut und im Forte in punktierten
Oktaven fortgesetzt wird, bis, ja bis das Signal, die G-Dur-Oktave wieder
erklingt. Überhaupt ist sie es, die dem Finale immer wieder ihre Gestalt
aufzwingt und Zeugnis dafür abgibt, dass noch nichts verloren ist: Ich bin noch
da! Ein finales Presto in B-Dur machte
noch einmal im positiven Sinne deutlich, dass sich die Welt weiterdrehen wird,
komme was wolle.
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Marc-André Hamelin |
Hamelin gehört zu den besten seiner Zunft
Hamelin machte aus dieser nahezu ausufernden Sonate eine Erzählung
über das Leben überhaupt. Dahingestellt sei ob seines oder das Schuberts. Seine
unglaubliche Musikalität befähigt ihn, und das ist eine absolut seltene
Begabung, so unterschiedliche Werke von so unterschiedlichen Komponisten
absolut authentisch und überzeugend zu interpretieren und in jedes der Werke
quasi hineinzuwachsen und ihre musikalische Seele zu ergründen.
Ein unvergessliches Rezital endete mit drei Zugaben (Robert Schumann,
Romanze, George Gershwin, Ragtime) wovon er mit seiner Eigenkomposition, eine Toccata, die Hamelin extra für den Van Clyburn Klavierwettbewerb 2016
geschrieben hat, neben seiner exzellente Technik auch seinen wunderbaren
Melodien- und sein Einfallsreichtum unter Beweis stellen konnte. Ein Pianist,
den man sehr gerne öfters in Frankfurt erleben möchte.
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