Anna Nicole
(2011), Oper in 2 Akten von Mark-Anthony Turnage, Premiere Staatstheater
Wiesbaden, 15.02.2020
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| Elissa Huber (Anna Nicole), Chor des Staatstheaters Wiesbaden (Fotos: Karl und Monika Forster) |
Große Oper – abgedreht und grell-bunt
Schrill geht es gleich los. Der Chor, Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft, grell-bunt, treppenförmig aufgereiht, singt im klassisch-griechischen Stil von der tragischen Geschichte der Anna Nicole, dazu großes Orchester mit gewaltigen Blechbläser-Akkorden und musikalischen Anklängen an Kurt Weills und Bertold Brechts Mahagonny sowie an Leonard Bernsteins Westside Story – eine beeindruckende Introduktion mit einem abschließendem „Requiem aeternum, Donna Anna, Domine“ und der glamourösen „Auferstehung“ Annas voller Licht- und Farbeffekte. Broadway pur. Das laszive: „Ich blas euch alle einen …“ mit weißem Hochzeitskleid von der Bahre aus gehaucht und von Chor und Orchester skandiert, lässt die Lacher nicht ausbleiben. Was aber bereits Böses ahnen lässt.
Die skurrile Geschichte Anna Nicoles wird im Wortsinne Revue
passieren lassen. Bekannt als Busenwunder, Playmate, Dessous-Model und Reality
TV-Sternchen in den 1990er und nuller-Jahren (sie wird 1967 als Vicky Lynn
Hogan im texanischen Houston geboren und stirbt 2007 an einer Überdosis in
Hollywood) träumt sie den amerikanischen Traum, heiratet als Teenager den Brathähnchen
Verkäufer Billy (Nathaniel Webster),
von dem sie ihren Sohn Daniel bekommt, flüchtet vor der spießigen Enge ihres
Heimatdorfes Mexia in die brodelnde Stadt Houston, gerät dort in das
Rotlichtmilieu, wird erfolglose Stripperin, die sich durch ihre XL-Brustvergößerung
„1000 Dollar pro Tag“ oder zumindest einen „steinreichen Kerl“ verspricht.
Der „Alle Macht den Titten“ Song des Chores, „Sieg über die
Natur durch Silikon“, Höhepunkt des ersten Aktes mit herrlicher Gesangseinlage
des Meat Rack Quartets: „Keiner liebt
dich solo ohne Brust!“, nervös aufdringlichem Dr. Feelgood (Ralf Bachbauer) und Anna´s Notorious Showcrew, einem Stars
and Stripes Tanzsextett mit einer gekonnten Foxtrott-Nummer, ist zugleich der Wendepunkt
ihrer tragikomischen Karriere.
American Dream – eine Schimäre
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| Elissa Huber (Anna Nicole), Uwe Eikötter (J. Howard Marshall II.), Chor und Statisterie |
Es gibt viel zu schauen, Riesenbrüste, geile Nutten, Lapdancerinnen
und abgedrehte Gestalten. Das Entrée des Milliardärs J. Howard Marshall II. (Uwe Eikötter) in Rollstuhl, 62 Jahre
älter als sie und dem Wahlspruch: „Besser in Schande leben als in Würde sterben“, scheint ihren American Dream zu
erfüllen. Er verliebt sich in ihre falschen Brüste und sie wünscht sich und
ihrem Sohn Daniel über diesen Vaterersatz Ranch, Geld, Sicherheit
und Geborgenheit. Nichts aber gibt es ohne Gegenleistung. Sie bläst ihm einen
und glaubt damit ihre Ranch und alle ihre Wünsche erfüllt: „Daniel“, ruft sie,
„wir haben unsere Ranch!“ – „American Dream – ich vergewaltige ihn, ich ficke
den amerikanischen Traum!“
Von nun an geht’s bergab. Bereits der angedeutete Hochzeitsmarsch
aus Mendelssohns Sommernachtstraum
wird zum Albtraum. Der Virgie-Mutter-Song: „Männer lassen sich von Nutten einen
blasen – zu viele dumme Weiber …“ lässt ahnen, wohin der Zug fährt.
Bekanntlich stirbt Howard Marshall II. nach gut einem Jahr,
ohne aber ein Testament zu hinterlassen. Ein langer Rechtsstreit zieht sich
über 15 Jahr hin. Dazwischen gerät Anna in die Fänge des gerissenen Advokaten
Stern (Christoper Bolduc), der,
Liebe vortäuschend, Anna Nicole lediglich als einträgliches Geschäftsmodell
betrachtet. Unter seinem Einfluss lässt sie sich in diversen Reality Shows
(Anne-Nicole-Smith-Show) vorführen, ihre zweite Geburt medienwirksam live
übertragen (Pay-TV, „für eine Million Dollar wollen sie dich leiden sehen“) und
ihr gesamtes tragisches Scheitern vor der Öffentlichkeit preisgeben (Fress- und
Drogensucht). Der mysteriöse Tod ihres geliebten Sohnes Daniel (David Krahl) – tatsächlich stirbt er „der Dumme, Süße, Stumme“
an einer Überdosis – gibt ihr den Rest: „Ohne dich kann ich nicht weiterleben“,
singt sie im rosa Plüschanzug.
Selbst das wird vom skrupellosen Mr. Stern vermarktet. Als Clown
verkleidet, als „Peinlichkeit meines Lebens“ (Mutter Virgie), wird ihr bewusst,
dass ihre Lebensentscheidungen zum Desaster führten: „Mein Traum ist
zerbrochen. Amerika du dreckige Hure, ich gab dir alles und du wolltest mehr“,
singt sie, während sich hinter ihr im Stile eines Andy Warhol hunderte von Anna
Nicol Portraits aufreihen. Auf die Bahre zu Beginn des ersten Aktes steigend ruft
sie ins Publikum: „Ich blase euch allen einen … Kuss zu“, und zuckt dabei keck
lächelnd mit den Schultern ehe der Vorhang fällt.
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| Elissa Huber (Anna Nicole), unten: Anna´s Notorious Showcrew, Chor des Staatstheaters Wiesbaden, Statisterie |
Eine perfekte „Schnapsidee“
Mark-Anthony Turnage
(*1960) und sein Librettist Richard
Thomas (*1964) konnten höchstselbst ihre realisierte „Schnapsidee“ (siehe
Programm-Interview) aus dem Jahre 2010 live miterleben und waren offensichtlich
hoch erfreut. Denn sie, wie auch das Publikum, erlebten eine zweieinhalbstündige
Oper – und es ist zweifelsohne eine Oper!! – voller Superlative und Extreme. Denn Anna Nicole
bietet als Sujet alles, was eine Oper braucht: Liebe, Drama, Wahnsinn, und dazu
Gesang und Musik vom möglichst Allerfeinsten.
All das bot diese Premiere und Neuinszenierung unter der
Regie von Bernd Mottl und seinem kongenialen
Team um Friedrich Eggert (Bühne und
Kostüme), Albert Horne (musikalische
Leitung und Chor), Myriam Lifka
(Choreographie), Klaus Krauspenhaar
(Licht) und last but not least Daniel C.
Schindler (Dramaturgie).
Übertreibungen in jeder Hinsicht, alles glitzerte billig,
alles war Ware und Konsum, verkäuflich/käuflich, zum Verbrauch und Wegwerfen geeignet.
Nichts hatte Nachhaltigkeit und der Traum entpuppte sich als billige Hure, als
kurzlebiges Geschäft mit menschlichen Bedürfnissen. In zwei Akten und 16 Szenen, äußerst
kurzweilig und in dichter Folge, gelang ein Operndrama zwischen Komödie und
Tragödie, in schnellen Schnitten und dennoch von klarer Linie gezeichnet. Eine
Revue zwischen Grab und Leben mit ungeheuer kraftvoll frivoler Sprache, vulgär,
dafür punktgenau, humorvoll und gespickt mit bitterem Sarkasmus. Eine Gesellschaftsanalyse
ohne Anspruch auf Korrektheit, dafür aber mit Verve, fotografischem Negativ und
großem Pointenreichtum.
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| Anna´s Notorious Showcrew, v.l.: Jasper H. Hanebuth, Sofia Romano, Max Mendez-Vazquez, Elissa Huber, Anna Heldmaier, Soeren Niewelt, Sarah Steinemer, Chor des Staatstheaters Wiesbaden, Statisterie |
Erfrischender Eklektizismus
Musikalisch und gesanglich könnte man von einem gelungenen
Eklektizismus sprechen, denn Turnage kennt sich sowohl in E- wie in U-Musik aus.
Viele Anleihen an Brechts und Weills Musiktheater, an Leonard Bernsteins
Musicals, an Mendelssohn, Strawinsky, ja sogar an Wagner. Ein musikalisches Potpourri
also, ohne allerdings flach oder epigonenhaft zu wirken. Nein, man muss es Turnage
zugestehen, dass er ein außerordentliches Gespür für Dramaturgie hat (Thomas´
Sprachwitz bot dazu eine perfekte Ergänzung) und seine Musik situationsgerecht
und sensibel einzusetzen versteht.
Diese Oper verlangt keine Ausnahmesänger und Sängerinnen
(abgesehen von der Sopranrolle der Anna Nicole), dafür aber sehr, sehr gute
Schauspieler mit einem ausgeprägten Rollenverständnis. Das aber besaßen alle
Akteure ohne Ausnahme. Von Christopher
Bolduc (Advokat Stern), Margarete
Joswig (Mutter Virgie) Uwe Eikötter
(J. Howard Marshall), Ralf Rachbauer (Dr. Feelgood) bis zu Nathaniel Webster (Billy ihrem ersten Ehemann) ohne all die vielen
anderen zu nennen, die durchweg in ihren Mehrfachrollen überzeugten, die
Lap-Dancer, das Frauen-Quartett, die Showcrew und allen voran der Chor: Alle
zusammen erhalten Bestnoten, weil sie der Oper prickelndes Leben einhauchten
und, bei aller Lebenstragik, für beste Unterhaltung sorgten.
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| Elissa Huber (Anna Nicole), David Krahl (Daniel) |
Elissa Huber i s t Anna Nicole
Jetzt noch zu Anna Nicole, oder besser zu ihrer Interpretin
und Darstellerin Elissa Huber. Sie
bot in jeder Hinsicht das Sahnestück dieser Premiere. Eine gigantische Rolle
wie auf ihren Leib geschnitten. Besser geht´s nicht, möchte man meinen. Mal
naiv, selbstbewusst, selbstverliebt, mal lasziv, sexy, verführerisch, und
schließlich verzweifelt, selbstzerstörerisch und resignativ – all das spielte und sang Elissa Huber mit
Brillanz. Perfekt ihre Koloraturen, leicht ihre Höhen, überzeugend ihr
Südstaaten-Slang und ihre sexy Babystimme á la Marilyn Monroe. Huber ist kaum
besser denkbar. Allein sie machte aus der Oper ein Ereignis, das das Wiesbadener
Staatstheater wohl lange nicht erlebt hat. Drei Vorhänge, endlos stehender
Beifall, der sich noch in der anschließenden vollbesetzten Premierenfeier
fortsetzte. Anna Nicole i s t Elissa Huber und es lohnt sich, sie zu erleben.
Dazu das wirklich sehr gut besetzte Orchester, das mit
Banjo, Mandoline, Kontrabassfagott, Tuba viel Perkussion und glänzenden Rhythmikern zusätzlich
bestückt unter der engagierten Leitung von Albert Horne sich zu wahren Höchstleitungen
aufschwang.
Große Oper, großes Drama, große Gefühle: alles, was das Herz
begehrt. Ein Besuch ist absolut angesagt.
Nächste Vorstellungen: 21. und 28. Februar, 01., 03., 07., 11. und 19. März
Nächste Vorstellungen: 21. und 28. Februar, 01., 03., 07., 11. und 19. März





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